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Edgar Hilsenrath:
Der Nazi & Der Friseur
Gesammelte Werke Band 2, hrsg. v. Helmut Braun
Dittrich Verlag 2004
Euro 22,90

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Edgar Hilsenrath

Geboren 1926 in Leipzig. 1938 flüchtete er mit der Mutter und dem jüngeren Bruder nach Rumänien. 1941 kam die Familie in ein jüdisches Ghetto in der Ukraine. Hilsenrath überlebte und wanderte 1945 nach Palästina, 1951 in die USA aus. Heute lebt er in Berlin.
1989 erhielt Edgar Hilsenrath den Alfred-Döblin-Preis, 1992 den Heinz-Galinski-Preis, 1994 den Hans-Erich-Nossack-Preis, 1996 den Jacob-Wassermann-Preis und 1999 den Hans-Sahl-Preis.
2004 wurde Edgar Hilsenrath mit dem Lion-Feuchtwanger-Preis für sein literarisches Gesamtwerk ausgezeichnet.

Der Nazi & Der Friseur:
Wer hat Itzig Finkelstein erschossen?

Von Andrea Livnat

Edgar Hilsenrath wurde im November vergangenen Jahres mit dem Lion-Feuchtwanger-Preis der Akademie der Künste Berlin für sein literarisches Gesamtwerk ausgezeichnet. Der Dittrich Verlag begann mit der Publizierung von Hilsenraths Gesammelten Werken in elf Bänden. Der Autor erhält damit endlich die Würdigung, die seinem Werk zusteht und die ihm in Deutschland lange Zeit nicht gewährt wurde.

Die Geschichte der Publikation des vorliegenden Romans Der Nazi & Der Friseur ist dafür das beste Beispiel. 1975 verließ Hilsenrath die USA, wo er seit 1951, nach einer Zwischenstation in Palästina, lebte und kehrte nach Deutschland zurück. Im englischsprachigen Raum waren seine bisher erschienenen Romane zu dieser Zeit bereits ein großer Erfolg. 1966 war Hilsenraths erster Roman Nacht von einem New Yorker Verlagshaus veröffentlicht worden. Der Verlag war an einem zweiten Roman interessiert und Hilsenrath hatte die Idee bereits im Kopf. Mit dem Vorschuss reiste er nach München, um seine Idee in "authentischer" Umgebung umzusetzen. So entstand Der Nazi & Der Friseur, das Originalmanuskript ist in deutsch verfasst. Das Buch erschien schließlich 1971 unter dem Titel The Nazi & The Barber. In den folgenden vier Jahren erschien der Roman auch in England, Italien und Frankreich.

Nur in Deutschland fand sich für Hilsenraths Buch kein Verleger, auch nicht nachdem Hilsenrath nach Berlin umgezogen war und Hilfe bei der Verlagssuche erhielt. Mehr als 60 Verlage haben abgesagt, schreibt Helmut Braun in seinem Nachwort der Neuausgabe. Helmut Braun war es auch, der den Roman in seinem kleinen Literarischen Verlag 1977 herausbrachte.

In einem Interview erzählt Hilsenrath, dass er zuerst Zweifel hatte: "Der Braun-Verlag war sehr klein, deshalb dachte ich: Das kann nichts werden. Aber Braun hat das Buch doch durchgesetzt. Er ist selbst zum Spiegel gefahren, und hat es ihnen auf den Tisch geknallt und gesagt: Lest das mal. Sie haben's gelesen, und auch rezensiert. Der Spiegel war damals, 1977, einflußreicher als heute; danach hat die ganze Presse mitgezogen: der Stern, Die Welt, schließlich Heinrich Bölls Besprechung in der Zeit. Nachher wurde der Roman auch in Deutschland ein großer Erfolg."

Hilsenrath war mit seinen ersten Romanen seiner Zeit weit voraus. In Nacht stellt er das Ghetto unter völligem Ausschluss der Täterperspektive dar. Die Juden im fiktiven Ghetto Prokow, das als Symbol für alle Ghettos steht, werden in einer Art und Weise dargestellt, die Kritiker dazu veranlassten, den Roman als antisemitisch zu bezeichnen. Dabei hat Hilsenrath die Situation im Ghetto lediglich in ihrer ganzen selbstvernichtenden Realität gezeigt, er lässt seinen Protagonisten zum Frauenschänder und Leichenfledderer werden, lässt ihn so tief sinken, wie er in der Vernichtungsmaschinerie sinken musste.

Auch Der Nazi & Der Friseur schert sich nicht weiter um die gängigen Erzählstrukturen der Schoah. Der Roman ist das genaue Gegenteil zu Nacht, erzählt er doch in konsequenter Weise ausschließlich aus der Sicht des Täters. Hilsenrath wurde "literarischer Dilettantismus" vorgeworfen, seine Phantasien seien "roh und grausig". Fritz J. Raddatz sprach von "Wortgeklingel statt angemessenem Schweigen" und sah sich bemüßigt, dem Überlebenden Hilsenrath damit vorzuschreiben, wie jener sich an die Schoah zu erinnern habe.

Hilsenrath selbst sagte einmal in einem Interview, dass sich in seinen Geschichten nichts anderes widerspiegele als die Geschichte eines überlebenden "Juden deutscher Kultur".

Ganz offensichtlich ist es aber genau das, was die Kritik, die Verleger, das Publikum störte. Denn Hilsenrath schreibt so ganz anders als man sich das von einem Schoah-Überlebenden vorstellt. Er ist provozierend, schockierend, sarkastisch, und damit vor allem eines, unbequem. Das passte nicht in die philosemitische Stimmung des Nachkriegsdeutschlands, das seine Juden gut behandelt, vorausgesetzt, sie benehmen sich entsprechend. In einer Fernsehdiskussion sagte Hilsenrath 1978, dass die geheuchelte Zuneigung zum Judentum, die in der BRD gepflegt wird, nur eine andere Art von Antisemitismus sei.

Freilich bietet der Protagonist wenig Angenehmes. "Ich bin Max Schulz, unehelicher, wenn auch rein arischer Sohn der Minna Schulz..." beginnt der Roman. Max Schulz wächst in einem sozialen Wust auf, sein Stiefvater Slavitzki ist ein versoffener Friseur, der den Leuten Treppen schneidet und ins Waschbecken pinkelt. Zuhause gibt es vor allem eines: Misshandlungen und Prügel.

Max Schulz freundet sich mit dem jüdischen Jungen von gegenüber an, Itzig Finkelstein. Dessen Vater hat auch einen Friseurladen, oder besser einen "Salon", der sich "Der Herr von Welt" nennt. Max und Itzig werden unzertrennbar: "Ich, Max Schulz, rein arischer Sohn der Minna Schulz, lernte bei den Finkelsteins Jiddisch, machte mich mit Hilfe meines Freundes Itzig mit den hebräischen Schriftzeichen vertraut, begleitete meinen Freund am Samstag in die kleine Synagoge in der Schillerstraße". Schon hier ist die eigentliche Natur von Max Schulz klar, er ist ein Mitläufer. Gemeinsam mit Itzig drückt er die Schulbank, besteht darauf, ins Gymnasium zu gehen, genau wie Itzig, und fängt schließlich, genau wie Itzig, eine Friseurlehre bei dessen Vater Chaim an. Während Itzig blond und blauäugig ist, hat Max Schulz, der spätere Massenmörder, "schwarze Haare, Froschaugen, eine Hakennase, wulstige Lippen und schlechte Zähne" und sieht damit aus "wie ein Jude".

Seit Anfang der 30er Jahre wird in Max Schulz' Familie viel von Adolf Hitler gesprochen, Max wird Mitglied der NSDAP und schreibt sich mit seinem Stiefvater bei der SA ein. Von einem Tag auf den anderen ist die Freundschaft mit Itzig Finkelstein vergessen. Max Schulz geht zur SS, in der Kristallnacht brennt Finkelsteins Friseurladen ab. Dann kommt der Krieg, Max Schulz ist in Polen und Rußland, ist an Massenerschießungen beteiligt: "Wissen Sie, wie man 30.000 Juden in einem Wäldchen erschießt? Und wissen Sie, was das für einen Nichtraucher bedeutet? Dort hab ich das Rauchen gelernt." Und kommt schließlich in das Konzentrationslager "Laudwalde", wo er seinen "Dienst" tut, bis der Krieg zu Ende ist.

Im zerstörten Deutschland zurück, nach einer Odyssee durch Polen, bei der er auf eine alte Frau trifft, die ihn zu Tode quälen will, fasst Max Schulz schließlich einen Beschluss: "'Wenn es ein zweites Leben für dich gibt, dann solltest du es als Jude leben.' Und schließlich ... wir haben den Krieg verloren. Und die Juden haben ihn gewonnen. Und ich, Max Schulz, war immer ein Idealist. Aber ein besonderer Idealist. Einer, der sich das Mäntelchen nach dem Wind hängt. Weil er weiß, daß es sich leichter an der Seite der Sieger lebt, als an der Seite der Verlierer."

Max Schulz nimmt die Identität seines einstigen Freundes Itzig Finkelstein an, der den Krieg nicht überlebt hat. Mit einem Sack voll Goldzähne aus dem KZ als Starthilfe ausgestattet, macht der nun beschnittene und mit einer Auschwitz-Nummer auf dem Arm ausgestattete Massenmörder Max Schulz auf dem Schwarzmarkt gute Geschäfte. Zuvor steckt man ihn in ein DP Lager. Die Prüfungskommission muss er nicht groß überzeugen, sie will weder seine KZ-Nummer noch sein beschnittenes Glied sehen, das Aussehen des Massenmörders reicht der Kommission, für sie steht eindeutig fest, dass er nur ein Jude sein kann.

Durch die Schwarzmarktgeschäfte lernt Itzig Finkelstein alias Max Schulz eine Gräfin kennen, bei der er einzieht, die ihm bei den Geschäften hilft, mit der ihn ansonsten jedoch wenig verbindet. Entsetzt stellt er fest: "Es ist klar: Die Gräfin ist eine Antisemitin!" Die Groteske nimmt nun endgültig ihren Lauf, fühlt sich der Massenmörder Max Schulz doch in seiner jüdischen Identität gekränkt. Er beginnt zu lesen, jüdische Geschichte, die Makkabäer, Trumpeldor, Theodor Herzl. "Ich weiß nicht, warum ich die Gräfin beeindrucken will. Habe ich einen Minderwertigkeitskomplex? Und ist dieser Komplex ein typisch jüdischer?"

Nachdem alles Geld verloren ist, zieht Max Schulz/Itzig Finkelstein aus, lernt in seiner neuen Hotelunterkunft einen anderen Überlebenden kennen und entschließt sich dazu, nach Palästina auszuwandern.

Es beginnt die waghalsige Überfahrt, die Landung vorbei an englischen Truppen. In Palästina angekommen sucht sich Itzig Finkelstein alias Max Schulz ein kleines Städtchen als neuen Wohnort aus, findet in einem Friseursalon Anstellung, wird ein geachtetes Mitglied der Gemeinde, kämpft im Untergrund gegen die englische Besatzung und schließlich auch im Unabhängigkeitskrieg, heiratet und führt ein durch und durch bürgerliches Leben. Doch so sehr sich Max Schulz oder jetzt Itzig Finkelstein auch anstrengt, er kann nicht Opfer sein, seine Strafe besteht letztlich darin, dass er mit seinen Gewissensbissen stirbt. Und bis zum Ende bleibt auch die Frage offen: "Wer hat Itzig Finkelstein erschossen?"

Heinrich Böll bezeichnete den Protagonisten Max Schulz in einer Rezension aus dem Jahre 1977 als "blutbesudelten Hans im Glück". Max Schulz ist ein grotesk-satirisch überzeichneter Mitläufer, kein Antisemit, er hasst die Juden nicht. Er hat nur "mitgemacht! Bloß mitgemacht! Andere haben auch mitgemacht. Das war damals legal!" Hilsenrath griff eine Frage auf, die die Deutschen noch viele Jahre beschäftigen sollte und die bis heute in den Diskussionen, wie beispielsweise um die Wehrmachtsausstellung, hoch kocht. Wer ist schuldig? Max Schulz erhält im Ürbigen einen Freispruch.

Heute liegt der einstige Stein des Anstoßes bei der Kritik als Neuauflage, Band 2 der Gesammelten Werke Hilsenraths im Dittrich Verlag, vor und es sei jedem empfohlen, sich selbst ein Bild zu machen. Hilsenraths satirisches Eintauchen in die Täterperspektive ist deftig, nimmt kein Blatt vor den Mund und verlangt dem Leser einiges an Nerven ab. Eindeutig das größte Lesevergnügen des Jahres 2004!

hagalil.com 02-01-05











 

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