Kategorien / Themen

Werbung

Politische Psychologie: Volksgemeinschaft, Täterschaft und Antisemitismus

Der Nationalsozialismus und seine gesellschaftlichen Nachwirkungen sind ohne eine sozialpsychologische Perspektive nicht zu verstehen. Dies erfordert die Berücksichtigung der subjektiven Dimension der Nachkriegsgesellschaft sowie der Brüche und Kontinuitäten nach 1945…

Der Band versammelt Aufsätze, die sich aus einer psychoanalytisch-sozialpsychologischen und geschlechtertheoretischen Perspektive sowohl mit den psychodynamischen Mechanismen der nationalsozialistischen Weltanschauung und Gewalt als auch mit den Versuchen ihrer psychischen Verarbeitung in der Nachkriegszeit auseinandersetzen.

Volksgemeinschaft, Täterschaft und Antisemitismus
Beiträge zur psychoanalytischen Sozialpsychologie des Nationalsozialismus und seiner Nachwirkungen
Mit Beiträgen von Markus Brunner, Isabelle Hannemann, Sascha Howind, Jan Lohl, Rolf Pohl, Wolfram Stender und Sebastian Winter

[BESTELLEN?] [Einleitung der Herausgeber]

Alle Aufsätze stammen von Mitgliedern der Arbeitsgemeinschaft Politische Psychologie, die 2009 an der Leibniz Universität Hannover als Gegengewicht zur zunehmenden Zerschlagung der universitären Verankerung einer sich zugleich gesellschafts- und subjekttheoretisch begreifenden Sozialpsychologie gegründet wurde (Näheres siehe unter www.agpolpsy.de).

Zu den wichtigsten Schwerpunkten der Arbeitsgemeinschaft gehören die hier angeschnittenen Fragen einer politischen Psychologie des Nationalsozialismus und seiner vor allem als »Gefühlserbschaft« zu begreifenden Folgewirkungen. Dabei spielen generationengeschichtliche sowie trauma-, ethnisierungs- und geschlechtertheoretische Zugänge, insbesondere aber auch grundlegende Überlegungen zu der Reichweite und Grenze neuerer psychoanalytischer Konzept- und Methodendiskussionen eine wichtige Rolle. Die Beiträge dieses Buchs stellen mit unterschiedlichen Akzentsetzungen einen Querschnitt der Arbeiten innerhalb dieses Forschungsschwerpunkts dar.

Ganz normale Massenmörder?
Zum Normalitätsbegriff in der neueren NS-Täterforschung
Rolf Pohl

Der Beitrag von Rolf Pohl setzt sich kritisch mit dem inflationär verwendeten, meist mit »Durchschnittlichkeit« gleichgesetzten Begriff »Normalität« in der neueren zeitgeschichtlichen und sozialpsychologischen NS-Täterforschung auseinander. Er warnt aber zugleich vor der deterministisch verkürzten Rehabilitierung einer dem Täterhandeln zugeschriebenen, klinischen Pathologie.

Mit beiden Zuschreibungen lassen sich die spezifischen »Produktionsregeln« (Brückner 1982) der nationalsozialistischen Gewaltexzesse nicht erfassen. Vor diesem Hintergrund stellt Pohl einen eigenen Ansatz zum Verhältnis von Normalität und Pathologie vor. Er diskutiert ihn insbesondere im Kontext der sozialpsychologischen Antisemitismusforschung. In Anlehnung an Adorno, E. Simmel, Waelder, Klein und andere AutorInnen geht es dabei prototypisch um die normalisierende Funktion eines kollektiven Wahnsystems. Die bekannten projektiven Wahrnehmungs- und destruktiven Handlungsbereitschaften zur Abwehr eines vermeintlichen individuellen und kollektiven »Notstands« sind weder als Rückfall in eine vorzivilisierte Barbarei, noch als Ausdruck eines klinisch-mechanistisch aufgefassten Kindheits-Traumas zu begreifen. Vielmehr können sie als Rückgriff auf archaische, zur normalen Grundausstattung gehörende, humanspezifische Potentiale betrachtet werden.

Täterinnenschaft und weibliche Grausamkeitsmotivation
Raum, Körper und Wahrnehmung
Isabelle Hannemann

Die Geschlechtsspezifik dieser Rückgriffe wird von Isabelle Hannemann in ihrem Beitrag zur NS-Täterinnenschaft und weiblichen Grausamkeitsmotivation thematisiert. In Abgrenzung zur konventionellen Wahrnehmung der Rolle von Frauen im Nationalsozialismus und ihrer Einordnung in entgegengesetzte Kategorien (»Bestie« oder »friedfertige Frau«), hinterfragt sie die vorgebliche Introversion von Aggressionen in der »normalweiblichen« Psychodynamik und entwirft ein psychoanalytisch-sozialpsychologisches Modell der kulturell präformierten, weiblichen Äußerungsformen des Sadismus. Demnach haben »ganz normale Frauen« im Nationalsozialismus die Möglichkeit genutzt, um narzisstische Kränkungen (z. B. der Geschlechtszuschreibung) projektiv und destruktiv durch eine (teilweise mörderische) Bemächtigungshaltung, insbesondere gegenüber Kindern, Gefangenen und PatientInnen, zu kompensieren.

Der faschistische Einheitstrick
Die Suggestion von Einheit und Gleichheit in der nationalsozialistischen »Volksgemeinschaft«
Sascha Howind

Sascha Howind behandelt in seinem Beitrag die gegenwärtig in der Zeitgeschichtsforschung intensiv diskutierte Frage nach der Bedeutung der »Volksgemeinschaft « für die Stabilität der NS-Herrschaft. Howind vertritt hierbei die These, dass die Idee der »Volksgemeinschaft« im Rahmen der Propaganda wie ein kollektives Phantasma funktionierte. Diese Funktionsweise wird aus jener Perspektive diskutiert, die Adorno im Anschluss an Freuds Massenpsychologie in seiner Studie zur Wirkungsweise der faschistischen Propaganda entworfen hat, und deutet die Notwendigkeit eines sozialpsychologischen Zugangs an. Für Howind ist ein solcher Zugang vor allem angesichts der Tatsache notwendig, dass im »Dritten Reich« eine objektiv defizitäre sozioökonomische Situation nicht verbessert, sondern durch die Partizipation an den hochattraktiven »Erlebnisangeboten« (Brockhaus) dieser Gemeinschaft, durch die narzisstische Gratifikation für diese Teilnahme sowie durch die Verinnerlichung antisemitischer Feindbilder verschleiert und der subjektiven Wahrnehmung entzogen wurde.

Lüstern und verkopft
Zur affektiven Dimension antisemitischer Feindbilder im Nationalsozialismus
Sebastian Winter

Diese Feindbilder sind der Untersuchungsgegenstand des Beitrags von Sebastian Winter. Sigmund Freud entwickelte zwei Erklärungsansätze zum Antisemitismus, die beide dessen Genese eng mit derjenigen der Geschlechtsidentität verkoppeln: Antisemitismus sei einerseits als eine kollektive Ausdrucksform der männlichen Angst vor Kastration (sprich »Verweiblichung«) zu verstehen, andererseits aber auch als Verleugnung des »väterlichen« Gebots der Geschlechterdifferenz.

Winter stellt die sich an Freud anschließenden diesbezüglichen Konzepte von Grunberger, Theweleit und M. Mitscherlich vor und ermittelt anschließend auf der empirischen Grundlage der nationalsozialistischen Bilder »des Juden« deren Erklärungspotential und deren Ausblendungen. Dabei wird der Geschlechter-Bias in diesen Theorien ebenso deutlich wie die Unmöglichkeit einer psychoanalytischen Antisemitismus-Theorie ohne explizite und kritische Berücksichtigung des Geschlechterverhältnisses.

Die Kryptisierung des Nationalsozialismus
Wie die »Volksgemeinschaft« ihre Niederlage überlebte
Markus Brunner

In einer Relektüre der Unfähigkeit zu trauern von Alexander und Margarete Mitscherlich fragt Markus Brunner nach den psychischen Mechanismen im Umgang der ehemaligen »VolksgenossInnen« mit der Kriegsniederlage und dem damit einhergehenden Zusammenbruch der kollektiv-narzisstisch hoch besetzten Idee der »Volksgemeinschaft«. Im Rückgriff auf das Konzept der »Krypta« der französischen PsychoanalytikerInnen Abraham und Torok entwickelt er die These, dass das verlorene narzisstische Objekt mitsamt der daran gehefteten Wünsche und der mit ihm ausgelebten Lüste im psychischen Inneren vergraben wurde, abgeschottet vom Bewusstsein, aber in der Hoffnung auf seine Wiederkehr psychisch weiterlebt. Mit dem Modell der Krypta lässt sich darüber hinaus, so der Autor, auch zeigen, weshalb es fälschlicherweise so plausibel erscheint, die von den Mitscherlichs beschriebenen bundesdeutschen Nachkriegssymptomatiken als direkte Folge von Kriegstraumatisierungen zu lesen.

Das psychische Erbe des Nationalsozialismus
Ein psychoanalytischer Beitrag zur Generationenforschung

Jan Lohl

Anfang der 1980er Jahre finden sich die ersten wissenschaftlichen Belege für spezifische generationenübergreifende Nachwirkungen des Nationalsozialismus bei Kindern von Tätern und Mitläufern. Noch 2001 konstatiert Bar-On jedoch, dass es verhältnismäßig wenig Literatur zu diesem Thema gebe. Insbesondere fehlen Untersuchungen, die aus einer diachronen Perspektive die Enkelgeneration mit in den Blick nehmen und nach der politischen Bedeutung und der Handlungsrelevanz intergenerationell »weitergegebener« unbewusster Inhalte fragen.
Diese Forschungslage ist der Ausgangspunkt des Beitrages von Jan Lohl, in dem nach den Bedingungen und Mechanismen der intergenerationellen Prozessierung von aggressiven und narzisstischen Potentialen des Nationalsozialismus sowie von Schuld und ihrer Abwehr gefragt wird. Lohl zeigt, dass und wie sich diese intergenerationellen Nachwirkungen noch zwischen Kindern und Enkeln von NS-»Volksgenossen« entfalten und vielfach die Möglichkeit spezifisch zerreißen, die eigene Familiengeschichte als Teil der deutschen Geschichte zu erfahren. Gerade dies stellt, wie der Autor in seinem Ausblick andeutet, einen Nährboden für Antisemitismus und Nationalismus dar.

Ideologische Syndrome
Zur Aktualität des sekundären Antisemitismus in Deutschland
Wolfram Stender

Dass der Antisemitismus nach 1945 in den deutschen Ländern nicht einfach verschwunden, sondern, mit einem öffentliches Berührungstabu belegt, sich lediglich neue Formen suchen musste, zeigt Wolfram Stender. Er spürt diesen Formen nach und legt dar, wie sich der Nachkriegs-Schuldabwehrantisemitismus in einen »Schuldentlastungsantisemitismus« gewandelt hat, der gerade die Anerkennung und nicht die Leugnung von Schuld voraussetzt. Der Blick auf Deutschland als Einwanderungsland legt ein sehr komplexes Geflecht von Vorurteilsstrukturen offen, in dem sich primärer und sekundärer, von ImmigrantInnen mitgebrachter bzw. als Reaktion auf Migrationserfahrungen entwickelter und ein auf die »muslimische Welt« projizierter Antisemitismus auf der Basis von kulturrassistischen Stereotypen in der deutschen Mehrheitsgesellschaft überlagern.

[BESTELLEN?] [Einleitung der Herausgeber]

1 comment to Politische Psychologie: Volksgemeinschaft, Täterschaft und Antisemitismus