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Gedächtnis und Identität: Augenzeugenberichte des Holocaust

Im Gegensatz zur Bundesrepublik Deutschland, wo die Klagerufe der Opfer des Holocaust lange Zeit unbeantwortet blieben ", herrschte in den Niederlan­den schon früh Verständnis für individuell erlittenes Leid…

Aus „Gedächtnis und Identität der KZ-Erfahrung. Niederländische und deutsche Augenzeugenberichte des Holocaust“ von Sandra Ziegler

Der Zweite Weltkrieg hat­te sich wie ein Netz über die Bewohner der Niederlande gelegt, seine Nachwir­kungen waren erdrückend. Durch gemeinschaftliche Aufarbeitung wollte man den Ausweg aus dem Dilemma finden.

Der Leidener Professor Jan Bastiaans begann mit Unterstützung der Regierung mit der Therapie des KZ-Syndroms mit der Hilfe des Psychogens LSD, bis diese Therapieform wieder abgeschafft wurde.128

128 Vgl. J. Bastiaans, Psychosomatische gevolgen van onderdrukking en verzet, Amsterdam 1957. Siehe dazu W. Wennekes, Allemaal rottigkeit, allemaal ellende. Het KZ-Syndrom von Willem van Salland, Amsterdam 1975, der Analysand bei Bastiaans war.

Dr. Elie A. Cohen, selbst Überlebender des Holocaust, untersuchte in seiner Studie Het Duitse Concentratiekamp die Auswirkungen und Nachwirkun­gen der KZ-Haft.129 Der Arzt war in Westerbork, Auschwitz, Mauthausen, Melk und Ebensee inhaftiert gewesen, hatte dort als "Prominenter" in seinem Beruf gearbeitet und damit, so empfand er es, dem hippokratischen Eid, Menschen in der Not zu helfen, Gewalt angetan, was er als schwere Fehlleistung betrachtete: "Het enige dat ik voor al deze doden heb kunnen doen was met mijn proefschrift een monument voor hen oprichten“, schrieb er später. 130

129 Vgl. E.A. Cohen, Het Duitse concentratiekamp. Een medische en psychologische Studie, Paris-Amsterdam 1952; E.A. Cohen, Beelden uit de nacht. Kampherinneringen, Baarn 1992.
130 "Das Einzige, was ich für all diese Toten habe tun können, war, ihnen mit meiner Doktor­arbeit ein Denkmal zu setzen“, Cohen (1992), S. 16.

http://www.youtube.com/watch?v=86eOwXnwVOc

Landesweit wurden eine Vielzahl von Behandlungseinrichtungen aufgebaut, so zum Beispiel 1973 auf In­itiative von J. Bastiaans das Centrum 40-45, dessen Mitarbeiter sich um die Er­forschung und Behandlung von erlittenen Kriegstraumata kümmerten.131

131 J. Schuyf, Traumatische Kriegserfahrungen von Niederländern und ihre individuellen und kollektiven Wirkungen aus sozialpsychologischer Sicht, in: Fasse (2000), S. 391-403, ebd. 394

Die Nachforschungen brachten zutage, dass jugendliche (jüdische) Kriegsopfer be­sonders stark unter dem Kriegsgeschehen gelitten hatten. Zahlreiche Men­schen wiesen ein "Massiv-Trauma“, ein "Komplex-Trauma“ mit einem brei­tem "Trauma-Spektrum“ auf, das aus einer erlebnisbedingten "Fragmentierung ihrer Psyche“ resultierte. Durch die Einführung des Rentengesetzes, der Wet Uitkering Vervolgingsslachtoffers von 1972, das eine staatliche Solidaritätsver­pflichtung gegenüber den Opfern der Verfolgung darstellt, wurde den Betrof­fenen eine Grundversorgung zugesprochen. 132-136

132 Keilson (1979), Fasse (2000), S. 394.
133 H. Krystal, Massive Psychic Trauma. New York 1963; Fasse (2000), S. 395.
134 J. L. Herman, Trauma and Recovery, New York 1992; Fasse (2000), S. 395.
133 B. A. van der Kolk u.a., Dissociation, Somatisation, and Affect Disregulation: The Complexity of Adaptations to Trauma, in: The American Journal of Psychiatry 153/7 (1996), S. 83-93; Fasse (2000), S. 395.
136 Fasse (2000), S. 329.

Intensiv suchte man nach einer Antwort auf die Frage, warum in den Niederlanden so viele Juden wie nirgendwo sonst in Europa der NS-Maschinerie zum Opfer gefallen waren. Die Konfron­tation mit der Tatsache, dass über 80 Prozent der niederländischen Juden ermor­det wurden, wurde zum Eckpfeiler für eine Akzeptanz und Aufarbeitung von daraus resultierenden Schuldgefühlen.

B. Moore: Warum fielen dem Holocaust so viele niederländische Juden zum Opfer?
Ein Er­klärungsversuch, in: Fasse (2000), S. 191-209.

Moore nannte die in den Niederlanden be­reitstehenden Züge für die Transporte, die in Frankreich und Belgien nicht zur Verfügung standen, die Tradition der "gezagsgetrouwheid“ (Autoritätsgläubigket), das detaillierte Meldewesen in Form eines ausführlichen Bevölkerungsregisters, die „Kooperationsbereit­schaft“ der niederländischen Polizei bei den durchgeführten Razzien und die aufgrund der Versäulung der niederländischen Gesellschaft mangelhafte Unterstützung der Juden als Gründe für die hohe Zahl an Opfern.

I. de Haan hat drei Muster aufgezeigt, nach denen die Schuldfrage erörtert wurde: die Judenverfolgung als Folge
1) antisemitischen und national­sozialistischen Handelns,
2) als Folge des moralischen Verfalls der Eliten und
3) als Folge bürokratischen Tuns.
I. de Haan, Het onbehagen, in: De Gids, November/Dezember 1997; Fasse (2000). S. 400.

In den achtziger und neunziger Jahren nahmen die Intensität der Auseinan­dersetzungen und das Interesse am Kriegsgeschehen erneut ab. Die erlebten Vorgänge wurden nicht vergessen, sondern vor dem Hintergrund einer besonde­ren Aufmerksamkeit für die Wahrung der Menschenrechte diskutiert. Nun wur­de auch die indonesische Kriegsvergangenheit stärker ins Auge gefasst. Wieder­um wurden die Mitarbeiter des NIOD mit Untersuchungen beauftragt, die the­matische Differenzierungen mit sich brachten. In den Kreisen der Historiker war eine zunehmende wissenschaftliche Distanz zu verzeichnen. Johannes T. Houwink ten Cate befragte unter anderen in einem Oralhistory-Projekt die Ein­stellung einer Reihe von ehemaligen NSB-Mitgliedern zu ihrem Verhalten wäh­rend der nationalsozialistischen Besatzung der Niederlande. Die Untersuchung brachte zu Tage, dass die interviewten Personen, die die NSB- oder SS-Mitgliedschaft als "Kainsteken“ tragen, von ihrer einstigen Überzeugung nicht abgelassen haben.
Ein Phänomen, das man bei den meisten Tätern wiederfin­det. Sie verteidig(t)en ihre Zugehörigkeit, rechne(t)en ihr Tun gegen die Taten der Russen, Amerikaner und anderer auf und stellten den gewalttätigen Charak­ter des NS-Systems nicht in Frage. Selbstrechtfertigung, Rationalisierung (ver­borgener) Schuldgefühle und Schuldverlagerung sowie Fixierung auf die Vergan­genheit sind die Kennzeichen dieser mündlichen Zeugnisse.
(„Kainszeichen“, J.Th.M. Houwink ten Cate, Getuigenissen van NSBlers. Den Haag 1992, S. 159.)

An die Erforschung und detaillierte Untersuchung der eigenen Beteiligung am Verfolgungsgesche­hen, an Verrat und an den Plünderungen jüdischen Eigentums, wagte man sich zwar heran. Die zu Tage beförderten Untersuchungsergebnisse waren aber nicht immer zufriedenstellend. Die Auseinandersetzung mit der Beteiligung der nie­derländischen Bevölkerung an der Vertreibung der Juden hält an und wird thematisiert.

Grosse Bedeutung für die Aufarbeitung der zurückliegenden Erleb­nisse hat die Literatur. Autoren wie Harry Mulisch, Marga Minco, Hugo Claus, Jessica Durlacher und Tessa de Loo setzen sich mit den Schrecken der Vergangenheit auseinander. Der Blick auf die deutsche Besatzung der Nie­derlande wurde und wird differenzierter. Stand anfangs das Leid, das die Natio­nalsozialisten über das Land gebracht hatten im Vordergrund, gerieten die be­gangenen Menschenrechtsverletzungen mehr und mehr ins Blickfeld der Be­trachtung.

1 comment to Gedächtnis und Identität: Augenzeugenberichte des Holocaust

  • […] Dr. Elie A. Cohen, selbst Überlebender des Holocaust, untersuchte in seiner Studie “Het Duitse Concentratiekamp” die Auswirkungen und Nachwirkun­gen der KZ-Haft. Der Arzt war in Westerbork, Auschwitz, Mauthausen, Melk und Ebensee inhaftiert gewesen, hatte dort als "Prominenter" in seinem Beruf gearbeitet und damit, so empfand er es, dem hippokratischen Eid, Menschen in der Not zu helfen, Gewalt angetan, was er als schwere Fehlleistung betrachtete: "Het enige dat ik voor al deze doden heb kunnen doen was met mijn proefschrift een monument voor hen oprichten", schrieb er später… weiter: Augenzeugenberichte des Holocaust… […]