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Szenen einer Kindheit 1933-1945

Auf Einladung des Börsenvereins stellte der Spätlese Verlag aus Nürnberg, der sich seit Jahrzehnten der Pflege und dem Erhalt der Buchkultur in Franken widmet, kürzlich auf der „International Book Fair“ in Jerusalem das neueste Buch der Erlanger Schriftstellerin Inge Obermayer vor. Mit den Augen eines Kindes schildert sie dem Leser hautnah das Alltagsleben in NS-Deutschland und erzählt von der Banalität des Bösen…

Die 1928 geborene Ingeborg Dorothea, Didi genannt, erlebt eine wohlbehütete Kindheit in Berlin. Doch nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler entdeckt das blondgelockte Mädchen, dass Veränderungen im Gange sind. An einem Sonntag etwa tollt Didi auf der Straße, hüpft lachend zwischen den Passanten hindurch und singt dabei lauthals das französische Kinderlied „Frère Jacques, frère Jacques“. Plötzlich stellt sich der Kleinen ein Passant in den Weg und sagt: „Deutsche Kinder singen keine ausländischen Lieder!“

So beginnt das Buch „Frau Kohn und Papa Leimann“ der 82-jährigen Schriftstellerin Inge Obermayer, in der sie von ihrer Kindheit zwischen 1933 und 1945 erzählt. Das kleine Mädchen Didi – das Alter Ego der Autorin – erlebt eine Welt, die ihr immer rätselhafter erscheint. Ihre Eltern werden ermahnt, nicht mehr die alte, bekannte Reichsfahne, sondern das rote Banner mit dem Hakenkreuz zu hissen. Frau Kohn, die nette Nachbarin, die den Kindern immer Bonbons schenkte, verschwindet eines Tages einfach. Der Kriegskamerad und Skatbruder ihres Vaters, Papa Leimann, trägt plötzlich eine Uniform und erzählt mit Stolz, dass er fast so lange in der Partei wie ein gewisser Hitler sei. Didi nimmt dies alles zur Kenntnis und wundert sich. Warum kommt niemand zum Geburtstag ihrer Schulfreundin Sara. Warum dürfen Juden nicht mit der Straßenbahn fahren und sich nicht auf Parkbänke setzen? Das tägliche Leben wird zunehmend reglementiert und kontrolliert. Und warum stellt keiner Fragen?

In kurzen szenischen Kapiteln, lakonisch und unprätentiös, schildert Obermayer den Alltag im nationalsozialistischen Deutschland, vom blinden Funktionieren, von Ohmmacht, aber auch Ratlosigkeit der Menschen. Da dies aus der Sicht eines Kindes geschieht, wird niemand angeklagt oder verteidigt. Darin liegt die Stärke des autobiografischen, aber gleichwohl literarischen Textes. Inge Obermayer weiß, „dass das wahre Ausmaß der Furcht und des Elends im Reich der niederen Dämonen sprachlich kaum zu bewältigen ist“, wie ein Kritiker treffend schreibt. Dennoch gelingt es ihr, das unfassbare Leid, die Widersprüche und Grausamkeiten im nationalsozialistischen Alltag zu benennen.

Ein Buch, das zum Nachdenken und Nachfragen animiert. Nicht von ungefähr empfiehlt es die Arbeitsgemeinschaft Jugendliteratur in der GEW für den Einsatz im Schulunterricht. – jgt

Übrigens: Eine Übersetzung ins Hebräische liegt bereits vor. Ein israelischer Verlag wird gleichwohl noch gesucht.


Spätlese-Chefin Erna Hofmann im Gespräch mit Hans-Michael Fenderl vom Börsenverein. Am deutschen Gemeinschaftsstand „Jüdisches Leben und Gegenwart“ wurden rund 350 Titel präsentiert. Foto: ThreeH-archive

Inge Obermayer, Frau Kohn und Papa Leimann. Eine Kindheit 1933-1945, Spätlese Verlag Nürnberg, 112 Seiten, 9,80 €, Bestellen?

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