So lautet der provokante Titel eines 75-seitigen Essays der französischen Historikerin Esther Benbassa, das nun auf deutsch erschienen ist…
Das Buch ist die erste Veröffentlichung des neu gegründeten Verlags „Les Éditions du crieur public“ (Der Verlag des öffentlichen Ausrufers“), der es sich u.a. zur Aufgabe gesetzt hat, Werke bedeutender französischsprachiger Wissenschaftler und Kritiker in deutscher Sprache zugänglich zu machen. Den Auftakt bildet also nun Esther Benbassa, Professorin für moderne und zeitgenössische Geschichte der Juden an der Sorbonne, Autorin zahlreicher Werke, darunter in deutsch erschienen „Geschichte der Juden in Frankreich„, „Die Geschichte der sephardischen Juden“ und „Haben die Juden eine Zukunft?„.
Um es vorwegzunehmen, Benbassas Streitschrift ist sehr problematisch. Nicht wegen ihrer scharfen Kritik an Israel, sondern wegen allzu einseitigen Darstellungen und polemischen Untertönen, die die Historikerin einfließen lässt.
Die ersten Kapitel wenden sich allgemeinen Fragen rund um Judentum, jüdische Identität und jüdisches Leben in der Diaspora, aber auch in Israel zu. Während Benbassa dabei einerseits wichtige Fragen aufwirft, gerät die Darstellung der Einwanderung der Misrachim, d.h. jener Juden aus arabischen Ländern, arg übertrieben. Dass die Misrachim im jungen Staat Israel nicht gleichberechtigt waren und sich ihren Platz mühsam erkämpfen mussten, steht außer Frage. Benbassa überzeichnet dieses Bild aber stark, man meint einer aschkenasischen Verschwörung auf die Spur gekommen zu sein. Gleichzeitig lässt sie vollkommen außen vor, dass vieles von den ihr aufgegriffenen Aspekten auch für die aus Europa eingewanderten Juden galt. Ohne die Schwierigkeiten und Erniedrigungen, die die Misrachim zu meistern hatten, herunterspielen zu wollen, als Israelis durften nicht nur die orientalischen Einwanderer nicht mehr in ihren Herkunftsländern verwurzelt sein, kein Heimweh empfinden und die Sprache nicht mehr sprechen. Sehnsucht nach Russland, Deutschland waren genauso verpöhnt, Jiddisch zu sprechen war eine Schande. Nicht selten verloren Kinder, die im Kibbutz aufwuchsen, die gemeinsame Sprache mit den Eltern.
Im Folgenden widmet sich Benbassa der Beziehung von Juden der Diaspora zu Israel, wobei die Situation in Frankreich im speziellen angesprochen ist. Für den deutschen Leser sicher eine interessante und weniger bekannte Perspektive. Seltsam wird es dann wieder beim Thema Alija, also Einwanderung nach Israel. Hier übt sich Benbassa in Enthüllungen, die dafür sprechen sollen, wie wenig attraktiv Israel heute für Juden ist. Das Einwanderungssaldo betrage derzeit beinahe Null, es gäbe gleich viele Auswanderer wie Einwanderer. Aber nicht nur, dass offensichtlich zahlreiche Auswanderer Israel den Rücken kehren, Benbassa offenbart, dass es in den letzten Jahren vor allem eine „bedeutende“ nicht-jüdische Einwanderung gegeben habe. Damit sind einerseits asiatische und afrikanische Arbeitskräfte gemeint, die sich „manchmal dauerhaft niederließen“. Schade, dass Benbassa, wenn sie schon auf dieses Thema kommt, nicht auf die Problematik der israelischen Politik im Umgang mit diesen „Einwanderern“ eingeht. Andererseits sind damit Ehepartner und andere Verwandte der russisch-jüdischen Einwanderer gemeint, „die nicht als Juden anerkannt werden“. Weil sie es vielleicht einfach nicht sind? Trotzdem können sie aber doch nach Israel einwandern.
In Bezug auf den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern verliert sich die Autorin zunächst in einer semantischen Analyse zum Begriff „Schoah“. Während sie einerseits betont, dass keine Katastrophe dem Vergleich mit dem Holocaust standhalten kann, fügt sie andererseits an, dass die Palästinenser ihre Katastrophe, die Nakba, dennoch als Genozid wahrnahmen. Die Anmerkung, dass es in Folge der Begriffseinführung „Schoah“ durch das israelische Parlament im Jahr 1951 zu einer Verabsolutierung jüdischen Leidens kam, was „jede andere vergangene oder auch zukünftige Katastrophe in den Schatten“ stellt, wirkt in diesem Zusammenhang äußerst fehl am Platz. Selbstverständlich will ich der Autorin nicht vorwerfen, dass sie die Schoah relativieren möchte, doch warum verpackt sie den völlig richtigen und wichtigen Hinweis darauf, dass das Leid der Palästinenser anerkannt werden muss, so ungeschickt? Und wenn sie sich so eingehend mit dem Begriff „Schoah“ befasst, warum nicht auch mit „Nakba“? War die Nakba ein Genozid? Das heißt, wurde 1948 versucht, das palästinensische Volk auszurotten?
Viele weitere eigenwillige oder tendenziöse Formulierungen stoßen beim Lesen auf, „Palästinenser, die nicht nur vertrieben und in Flüchtlingslager gepfercht worden waren“, eher amüsant: die „äußerst gewandte Kommunikation Israels“, bei den anhaltenden Diskussionen über den Umgang mit der weltweiten Delegitimierungskampagne gegen Israel und dem Nutzen der Hasbara, eher ein guter Witz.
Seltsam auch die Einlassungen über den „durchschnittlichen Israeli“. Dass der Tod palästinensischer Zivilisten mit dem Hinweis darauf entschuldigt werde, dass auch die Hamas sich hinter Zivilisten und Kindern verstecke, ist richtig. Und es mag alle Arten von Rassisten auch in Israel geben. Aber die Aussage, „man bezeichnet die Palästinenser als Kakerlaken“, als Absolutum zu schreiben, das ist schon wirklich seltsam. Ich lebe seit fast 10 Jahren in Israel und habe viele wütende Worte über Palästineneser gehört, Kakerlake war noch nicht dabei. Was für ein Bild soll hier gezeichnet werden?
Insgesamt bleibt bisher unklar, warum genau die Gaza-Offensive für Benbassas Thesen herhalten musste, wenn das Unrecht so groß ist, warum dann ausgerechnet die Gaza Offensive? Im letzten Teil spricht Benbassa genau das nochmal an. Israels „übermäßige Forderungen den Palästinensern gegenüber“ hätten natürlich nicht mit der Gaza-Offensive begonnen, es sei jedoch etwas Neues geschehen: „Es wurde die Scheidelinie überschritten zwischen dem, was ein Jude mit seinem geschichtlichen Hintergrund zulassen kann und dem, was er zurückweisen muss, wenn er möchte, dass sein Jude-Sein eine von Humanität und somit von Universalität geprägte Vision der Welt bleibt.“ Den Grund für die Gaza-Offensive erwähnt Benbassa im übrigen so gut wie gar nicht, nur am Rande, wenn sie davon spricht, dass in Tel Aviv die Front weit entfernt sei und die Nachrichten „nur Bilder von Einwohnern der südisraelischen Stadt Sderot, die eins der Ziele des Raketenbeschusses war“ gezeigt hätten. Vom jahrelangen Terror durch den Kassam-Beschuss, den traumatischen Folgen für die Bewohner des südlichen Israels kein Wort. In den Nachrichten waren übrigens sehr wohl auch andere Bilder, nämlich aus Gaza und vom Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung zu sehen.
Trotzt aller Kritik, der Band kann durchaus interessante Impulse für die innerjüdische Debatte geben und hält in jedem Fall genug Stoff zur Diskussion bereit. Aufmerksames Lesen und Hinterfragen ist jedoch Voraussetzung. Es bleibt zu hoffen, dass der Band nicht nur den üblichen Bekannten auf der anti-israelischen Seite von Nutzen ist. — al
Esther Benbassa, Jude sein nach Gaza, Les éditions du Crieur Public 2010, Euro 12,80, Bestellen?
[LESEPROBE]
[…] Esther Benbassas Buch “Jude sein nach Gaza” wurde in Hagalil, dem größten jüdischen Online-Magazin in deutscher Sprache, ausführlich besprochen und analysiert. Der Artikel setzt sich detailiert und durchaus kritisch mit dem Werk auseinander, es ist eine sehr lesenswerte innerjüdische Diskussion. Details finden sich hier. […]