Antiziganismus in Ungarn…
In Großstädten Europas tauchen bettelnde obdachlose Gruppen auf, die offensichtlich aus einem südosteuropäischen Staat kommen. Bei diesem Anblick sprechen viele schnell von „Wirtschaftsflüchtlingen“. Doch wenn das so ist, wie mag es diesen Menschen in ihrem Herkunftsland ergangen sein? Unter welchen Umständen haben sie gelebt, dass ihnen das Dasein auf der Straße in Wien, München oder Berlin erträglicher ist als das Leben zu Hause in den eigenen vier Wänden?
Diesen Fragen ist die Autorin nachgegangen. Sie konzentriert sich auf die antitiganistischen Denkstrukturen und auf deren immer dramatischeren Auswirkungen. Magdalena Marsovszky ist deutsch-ungarische Kulturwissenschaftlerin, Lehrbeauftragte der Hochschule Fulda, Mitglied im Villigster Forschungsforum für Nationalsozialismus und Rassismus, Mitglied in der Gesellschaft für Antiziganismusforschung, Vorstandsmitglied in der Roma-Bürgerrechtsbewegung für die Republik Ungarn sowie wissenschaftliche Beraterin der Initiative „Leipzig Korrektiv“.
Magdalena Marsovszky: Verfolger und Verfolgte – Antiziganismus in Ungarn, hrsg v. Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen e.V., GNN Verlag Schkeuditz 2015, 56 S., Euro 5,00, Bestellen?
LESEPROBE:
Antiziganismus seit 2010
2010 wählte die völkische Mehrheit eine völkische Regierung. Das Datum bedeutet einen Wendepunkt in der Zeit nach 1989, weil die Ideologie, die sich vor 2010 zunächst als kulturelle Bewegung und später als eine gegenkulturelle Massenbewegung (78) meldete, nun zur offiziellen Regierungspolitik wurde. Bald nach den Wahlen wurde das neue Staatsbürgerschaftsgesetz nach dem Ius-Sanguinis-Prinzip verabschiedet,(79) das Minderheitenmagyaren auch aus den Nachbarländern in die Volksgemeinschaft integriert, selbst, wenn diese nicht in Ungarn wohnen. Dieses Gesetz wiederspiegelt die bereits erwähnte vermeintliche Homogenisierung und deren wesensimmanente exkludierende Dimension, also den rassistischen Blick, weil diese „Magyaren“ die „Weißen“ sind zu denen weder „die Zigeuner“, noch „die Juden“ – also im antiziganistischen, antisemitischen Sinne – gehören. Drei weitere Gesetze wurden dann binnen zwei Jahre verabschiedet, die für den Antiziganismus (und den Rassismus allgemein) von entscheidender Bedeutung sind:
1. Am 01.01.2011 trat das neue Mediengesetz in Kraft, in dessen Präambel bereits die Mehrheit (d.h. die Nation, bzw. die Volksgemeinschaft) schützenswert erscheint (80).
2. Am 01.01.2012 trat das neue Grundgesetz in Kraft, in dessen Präambel die Selbstbeschreibung als Republik gestrichen wurde. In der alten Verfassung hieß es noch „Republik Ungarn“, nunmehr lautet der „Name unseres VATERLANDES“ schlicht „Ungarn“,(81) die Präambel ist überschrieben mit „nationales Glaubensbekenntnis“.(82) Erst in Artikel B, Abs. 2 fällt die Benennung als „Republik“,(83) doch sämtliche republikanische Gedanken sind von nationalen Bekenntnissen verdrängt: Der „wichtigste Rahmen unseres Zusammenlebens [sind] Familie und Nation“.
Dass die strukturellen Elemente der im Grundgesetz niedergelegten Ideologie in den ideologischen Komplex der Neuen Rechten in Europa eingebettet werden können, habe ich an anderer Stelle belegt.(84) Die klassischen Elemente der Ideologie der neuen Rechten und die der Regierung sind die völkische, ethnonationalistische Sicht mit dem Blut-und-Bodenmythos, der aus folgenden Einzelelementen besteht:
a) blutmäßige Abstammung, die Annahme einer vermeintlichen Blutsgemeinschaft, die
b) geographische Abstammung und damit der Anspruch auf einen Lebensraum, sowie
c) kulturelle Elemente, innerhalb dieser die nationalen Eigenheiten und gemeinschaftlichen Verhaltensweisen, wie die gemeinsame Sprache und die Erwähnung der historischen Traditionen (85).
Im Mittelpunkt des neuen Grundgesetzes stehen also statt der Unantastbarkeit der menschlichen Würde als Ausdruck der universellen Menschenrechte und der pluralistischen Demokratie die „Nation“ bzw. das „nationale Glaubensbekenntnis“. Bereits die erste Zeile der Präambel – ein Zitat aus der ungarischen Hymne „Gott, segne den Magyaren!“ (86) – zeigt: Fortan wird die Mehrheit geschützt.
3. November 2011 verabschiedete die Regierung die allgemein als „Roma-Strategie“ bezeichnete, in wortwörtlicher Übersetzung „Nationale, gesellschaftliche Aufholstrategie“ (87). Das 126 Seiten umfassende Dokument geht von der (in der Zeit der Erhebung wohl richtigen) Annahme aus, dass jede dritte Person in Ungarn unterhalb der Armutsgrenze lebt und ein Großteil der Roma und Romnja, deren Zahl bei 5-600 Tausend, bzw. nach Schätzungen 750 Tausend liegt, zu dieser Schicht gehört. Deshalb könne in der „nationalen Aufholstrategie“ der Kampf gegen die Armut nicht von der sich auf die Roma und Romnja gerichtete Politik getrennt werden. So richtig diese Feststellung ist, so problematisch ist die Methode, mit der der Frage nachgegangen wird, wer nun Roma oder Romnja ist. Hierbei verlässt man sich nicht auf die Eigenaussagen, was ja der Achtung der universellen Menschenrechte entsprechen würde, sondern – nach altbekanntem Muster – auf Zuschreibungen von Außen, was den rassistischen Blick wiederspiegelt. Hinzugefügt werden muss, dass sich die VerfasserInnen des Dokuments auf Vorschläge einer Forschungsarbeit der Ungarischen Akademie der Wissenschaften mit dem Titel „Möglichkeiten und Notwendigkeiten einer ethnischen Datenerfassung“ (88) verlassen, so dass sie im guten Glauben von der Richtigkeit ihrer Sicht ausgehen. Der ethnischen Sicht entsprechend benutzt daher das Dokument konsequenterweise auch die Begriffe wie „Roma-Angelegenheiten“ oder „Probleme des Zigeunertums“. Um den Roma und Romnja zielgerichtet helfen zu können, heißt es weiter, müsse man sich überlegen, „was für Möglichkeiten es gibt, Daten der ethnischen Abstammung zu sammeln. Diese Daten sind besonders wichtig im Hinblick auf die Diskriminierungstendenzen, denn diese /…/ entstehen nicht infolge der Identität, sondern infolge der Abstammung (der diskriminierten Person/ M.M.)“. Das ist der Knackpunkt der Strategie: Man führt die Diskriminierung nicht auf die diskriminierende Absicht zurück, sondern auf die vermeintliche Abstammung der diskriminierten Person. So führt die Strategie konsequenterweise auch die Radikalisierung der Gesellschaft und das Erscheinen paramilitärischer Organisationen – neben der Wirtschaftskriese – auf „Straftaten“ zurück, „die einen ethnischen Hintergrund vermuten lassen“. Die VerfasserInnen der Strategie würden sich sicherlich vehement gegen den Vorwurf wehren, dass genau dies auch die Logik im rechten Rand der Gesellschaft ist, in der gegen eine vermeintliche „Zigeunerkriminalität“ gekämpft wird.
Es muss also zusammenfassend festgehalten werden, dass die auch vom EU Parlament als musterhaft erklärte so genannte Romastrategie – bei aller ehrlicher Absicht und Hilfsbereitschaft – im Sinne einer Täter-Opfer-Umkehr die Ausgegrenzten zum Ausgangspunkt des Problems Antiziganismus erklärt – als ob die Ausgegrenzten für ihre eigene Ausgrenzung verantwortlich seien. Eine Strategie, die sich konsequent gegen die Diskriminierung richtet, müsste treffender „Desegregationsstrategie“ oder „Strategie zu mehr Toleranz in der Mehrheitsgesellschaft“ heißen.
Typisch für die Täter-Opfer-Umkehr ist auch die Erklärung des Superministers Balog am Gedenktag des Porajmos, dem 02. August 2014, es hätte aus Ungarn „keine Deportationen von Roma in die Vernichtungslager der Nazis gegeben“, und die „übertriebene Opfermentalität erzeuge – wie im Fall der jüdischen Holocaustüberlebenden und ihrer Nachkommen – Schizophrenie“.(89)
Wie fest die offen völkische und sozialdarwinistische Blut-und-Boden-Ideologie mit der Auffassung des „Magyarentums“ als Blutsgemeinschaft und damit der rassistische Blick – nicht nur bei der rechtsradikalen Partei Jobbik, sondern auch – bei der Regierung verankert ist, zeigt die Rede Viktor Orbáns im Oktober 2012:
„Der Turul (ein mythischer Greif/ M.M.) ist ein Urbild, das Urbild der Magyaren. Wir werden in es hineingeboren, so wie wir in unsere Sprache und Geschichte hineingeboren werden. Das Urbild gehört zum Blut und zum Heimatboden. Von dem Augenblick an, wo wir als Magyaren auf die Welt kommen, schließen unsere sieben Stämme den Blutbund, gründet unser heiliger Stephan den Staat, unterliegen unsere Truppen in der Schlacht bei Mohács, der Turul aber ist das Symbol der nationalen Identität der jetzt lebenden, der schon gestorbenen und der erst noch auf die Welt kommenden Magyaren. […] Diese Statue […] ist das Denkmal des nationalen Zusammenhalts. Es erinnert daran, dass jeder Magyare jedem anderen Magyaren Rechenschaft schuldig ist. Die magyarische ist eine Weltnation, denn die Grenzen des Landes und die Grenzen der magyarischen Nation fallen nicht zusammen […]. Dieses Denkmal will uns sagen, dass es nur ein einziges Vaterland gibt, und zwar jenes, welches dazu fähig ist, alle Magyaren diesseits und jenseits der Trianon-Grenzen in einer einzigen Gemeinschaft zu vereinigen. […] Wer die Zeichen der Zeit zu lesen vermag, der kann sie lesen. Eine Welt neuer Gesetze kommt auf den europäischen Kontinent zu. Das erste Gebot dieser im Entstehen begriffenen neuen Welt lautet: Die Starken vereinigen sich, die Schwachen zerfallen, das heißt, die Angehörigen starker Nationen halten zusammen, die der schwachen Nationen laufen auseinander. Ich wünsche jedem Magyaren, dass er Ohren haben möge zu hören und dass er die Zeichen lesen möge.“(90)
Zwei weitere Aspekte der Ideologie der Regierung verstärken die Tendenzen des Antiziganismus. Der erste ist die Auffassung, dass Ungarn eine „arbeitsbasierte Nation“, und der zweite, dass Ungarn ein „illiberaler Staat“ sei. Hinweise auf diese Aspekte finden wir bereits in der Präambel des Grundgesetzes, doch ausführlich ging Viktor Orbán auf das Thema erst Juli 2014 ein:
„In der Welt herrscht ein Wettrennen darum, wer (…) jenen Staat erfindet, der am ehesten dazu in der Lage ist, eine Nation international erfolgreich zu machen. (…) Das „Schlager-Thema“ im allgemeinen Denken ist es, jene Systeme zu verstehen, die nicht westlich, die nicht liberal, die keine liberalen Demokratien, die vielleicht sogar nicht einmal Demokratien sind, die aber dennoch Nationen erfolgreich machen. Die „Stars“ in den internationalen Analysen sind nämlich Singapur, China, Indien, Russland, die Türkei. (…) Das, was wir in den letzten vier Jahren gemacht haben und was wir in den nächsten vier Jahren machen werden, ist tatsächlich auch von daher zu interpretieren. Indem wir uns von den in Westeuropa akzeptierten Dogmen und Ideologien lossagen und uns von ihnen unabhängig machen, suchen wir (….) jene Form der Gemeinschaftsorganisation, jenen neuen ungarischen Staat, die dazu in der Lage sind, unsere Gemeinschaften mit einer jahrzehntelangen Perspektive im großen Wettrennen der Welt wettbewerbsfähig zu machen. Bisher kannten wir drei Formen der Staatsorganisation: den Nationalstaat, den liberalen Staat und den Wohlfahrtsstaat. Die Frage lautet nun: was kommt als nächstes? Die ungarische Antwort darauf lautet: es dürfte das Zeitalter des arbeitsbasierten Staates folgen. Wir wollen eine arbeitsbasierte Gesellschaft organisieren, die – wie ich schon früher erwähnte – das Odium auf sich nimmt, dass sie offen ausspricht, dass sie hinsichtlich ihres Charakters keine liberale Demokratie ist. (…) Mit den liberalen Prinzipien und Methoden der Organisierung einer Gesellschaft und überhaupt mit dem liberalen Verständnis von Gesellschaft müssen wir brechen. (…) Ich bin gegen jene europäische Politik, die die Einwanderung akzeptiert und unterstützt. Das muss man entschieden, klar und nüchtern aussprechen. Ich konnte das noch nicht zur europäischen Position machen, weil man mich immer überstimmt. (…) Es wird der Zeitpunkt kommen, an dem die ethnischen Grundlagen der Nationalstaaten in Frage gestellt werden. Wollen wir das ?“ (91)
Zum Wesen dieses „illiberalen“ Staates gehört, dass der Liberalismus als Extremismus begriffen und bekämpft wird. So sagte der Verteidigungsminister, Csaba Hende anlässlich einer Nationalfeier im Oktober 2014 vor versammelten Jugendlichen: „Ihr seid die Generation derer, die die Irrungen des das Leben verleugnenden radikalen Liberalismus überwinden könnt und erleben werdet, was Zusammengehörigkeit heißt“.(92) Dies sind die (tief in der Gesellschaft verankerten) ideologischen Grundlagen, aus denen die Handlungsstrategien und alle bisher unternommenen Maßnahmen und Ausgrenzungsmechanismen abgeleitet werden können.
So wurden seit 2010, dem Machtantritt der Fidesz-KDNP Koalition, die Menschenrechte und die Minderheitenrechte eingeschränkt; das Amt des Ombudsmanns für Minderheiten wurde aufgelöst, und der Beauftragte für Nationalitäten konnte von da an nur noch als eines von drei Mitgliedern in einem Gremium die Arbeit des Beauftragten für Grundrechte unterstützen. Während die Neue Ungarische Garde weiter marschieren und die Roma-Bevölkerung terrorisieren darf, richten sich immer mehr Maßnahmen gegen die Opfer selbst, vor allem gegen Roma und Romnja, immer häufiger aber auch gegen Arme und Obdachlose. Die Auszahlung von Sozialhilfe ist seit 2012 an das Verrichten von gemeinnütziger Arbeit und an Ordnungskontrollen in Wohnungen geknüpft. Das Pflichtschulalter wurde auf 15 Jahre herabgesetzt; junge Frauen unter 18 Jahren haben keinen Anspruch auf Erstgeburtshilfe (national gesinnte Politiker rechtfertigen dies verächtlich mit dem Hinweis, unter 18 hätten Frauen ihren Platz an der Schulbank). In Roma-Ghettos mit Häusern ohne Wasseranschluss werden öffentliche Brunnen gesperrt, um den „übermäßigen Wasserverbrauch“ einzudämmen.
Die von der EU vermeintlich als demokratische gesellschaftliche Integration finanzierten Projekte verwandeln sich in Ungarn in eine völkische „Zigeunerpolitik“ und verfolgen nach Ansicht des Bürgerrechtlers Aladár Horváth das Ziel, eine Gruppe hervorzubringen, die loyal zur gegenwärtigen Regierung stehe und die perspektivisch als Multiplikator die völkische Idee verbreite.(93) Für demokratische Bürgerrechtsarbeit bleibt kein Cent, meint auch der ehemalige Ombudsmann für Minderheiten, Ernö Kállai (94), und auch die Fördergelder für zivile Projekte kommen bei den Betroffenen nicht an.(95) Der Minister für Humanressourcen Zoltán Balog, der sogenannte Superminister, führte 2013 sogar die „liebevolle Segregation“ von Romakindern ein.(96) Auch die von der Fidesz vorgeschlagene Wählerregistrierung (97) richtet sich vor allem gegen sozial deklassierte, mehrheitlich auf dem Land lebende Roma und Romnja und fungiert als Hürde bei der Ausübung der demokratischen Teilhabe. Bei den Kommunalwahlen im Oktober 2014 wurde in manchen Gemeinden Sozialarbeit nur gegen das „richtige“ Kreuz am Wahlzettel versprochen. (98) Dagegen wurden die Rechte der paramilitärischen Bürgerwehren erweitert und das Recht auf bewaffneten Selbstschutz auf eigenem Grund und Boden eingeführt.(99)
Arme und Obdachlose werden tagtäglich kriminalisiert und zu Opfern eines strukturellen Rassismus. Das De-facto-Verbot der Wohnungslosigkeit hat seit März 2013 Verfassungsrang. Ein 2011 erlassenes Gesetz, das die Vertreibung von Wohnungslosen aus dem öffentlichen Raum legitimierte, wurde zwar inzwischen für verfassungswidrig erklärt, dennoch sind sie weiter Schikanen durch Sicherheitsdienste und Behörden ausgesetzt, das Holzsammeln zählt z.B. als Diebstahl (100). 2014 wurde man wieder einmal Zeuge einer Zwangsvertreibung aus „sicherheitspolitischen“ Gründen, wie es hieß, diesmal in der Stadt Miskolc. Ein „Elendsviertel“ sollte dem Parkplatz eines Fußballstadions weichen (101), etliche Familien sind obdachlos geworden, so dass manche nur noch ans Flüchten denken konnten.(102) Das arbeitsbasierte Gesellschaftsmodell wird wohl zu weiteren Ausgrenzungen führen: Die Regierung plant die Sozialhilfe noch mehr zu kürzen und noch strikter an Arbeit zu binden.(103) Die Regierung kämpft nicht gegen die Armut, sondern gegen Arme. Dabei sei nach dem Wirtschaftswissenschaftler Gábor Kertesi die Zahl der unterernährten Babys – die wiederum vor allem in Romafamilien – so hoch, wie in den am meisten unterentwickelten Ländern in Afrika.(104)
Doch da der Universalismus als Feindbild gilt, werden nicht-völkische, universal-christliche Gemeinden an ihrer Arbeit gehindert (105). Durch die Blut-und-Boden-Volkstumspolitik und das Staatsbürgerschaftsgesetz der Orbán-Regierung wurde zwischen 2010 und 2014 die auf etwa 10 Mio. geschätzte Bevölkerung Ungarns regelrecht umstrukturiert: Während auf der einen Seite über eine halbe Million AuslandsmagyarInnen die ungarische Staatsbürgerschaft erhielten, so dass sie auch im Sozialsystem wahrnehmbar sind, fielen in der gleichen Zeit innerhalb des Landes infolge der rassistischen, vor allem antiziganistischen Sozialpolitik etwa genau so viele aus dem sozialen Netz, was bedeutet, sie haben keine Existenzgrundlage. Etwa noch einmal genau so viele (regierungskritische Linksliberale oder rassistisch Bedrohte) mussten das Land verlassen. Zugleich wächst der Homogenisierungsdruck auf die Andersdenkenden im Land.
Die antiziganistische Segregation beginnt schon in der Grundschule. Heutzutage werden Kinder in Ungarn in gleicher Prozentzahl in eine Sonderschule überwiesen, wie im nationalsozialistischen Deutschland. Der Anteil derer, die in eine Sonderschule überwiesen wurden, war nach der „Machtergreifung“ Hitlers auf etwa sieben Prozent gestiegen. In Ungarn wuchs die gleiche Rate am Beginn des Schuljahres 2007/2008 sogar auf 7,1 Prozent an und liegt damit weit über dem europäischen Durchschnitt von etwa 2,5 Prozent. (106)
Die Auffassung der Nation als Volksgemeinschaft führt dazu, dass der Paragraph „Volksverhetzung“ des Strafgesetzbuches nicht etwa die Minderheit, sondern die Mehrheit schützt. Der Paragraph, der eigentlich zum Schutz der Minderheiten formuliert wurde, wird immer wieder ins Gegenteil verkehrt. So wurden in den letzten Jahren in einigen Fällen Roma-StraftäterInnen zusätzlich zu ihrer Straftat auch noch wegen Volksverhetzung bzw. wegen Hetze gegen die Volksgemeinschaft der Magyaren verurteilt,(107) während gleichzeitig militante antiziganistische Hetze nicht geahndet wird.(108) Die Politik der ungarischen Regierung bestärkt jene, die ihre menschenfeindlichen Einstellungen in Gewalt umsetzen.
Dass antiziganistische Hetze nicht nur Roma ausgrenzt, sondern auch Arme und Obdachlose, belegt ein Interview mit dem Wirtschaftswissenschaftler und Professor an der Gáspár-Károly-Universität in Budapest, László Bogár: Jede/r ungarische Leser/in versteht sofort, dass Bogár mit „Parasitendasein“ Arme, Obdachlose und Roma anspricht:
„Momentan wird der Staatshaushalt nur durch die asketische Zurückhaltung der Magyaren aufrechterhalten. Ungarn wird sich zumindest in den kommenden 15 Jahren noch in dieser ökonomischen Falle befinden. Diese Situation muss Viktor Orbán managen, doch das versteht er zweifellos. Zur gleichen Zeit, und das weiß der Ministerpräsident ganz sicher, ist mindestens ein Drittel der Gesellschaft endgültig verloren. Es gibt nichts, was diese Menschen aus dem endgültigen Elend zurückbringen könnte. Sie haben nicht mal das minimalste Wissensniveau zur Integration. Und daran ändert auch nichts, wenn der Staat die Gelder mit Schubkarren in die verschiedenen Integrationsprogramme trägt. Diese Schicht hat keine stützende Solidargemeinschaft mehr im Hintergrund. Gesamtgesellschaftlich gesehen können sie praktisch abgeschrieben werden. Sie wollen nicht arbeiten, aber auch der Arbeitsmarkt will sie nicht haben. Weil sie aber leben wollen, bleibt für sie das Parasitendasein.“(109)
Bogár war während der ersten Orbán Regierung (1998–2002) Staatssekretär im Kanzleramt, Präsident des regierungsnahen Zentrums für strategische Forschungen, das mit dem langfristigen Planen der Regierungspolitik beauftragt war, und persönlicher Berater des Ministerpräsidenten Viktor Orbán. Seine Hetze, die zugleich antiziganistisch und antisemitisch ist, setzt er seither fort. Im Juni 2013 erklärte Bogár in einem Vortrag:
„Die alles vernichtende Weltmacht möchte vor allem diejenigen vernichten, die die Aufmerksamkeit auf ein Phänomen richten möchten: Während wir hier uns gegenseitig umbringen, lacht die uns alle gemeinsam vernichtende Weltmacht zynisch im Hintergrund. Nur dann kann die Weltmacht die Dinge von hinten steuern und die Stimmung hysterisieren, wenn die ansonsten in natürlicher Brüderlichkeit miteinander lebenden Völker und Volksgruppen gegeneinander aufgehetzt werden und die dreckige Arbeit, für die ansonsten die erwähnte Weltmacht zuständig wäre, automatisch erledigen. Nur so kann geraubt und geplündert werden.“(110)
Während diese Rede noch einigermaßen codiert ist, gibt es, aus dem direkten Umkreis des Ministerpräsidenten, Journalisten, die deutlicher werden. Der 2011 mit dem Madách-Preis ausgezeichnete Journalist Zsolt Bayer schrieb im Fidesz-nahen Rechtsaußenblatt Magyar Hírlap: „Ein bedeutender Teil der Zigeuner ist nicht geeignet, unter Menschen zu leben. Sie sind Tiere. Diese Tiere sollen nicht sein dürfen. In keiner Weise. Das muss gelöst werden – sofort und egal wie.“(111)
Die ganze Hetze schlägt sich bei der rechtsradikalen Partei Jobbik in der Meinung nieder, dass die „Zigeunerkriminalität“ „die biologische Waffe der Zionisten“(112) sei. Antiziganismus und Antisemitismus sind auch in Ungarn nicht voneinander zu trennen.
Ideologische Konfiguration der Vorurteilsstrukturen und Feindbildkonstruktionen in Ungarn
Die ideologische Konfiguration der untersuchten Vorurteilsstrukturen zeigt graphisch die Zusammenhänge und das Abhängigkeitsverhältnis der Ausgrenzungen von der gegenwärtigen völkischen Ideologie in Ungarn.
(78) Über die völkische Ideologie: Magdalena Marsovszky, Geschlossene Gesellschaft. Zu den ideologischen Hintergründen der völkischen Entwicklung in Ungarn, a.a.O., 13-62.
(79) Das neue Staatsbürgerschaftsgesetz: http://www.parlament.hu/irom39/00029/00029.pdf (18. 10. 2014). Es muss erwähnt werden, dass das neue Staatsbürgerschaftsgesetz von 97% des Parlaments verabschiedet wurde, was ein Beleg dafür ist, wie fest verankert auch in Ungarns Opposition das völkisch-ethnonationale Denken ist.
(80) Gesetz über die Freiheit der Medien und über die Grundsätze der Medieninhalte, die sog. Medienverfassung: http://njt.hu/cgi_bin/njt_doc.cgi?docid=132460.256038 (18. 10. 2014).
(81) Siehe den Text des Grundgesetzes auf Ungarisch: http://www.njt.hu/cgi_bin/njt_doc.cgi?docid=140968.234365 (18. 10. 2014) und in amtlicher deutscher Übersetzung auf der offiziellen Homepage der Regierung: http://www.kormany.hu/download/7/81/40000/Grundgesetz%20Ungarns%202011.pdf (18. 10. 2014), Zitat S. 7.
(82) Die offizielle Übersetzung ist nicht richtig. Es muss heißen: „Nationales Glaubensbekenntnis“ und nicht „Nationales Bekenntnis“ (Übersetzung Magdalena Marsovszky).
(83) Ebenda, S. 7.
(84) Eine Analyse des Grundgesetzes siehe in: Völkischer Ethonationalismus, Ethnopluralismus, die Ideologie der Neuen Rechten und das neue Grundgesetz Ungarns, in: Neue alte Rassismen? Differenz und Exklusion in Europa nach 1989. Hg. Gesine Drews-Sylla/ Renata Makarska, Bielefeld: Transcript (im Druck).
(85) Uwe Puschner, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache, Rasse, Religion, Darmstadt: WGB, 2001; Gideon Botsch, Die extreme Rechte in der Bundesrepublik Deutschland 1949 bis heute, Darmstadt: WBG, 60-81 (Teil II.: „Nationale Opposition” im Übergang).
(86) Ebenda, S. 5. Die offizielle Übersetzung – „Gott, segne die Ungarn!“ – ist erneut falsch. „Isten áldd meg a magyart“ heißt wörtlich: „Gott segne den Magyaren“ (Singular!). Da in der Hymne von 1823 völkische Töne anklingen, scheint es mir im Sinne der Gesamtaussage korrekter, statt „den Ungarn“ den völkischen Begriff „die Magyaren“ zu benutzen.
(87) Staatssekretariat Gesellschaftliche Integration, Ministerium für Verwaltung und Recht (Hrsg.), Nationale Strategie zur Integration. Tiefe Armut, Kinderarmut, Roma (2011–2020), Budapest, November 2011, http://romagov.kormany.hu/download/8/e3/20000/Strat%C3%A9gia.pdf (18. 10. 2014). Es ist nicht so, dass es in Ungarn keinen Desegregationsplan gegeben hätte. Für die Stadt Miskolc wurde z.B. 2008 ein Desegregationsplan erstellt: Zsuzsanna Farkas, István Hell, Tamás Wágner-Lakatos, Strategischer Entwicklungsplan für die Stadt Miskolc, Desegregationsplan, Miskolc: RPE, 03. Juli 2008.
(88) Gyula Pulay: Az etnikai hovatartozás számbavételi lehetöségei és szükségessége (Möglichkeiten und Notwendigkeiten einer ethnischen Datenerfassung),
MTA GYEP, 10. März 2009 (http://www.gyerekesely.hu/index.php?option=com_phocadownload&view=category&download=16%3Apulay-gyula-az-etnikai-hovatartozas-szambaveteli-lehetosgei-es-szuksegessge&id=4%3Akapcsolodo-anyagok&lang=hu [18.10.2014]).
(89) Minister Balog: Es gab keine Deportationen von Roma aus Ungarn (https://pusztaranger.wordpress.com/2014/08/05/minister-balog-es-gab-keine-deportationen-von-roma-aus-ungarn/ [18.10.2014]).
(90) Rede des Ministerpräsidenten zur Einweihung der Turul-Statue in Opusztaszer am 29. 9. 2012, http://www.miniszterelnok.hu/beszed/az_eros_nemzetek_tagjai_osszefognak (18. 10. 2014). Übers.: Gregor Mayer und Magdalena Marsovszky, vgl: https://pusztaranger.wordpress.com/2012/10/06/viktor-orbans-blut-und-boden-rede-dokumentation-und-kommentar/ (18. 10. 2014).
(91) Viktor Orbán: Wir bauen den illiberalen Staat auf (http://pusztaranger.wordpress.com/2014/07/30/viktor-orban-wir-bauen-den-illiberalen-staat-auf/ [18.10.2014]). Vgl. auch: Viktor Orbáns Rede auf der 25. Freien Sommeruniversität in Baile Tuşnad (Rumänien) am 26. Juli 2014 (http://pusztaranger.wordpress.com/2014/07/30/viktororban-wir-bauen-den-illiberalen-staat-auf/ [18.10.2014]).
(92) Hende a szélsöliberális kor életellenes tévedéseiröl (Hende über die Fehler der radikalliberalen Epoche, http://www.atv.hu/belfold/20141006-hende-a-szelsoliberaliskor-eletellenes-tevedeseirol [18.10.2014]).
(93) „Das ist Segregation“. Interview mit Aladár Horváth, in: Jungle World, Nr. 40, 2. 10. 2013, http://jungle-world.com/artikel/2013/40/48549.html (18. 10. 2014).
(94) Gábor Czene, Sehova nem vezetnek a romák eddig járt útjai (Die bisherigen Wege der Roma führen nirgends hin). Interview mit dem ehemaligen Ombudsmann für Minderheiten und Mitarbeiter des Instituts für Minderheitenforschung, Ernö Kállai, in Népszabadság, 01.08.2014 (http://nol.hu/belfold/magunkra-maradtunk-
1477683?fb_action_ids=723594254344410&fb_action_types=og.recommends [18.10.2014]).
(95) Bernhard Odehnal, Ungarn behindert die Auszahlung von Schweizer Fördergeldern. Die Polizei und die Verwaltung schikanieren private Stiftungen, die Kohäsionsgelder verwalten (http://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/Ungarn-behindert-die-Auszahlung-von-Schweizer-Foerdergeldern/story/14899666 [18.10.2014]).
(96) Einige der aufgezählten Maßnahmen und Gesetze wurden inzwischen für gesetzeswidrig erklärt, so z.B. der Ausschluss von Kindern vom Schwimmunterricht oder die „liebevolle Segregation“ des Ministers (http://nol.hu/belfold/a-birosagrol-leperegtegbalog-zoltan-szavai-1496821 [18.10.2014]).
(97) Jede/r muss sich vor den Wahlen als Wahlberechtigte/r registrieren lassen. Doch die Wahlbezirke wurden so eingeteilt, dass man auf ein Fahrzeug angewiesen ist, um zur Registrierungsstelle zu gelangen. Wer es versäumt, sich registrieren zu lassen, ist von den Wahlen ausgeschlossen. Die Mehrheit der Roma, wie auch die Armen und Obdachlosen, haben jedoch meist nicht die (finanziellen) Möglichkeiten, um die Fahrt zu bewältigen.
(98) http://www.hir24.hu/belfold/2014/10/14/nyilt-szavazas-volt-borsodban/ (18.10.2014).
(99) Bánlaki Dalma Stella, Új fegyverszabályozás: tényleges az enyhülés?, in: mandiner, 27. 6. 2013, http://mandiner.hu/cikk/20120627_uj_btk_es_fegyvertorveny_tenyleges_az_enyhules (18. 10. 2014).
(100) Ákos Albert, Én és a kályhám – így várják a telet Hernádvécsén (Ich und mein Ofen – So wird der Winter in Hernádvécse erwartet), in: Abcúg, 21.10.2014 (http://abcug.hu/szegenyseg-nem-szegyen-de-kellemetlen/ [18.10.2014]).
(101) Jan Schulz-Ojala, Roma den Krieg erklärt, Tagesspiegel, 12.10.2014 (http://m.tagesspiegel.de/politik/kommunalwahlen-in-ungarn-den-roma-den-krieg-erklaert/10825978.html [18.10.2014]).
(102) Kitart a Svajcba menekült romák egy csoportja (Ein Teil der in die Schweiz geflohenen Roma und Romnja will durchhalten), in: http://www.origo.hu/itthon/20141031-kitart-a-svajcba-menekult-romak-egy-csoportja.html (18.10.2014).
(103) http://hvg.hu/gazdasag/20141104_Fidesz_frakcio_koltsegvetes_2015_segely (18.10.2014)
(104) Ernö Kardos, Nem a szegények, hanem a szegénység ellen kell harcolni (Nicht gegen die Armen, sondern gegen die Armut müsste man kämpfen), Interview mit dem Wirtschaftswissenschaftler, Gábor Kertesi, in: Élet és Irodalom 24. 07. 2014.
(105) So z.B. die methodistische Gemeinde von Pastor Gábor Iványi, der mit dem neuen Kirchengesetz der Kirchenstatus aberkannt wurde (http://pusztaranger.wordpress.com/2012/03/02/die-anerkennung-zur-kirche-ist-kein-recht-sondern-eine-gnadeoffener-brief/ [18.10.2014]).
(106) Majtényi/Majtényi, Cigánykérdés Magyarországon 1945–2010, S. 151.
(107) Mit den Augen eines Juristen: Staatlicher Rassismus?“, in: Vasárnapi Hírek, 6. 10. 2013, http://www.vasarnapihirek.hu/szerintem/jogaszszemmel_allami_rasszizmus (18. 10. 2014).
(108) Vgl. Andreas Koob, Ensemble der Abwertung. Die Konjunktur von Feindbildern im Inneren der ungarischen Gesellschaft, in: ders./Marcks/Marsovszky, Mit Pfeil, Kreuz und Krone, S. 63–106.
(109) „Wir halten uns zurück.“ Interview mit László Bogár, 30. 8. 2013, http://valasz.hu/itthon/megszoritjuk-magunkat-59267/ (18. 10. 2014) .
(110) Vortrag in der Civilen Akademie, 16. 6. 2013, Echo TV.
(111) Blog Pusztaranger: Fidesz-Hassprediger Zsolt Bayer: Roma sind Tiere (+ Presseschau), http://pusztaranger.wordpress.com/2013/01/06/fidesz-hassprediger-zsoltbayer-roma-sind-tiere/ (18. 10. 2014).
(112) József Bíber, A cigánybünözés a cionisták biológiai fegyvere, rechtsradikales Internet portal, 13. 4. 2008, http://kuruc.info/r/7/23568/ (18. 10. 2014).
Leseprobe aus: Magdalena Marsovszky: Verfolger und Verfolgte – Antiziganismus in Ungarn, hrsg v. Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen e.V., GNN Verlag Schkeuditz 2015, 56 S., Euro 5,00, Bestellen?
„2010 wählte die völkische Mehrheit (Ungarns) eine völkische Regierung.“
Die Reaktion der EU ist typisch: böse Ungarn, macht keinen Mist bei unseren Europäischen Werten, aber wichtiger vor allem nicht bei Eurer Finanzpolitik!!
Die EU hat sich wieder gezeigt, was sie ist: ein Zusammenschluss reiner wirtschaftlichen Interessen unter der Prämisse und dem Mandat des Euro.