Sie könnten nicht verschiedener sein – die Brüder Hilsenrath: Manfred, der Jüngere, Stanford-Absolvent mit einer Neigung zur sozialen Anpassung, arbeitet sich zum Ingenieur für die US-amerikanische Raumfahrt hoch und verwirklicht den amerikanischen Traum…
Von Martin Kloke
Edgar, der Ältere, egozentrisch-streitbarer Autodidakt ohne formale Bildungsabschlüsse, schlägt sich in den USA mit Gelegenheitsarbeiten durch, bevor er als literarischer Einzelgänger mit dem Roman „Der Nazi & der Friseur“ zum international renommierten Schriftsteller avanciert. Edgar lebt seit 1975 wieder in Deutschland. Was beide Brüder miteinander verbindet, ist ihr Opferschicksal unter der NS-Gewaltherrschaft. Die verzweifelte Bitte an den amerikanischen Konsul um ein Einreisevisum in die USA wird der in Halle/Saale lebenden Familie 1938 versagt. Daraufhin flüchtet die jüdische Mutter mit ihren beiden Söhnen, geboren 1926 und 1929, in die Bukowina, wo sich die Familie beim Großvater ein wenig Sicherheit vor dem braunen Terror erhofft.
1941, als die Deutschen die Ukraine besetzen, überlassen sie die zerschossene Stadt Moghilev-Podolsk ihren rumänischen Verbündeten. Der unwirtliche Ort wird zum riesigen Ghetto – ein elendes Auffanglager für rumänische Juden, in das auch die Hilsenraths deportiert werden. Statt Gaskammern wüten Hunger und Seuchen, denen Tausende zum Opfer fallen. 1944 werden die Überlebenden von der Roten Armee befreit, darunter die Hilsenraths. Auf getrennten Wegen und unter beschwerlichen Umständen gelingt Manfred und Edgar die ersehnte Einreise in die USA.
Der Autor und Verleger Volker Dittrich hat die verdienstvolle Aufgabe übernommen, die Geschichte der ungleichen Brüder aufzuzeichnen. Er hat die beiden besucht und viele Gespräche mit Ihnen geführt. Die Erfahrungen der Hilsenrath-Brüder hat Dittrich in zahllose kleine Sinneinheiten aufgeteilt, die in etwa die Chronologie der Ereignisse widerspiegeln. Die Jahre der Verfolgung und ihre je individuelle Aufarbeitung stehen im Mittelpunkt, auch wenn der Autor die biografischen Linien der Brüder bis in die Gegenwart zieht. Das Besondere an dem Buch ist, dass Dittrich die detailliert-lebendigen Erinnerungen Manfreds jeweils mit Auszügen aus Edgars genial-kalter Prosa konfrontiert.
So entsteht ein ungewöhnlich privates und eindringliches Porträt zweier Brüder, deren Beziehung trotz aller emotionalen Nähe bis heute konfliktreich und fragil geblieben ist. Erst im hohen Alter vermag Manfred von den erschütternden Erfahrungen seines jugendlichen Überlebenskampfes zu erzählen: „Warum sind wir nicht auch gestorben? […] Diese Überlebensschuld, die haben die meisten von uns. Wir sind da, und die anderen sind gestorben – warum?“ (100) Dennoch lässt sich Manfred von der Vergangenheit nicht beherrschen – seine beglückende amerikanische Gegenwart scheint die einstigen Schrecken zu kompensieren. Edgar hingegen haben die Getto-Erfahrungen nie mehr losgelassen – bis heute wird er von ihnen beherrscht: Sein eigener später literarischer Erfolg überrascht kaum jemanden mehr als Edgar, denn der Schriftsteller ist psychisch nicht imstande zu erzählen, was er erlebt hat. Fiktional aber sprudeln die Sätze nur so aus ihm heraus: „Ich schreibe alles auf, was ich verdrängt habe. […] Ich erzähle das nur meinem Buch.“ (95f)
Volker Dittrich: Zwei Seiten der Erinnerung. Die Brüder Edgar und Manfred Hilsenrath. Berlin: Dittrich Verlag 2012, 254 Seiten. ISBN: 978-3-937717-75-3, 17,80 Euro
Seit dem 5.8.2012 wegen einstweiliger Verfügung nicht mehr lieferbar, weitere Informationen dazu unter http://www.dittrich-verlag.de/files/pressemitteilung_zu_hilsenrath_27.07.2012.pdf und http://www.dradio.de/download/149572/.
Diese Rezension erschien zuerst in: Tribüne, 51. Jahrgang, Heft 203, 3. Quartal 2012, S. 185.
Nach allem was ich gehört habe: Furchtbar!!! Hier wird das Lebenswerk eines wunderbaren, betagten, gebrechlichen Schriftstellers zerstört… Ein unglaublicher, absolut unmoralischer Vorgang.
http://www.berliner-zeitung.de/newsticker/meine-heimat-ist-meine-schreibmaschine–sagt-edgar-hilsenrath–trotzdem-weiss-er-nicht–ob-er-sie-noch-einmal-benutzen-wird–ein-gespraech-am-abend-eines-schriftstellerlebens-ich-habe-genug-geschrieben,10917074,10701818.html
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-87482743.html
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-39997591.html
Und Dank an Martin Kloke für seine schöne, verständnistiefe TRIBÜNE-Rezension! Die Originalversion seines Textes ist länger – in einer hier nicht veröffentlichten Passage zeigt sich die besondere, persönliche Tragik dieses Shoah-Überlebenden.
Edgar Hilsenrath hätte einen friedlicheren, würdigeren Lebenabend verdient!!!
Ich habe keine Ahnung, was Edgar Hilsenrath über Grass gedacht hat.
Vor einigen Monaten wurde auf haGalil einmal verdeutlicht, welche grundlegende Differenz zwischen den deutschen Schriftstellern Heinrich Böll und Grass besteht – was die Fähigkeit des Erinnerns, die Fähigkeit zur Anteilnahme betrifft:
http://www.hagalil.com/archiv/2012/04/11/grass-8/
So dürfte es nicht verwundern, dass Heinrich Böll zu den ersten deutschen Autoren gehörte, die die außergewöhnlichen Herausforderungen verstanden und formuliert haben, die den kontroversen, traurig-ironischen Schriften Hilsenraths inhärent sind. Es war Heinrich Böll, der Hilsenraths Roman „Der Frisör und der Nazi“ 1977 durch eine Rezension bekannt machte, ihm zum literarischen Durchbruch verhalf. (Grass wäre dazu vermutlich nicht in der Lage gewesen, aus vielerlei Gründen.)
In seiner ZEIT – Rezension zu „Der Nazi und der Friseur“ bemerkte Böll 1977: „Schweigen wir von Hitler, den man mal eine Weile vergessen sollte, um sich der Nazis erinnern zu können.“
Fürwahr, trefflicher vermag man eine deutsche Verdrängungs- und Verleugnungsleistung (die wir hier auf haGalil in den Kommentarspalten von überzeugt-zwanghaften Antisemitinnen beinahe täglich demonstriert bekommen) nicht zu formulieren.
In der ZEIT wurde 2004 anlässlich des Erscheinens der Gesamtausgabe Hilsenraths beim Dittrich Verlag dieser Diskurs aufgegriffen und mit der Schlussfolgerung fortgesetzt:
„ Auf heute bezogen, hieße das, auch und nicht zuletzt für junge Menschen: Vergesst das melodramatische Machwerk Der Untergang und lest stattdessen Der Nazi und der Friseur“.
http://www.zeit.de/2004/51/L-Hilsenrath-TAB