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Wann wohl das Leid ein Ende hat: Briefe und Gedichte aus Theresienstadt

Witkowitz, 1933. Ilse Weber, dreissig Jahre alt, verheiratet, ein Kind. Als Angehörige der jüdischen Minderheit lebt sie mit ihrer Familie in ihrer Geburtsstadt bei Mährisch-Ostrau. Die Hörfunk- und Kinderbuchautorin schreibt, unter ihrem Mädchennamen Ilse Herlinger, in der Sprache, in der sie aufgewachsen ist: auf deutsch, aber sie fühlt als Tschechin…

Seit ihrer Jugend unterhält sie eine Brieffreundschaft mit der schwedischen Diplomatentochter Lilian von Löwenadler, die inzwischen in England lebt. Ein zweites Kind ist unterwegs. Bis zum "Münchener Abkommen", wonach die sudetendeutschen Gebiete von Nazideutschland annektiert werden, sind es noch fünf Jahre.

Anm.: Um Ilse Weber geht es auch auf Nizza Thobis neuer CD „Ein Koffer spricht“

1939 gelingt es Ilse und Willi Weber, den älteren Sohn HanuÅ¡ nach England zu Lilian zu schicken; sie nimmt ihn mit nach Schweden, wo er bei ihrer Mutter aufwachsen wird. 1942 werden sie mit Tommy, dem jüngeren, nach Theresienstadt deportiert, wo Ilse in der Krankenstube Kinder pflegt. Sie schreibt Lieder, die sie den Kindern und anderen Mithäftlingen zur Gitarre vorsingt. Kurz vor dem Osttransport gelingt es Willi Weber, die Blätter mit den Liedtexten im Boden eines Geräteschuppens einzumauern. Ilse und Tommy werden Ende 1944 in Auschwitz ermordet. Willi Weber überlebt und lernt seinen Sohn HanuÅ¡ neu kennen. Er begibt sich noch einmal nach Theresienstadt und kann die vergrabenen Papiere in Sicherheit bringen. Durch eine Verkettung von Zufällen finden weitere Dokumente den Weg zu den überlieferten Gedichten: Jahrzehnte nach der Ermordung Ilse Webers tauchen auf einem Dachboden in England ihre Briefe aus den 1930er Jahren auf. Sie schreibt darin über ihren Alltag, der zunehmend vom Antisemitismus vergiftet wird, und über die heraufziehende politische Katastrophe.

Ich wandre durch Theresienstadt

Ich wandre durch Theresienstadt,
das Herz so schwer wie Blei,
bis jäh mein Weg ein Ende hat,
dort knapp an der Bastei.

Dort bleib ich auf der Brücke stehn
und schau ins Tal hinaus:
Ich möcht so gerne weitergehn,
ich möcht so gern — nach Haus!

"Nach Haus!" — du wunderschönes Wort,
du machst das Herz mir schwer,
man nahm mir mein Zuhause fort,
nun hab ich keines mehr.

Ich wende mich betrübt und matt,
so schwer wird mir dabei,
Theresienstadt, Theresienstadt
— wann wohl das Leid ein Ende hat —
wann sind wir wieder frei?

ZU ILSE WEBER UND IHREN GEDICHTEN

In Theresienstadt, jener im Zweiten Weltkrieg zum Konzentrationslager umfunktionierten alten Habsburger Garnisonsstadt nördlich von Prag, gab es ein Grab für Gedichte.

Vermutlich gibt es viele solche Gräber, die nie entdeckt wurden, weil die Menschen, die sie gegraben hatten, ermordet waren. Doch dieses eine wurde wiedergefunden. In ihm hatte ein Häftling, den die SS im Lager als Gärtner eingesetzt hatte, das poetische Werk seiner Frau versteckt, ehe er nach Auschwitz deportiert wurde. Wer in Theresienstadt seinen Namen auf den Transportlisten fand, musste Schlimmstes befürchten.

Das Wort Osttransport war in der Vorstellung der Gefangenen von einer Aura des Grauens umgeben. Genaues wussten die meisten darüber nicht, doch ahnten sie, dass ihnen am Zielort Schrecklicheres als im Ausgangslager drohte. Häftlinge, die von der Massenvernichtungsindustrie erfasst wurden, hatten kaum eine Möglichkeit, Geschriebenes welcher Art auch immer, ob Briefe, Gedichte, Notizen, Skizzen, über Auschwitz, Sobibor oder Treblinka hinaus zu retten. Dies waren Orte, an denen keine gegenständliche Fixierung künstlerischer Produktion mehr möglich war. Hier konnte ein Häftling, falls er dem Gas entging, nur retten, was sein Gehirn an Erinnerungen barg. Nach der Befreiung schrieben manche Überlebende Zeugnisse literarischer Arbeit in den Lagern aus dem Gedächtnis nieder, um sie für die Nachwelt zu bewahren.

Yad Vashem, Jerusalem, Anfang der achtziger Jahre. Wochenlang blätterte ich im Archiv der Gedenkstätte zur Erinnerung an die Opfer der Shoa in einer Vielzahl von Papieren, um literarische Stimmen aus dem Konzentrationslager Theresienstadt zu finden. Ich entdeckte eine Menge von Schriftstücken, die Zeugnis ablegen von dem Leid und den Qualen, aber auch dem künstlerischen und literarischen Schaffen der Gefangenen.

Unter den Dokumenten, die im Gegensatz zu ihren Verfassern der Vernichtung entronnen waren, fand sich auch ein ergreifendes Gedicht mit dem Titel "Brief an mein Kind". Es trug weder eine Unterschrift noch sonst irgendeinen Hinweis, der auf die Verfasserin hätte schliessen lassen. Zusammen mit anderen Gedichten, Chansons, Satiren und Berichten aus dem Konzentrationslager Theresienstadt veröffentlichte ich es 1986 in einer Sammlung unter dem Titel "Und die Musik spielt dazu "" als Text einer anonymen Autorin.

Im Frühjahr 1987 erreichte mich der Brief eines mir unbekannten Absenders aus Stockholm. Der Verfasser hatte soeben mein Buch über das Theresienstädter Kulturleben gelesen und darin auch jenen "Brief an mein Kind". Die Nachricht aus Schweden enthüllte mir, was der Fund aus Yad Vashem nicht preisgegeben hatte: "Die Autorin des Gedichts "ºBrief an mein Kind"¹ ist meine in Auschwitz ermordete Mutter, Ilse Weber. Und ich bin HanuÅ¡, das Kind, von dem dieser Brief spricht."

Leseprobe aus Ilse Weber
Wann wohl das Leid ein Ende hat: Briefe und Gedichte aus Theresienstadt
Herausgegeben von Ulrike Migdal

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