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Da ihnen doch die Freiheit so viel bedeutet!

Das neue Jahrbuch des Nürnberger Instituts für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts widmet sich dem Schwerpunktthema: Gesundheit, medizinische Versorgung und Rehabilitation…

Von Ramona Ambs

„Da ihnen doch die Freiheit so viel bedeutet“, entschuldigte man das Verhalten der Patienten und Besucher im Glyn Hughes Hospital im DP-Camp Belsen, weil sie sich um keine Besuchszeiten scherten und kamen und gingen wie sie wollten. Wer gerade aus einem Konzentrationslager befreit wurde und überlebt hat, dem sind formelle Dinge wie Besuchszeiten nicht zu vermitteln. Die Versuche, das Lager in ein Krankenhaus umzuwandeln, waren mehr als schwierig. „Die britischen Millitärangehörigen traf die Aufgabe, die nun auf sie wartete, absolut unvorbereitet: ,Eine CCS ist dafür trainiert, eine große Zahl von Kampfverwundeten zu behandeln – der Umgang mit den Insassen eines Konzentrationslagers musste auf die harte Tour gelernt werden.‘“ So beschreibt Nicola Schlichting die Zustände in dem wohl wichtigsten Krankenhaus für Shoa-Überlebende innerhalb der britischen Zone und beschreitet damit Neuland. Das Glyn Hughes Hospital wurde in der historischen Forschung bisher so gut wie nicht beachtet.

Pionierarbeit leistet auch Jim G. Tobias, Leiter des Nürnberger Instituts für NS-Forschung und Jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts. Er berichtet über DP-Krankenhäuser und Sanatorien in Bayern. Interessant dabei sind vor allem die Konflikte um das jüdische Krankenhaus München-Bogenhausen, von dessen Existenz man bisher weder im Stadtarchiv, der IKG noch dem Jüdischen Museum wusste. Das Krankenhaus wurde zunächst von der UNRRA betrieben und stand allen Verfolgten des NS-Regimes zur Verfügung. Da das Krankenhaus jedoch zu über 90 Prozent von Juden belegt war, kam es zu Konflikten zwischen den jüdischen Organisationen und der UNRRA. Der „Jidiszer Doktojrim Farband“ hatte große Hoffnungen in das Klinikum Bogenhausen gesetzt. Sie schrieben: „Wir glauben, dass unser Krankenhaus nicht nur Heilstätte für alle jüdischen Kranken sein wird, sondern auch als Ausbildungs- und wissenschaftliche Forschungsstätte genutzt werden kann.“ Dieses Ansinnen wurde jedoch vom Klinikleiter vehement zurückgewiesen, da es sich seiner Meinung nach um eine „deutsche Anstalt“ handele und die „jüdischen Ärzte kein Recht hätten“ sich einzumischen. Tobias beschreibt den langen Kampf um das Krankenhaus. Dabei zeichnen die Dokumentenfunde aus US-amerikanischen Archiven ein lebendiges Bild der Mentalität einiger Akteure.


Medizinisches Personal des UNRRA-Hospitals Ansbach. Das Haus verfügte über eine eigene Abteilung für jüdische Patienten. (Repro: jgt-archiv)

Um jüdische Ärzte und ihre Aufbauleistung in Palästina geht es in Andrea Livnats Aufsatz „Eure Vorstellungen entsprechen nicht der hiesigen Wirklichkeit“ Sie zeigt dabei einerseits, welch enormes Fachwissen sich mit den deutschen Ärzten, die vor Hitler flohen, in Palästina etablierte und das Gesundheitswesen damit aufbaute, andererseits aber auch mit welchen Problemen die ausgewanderten Ärzte zu kämpfen hatten.

Einen Überblick über die deutsch-jüdische Krankenpflege im 20. Jahrhundert gibt Birgit Seemann am Beispiel von Frankfurt am Main und Jael Geis schildert die Aspekte der medizinischen Versorgung in den jüdischen Assembly Centers in der US-Zone.

Zwei sehr berührende Artikel greifen noch mal auf die Zeit der Shoa zurück. Melanie Engler beschreibt die Umstellung der Pflegeanstalt Hadamar in eine Tötungsanstalt. Aviv Livnat stellt die weitgehend unbekannte Hunger-Studie aus dem Warschauer Ghetto vor. Es sind die zynischen Blüten der Geschichte, dass ausgerechnet die Teilnehmer dieser Studie durch ihr Hungern für die Wissenschaft oft vor dem Hungertod bewahrt werden konnten. Bizarr scheint auch, dass die Studie, die von 28 jüdischen Ärzten im Ghetto durchgeführt wurde, bis heute als bahnbrechend und wegweisend gilt.

Neben diesen, dem Schwerpunkt gewidmeten Essays, gibt es noch drei weitere Artikel im neuen Jahrbuch. Habbo Knoch und Thomas Rahe beschreiben die Entwicklung der Gedenkstätte Bergen Belsen von 1952 bis heute, Christian Kelch erzählt vom Judenhass im heutigen Litauen und von Carolin Lano erfährt man, wieviel Jüdisches im deutschen Unterhaltungsfernsehen anzutreffen ist.

Das neue Jahrbuch ist also – wie seine Vorgänger – eine wunderbare Sammlung von Texten zur deutsch-jüdischen Geschichte im 20. Jahrhundert. Lesen!

Buchvorstellung mit den Herausgebern und Autoren am 10. Juli 2012, 19.30 Uhr, Jüdisches Museum Franken, Fürth, Königstr. 89

nurinst – Jahrbuch 2012. Beiträge zur deutschen und jüdischen Geschichte, Schwerpunktthema: Gesundheit, medizinische Versorgung, Rehabilitation
Herausgegeben von Jim G. Tobias / Nicola Schlichting, Im Auftrag des Nürnberger Instituts für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts, 190 S., ANTOGO Verlag 2012, EUR 12,80, Bestellen?

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