Kategorien / Themen

Werbung

Das Menschenmögliche

Harald Welzer und Dana Giesecke setzen auf Renovierung der deutschen Erinnerungskultur…

Viel ist schon geschrieben worden über die Epochenwende der Erinnerungskultur, in der wir uns befinden. Jan Assmann hat in seinen bahnbrechenden Werken zum kulturellen Gedächtnis drei Faktoren für den Umbruch ausgemacht, der zirka Anfang der 1990er Jahre einsetzte: die zunehmenden Speichermöglichkeiten auf elektronischen Medien, die Haltung einer „Nach-Kultur“ in Bezug auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts, in der nur die Erinnerung weiterlebt, und schließlich der Generationenwechsel durch das Verschwinden, das Sterben der Zeitzeugen der Schoa, einem Schlüsselereignisses des vergangenen Jahrhunderts.

Harald Welzer und Dana Giesecke stellen nun im Bezug auf diese Epochenwende die Hypothese auf, dass das „Haus der historischen und politischen Bildung “ entrümpelt gehört. Sie ziehen diesen Schluss aus dem Zustand der derzeitigen Vermittlungsarbeit, die sich etwa im Lichte einer Umfrage von Jugendlichen ab 14 Jahren zeigt, die ergab, dass sich zwei Drittel sehr wohl für die Geschichte von Nationalsozialismus und Holocaust interessieren, ein Drittel war sogar der Auffassung, dass man in der Schule zu wenig darüber lerne.

Interesse und Bereitsschaft sind also da. Die Frage ist, wie die Vermittlung aussehen könnte, um dieses Interesse auch zu befriedrigen? Denn auf die Formen und Ziele der historischen Bildungsarbeit reagierten die Jugendlichen deutlich weniger positiv. 43 Prozent der Befragten fühlten sich genötigt, Betroffenheit zu zeigen, das heißt, für sehr viele bedeutet die gegenwärtige Vermittlungspraxis „ein Gefühl der Freiheitseinschränkung – mithin (..) das genaue Gegenteil dessen, was durch die Erziehung zur Demokratiefähigkeit und zur Zivilcourage erreicht werden soll.“

Für die Autoren ist dies „der gewichtigste Anlass, über eine Renovierung der historischen Vermittlungspraxis nachzudenken.“ Dabei zeigen die beiden Sozialwissenschaftler vor allem in ihrem mit „Sichtung“ überschriebenem Teil der Bestandsaufnahme der bisherigen Vermittlung interessante Aspekte auf, die die ganze Problematik sehr deutlich herausarbeiten.

Allen voran die Tatsache, dass die Geschichte des „Dritten Reiches“ im Wissen um die Massenvernichtung der Juden betrachtet wird. Das Prisma der Schoa lässt den Alltag in Nazi-Deutschland von Beginn an totalitär und gewaltvoll erscheinen, ohne den „beschleunigten gesellschaftlichen Wandlungsprozess“ zu beachten. Doch gerade hier ist Ansatzpunkt für Welzer und Giesecke. Sie sprechen sich strikt gegen die Unterteilung in Zuschauer, Täter, Unbeteiligte aus: „Es gibt nur Menschen, die gemeinsam, jeder auf seine Weise, der eine intensiver und engagierter, der andere skeptischer und gleichgültiger, eine gemeinsame soziale Wirklichkeit von Tätern und Opfern stellen.“

Betont wird also der Wertewandel in einer Gesellschaft, die „normativ umcodiert“ wird. Was zuvor verbrecherisch war, wird akzeptiert oder sogar erwünscht. Wer dem neuen Code nicht untersteht, wird ausgegrenzt. Auf diese Weise kommt die individuelle Entscheidung ins Zentrum des Handelns. Denn trotz des allgemeinen Wertewandels, bestand ein persönlicher Handlungsspielraum, der manche zu Helfern werden ließ. Für die Autoren besteht die große pädagogische Aufgabe darin, „Handlungsspielräume sehen zu lernen.“

Welzer und Giesecke schlagen außerdem die Schaffung eines „zivilgesellschaftlichen Lernorts“ vor, also eine Art neues Museum, in dem „die Bedingungen und Potenziale menschlichen Handelns anschaulich, spannend und aktivierend erschlossen werden können“. Ein solcher Ort könnte Gedenkstätten und historische Bildung ergänzen und auf lange Sicht vielleicht sogar ersetzen, meinen die Autoren, die diesem Projekt den Titel „Haus der menschlichen Möglichkeiten“ geben. So konkret und praxisbezogen der erste Teil zur Notwendigkeit einer Renovierung der deutschen Erinnerungskultur ist, so abstrakt wirkt allerdings dieser zweite Teil des Buches, der mögliche Konzeptionen eines solchen Museums aufzeigt.

Trotzdem, Harald Welzer und Dana Giesecke bieten eine Fülle von Denkanstößen, die hoffentlich ihren Widerhall in der Vermittlungsarbeit finden werden.

Dana Giesecke/Harald Welzer, Das Menschenmögliche. Zur Renovierung der deutschen Erinnerungskultur, Edition Körber-Stiftung 2012, Euro 15,00, Bestellen?

1 comment to Das Menschenmögliche

  • Pravda vitezi

    Leider lässt die Erinnerungskultur in Deutschland sehr begründet zu wünschen übrig.
    Zu schnell wird vergessen, dass man keine Zukunft hat, wenn man sich nicht zu seiner Vergangenheit bekennt.
    Und solange rechtsextreme Parteien nicht wenigstens verboten sind, wird jeder Ansatz einer wirklichen Erinnerungskultur verhindert!