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Zweisprachigkeit und binationale Idee

Der Prager Zionismus 1900-1930…

Zweisprachigkeit und binationale Idee. Der Prager Zionismus 1900-1930Rezension von Romy Langeheine
H-Soz-u-Kult, 20.06.2014

Die deutsche Übersetzung von Dimitry Shumskys 2005 an der Universität Haifa entstandener geschichtswissenschaftlicher Dissertation, die 2010 erstmalig auf Hebräisch erschien, macht nun auch der deutschen Leserschaft eine innovative Studie zum Prager Zionismus und den Anfängen der binationalen Idee als Lösungsmöglichkeit des jüdisch-arabischen Konflikts in Palästina zugänglich. Dieser Lösungsansatz wurde insbesondere von Mitgliedern des 1925 in Jerusalem gegründeten Intellektuellenzirkels Brith Schalom verfolgt, die bereits zu dieser Zeit auf die Dringlichkeit der Aussöhnung zwischen Juden und Arabern hinwiesen und verschiedene politische Programme dazu ausarbeiteten.

In Shumskys chronologisch aufgebauter Studie, die Ende des 19. Jahrhunderts mit der Gründung des zionistischen Studentenvereins Bar Kochba beginnt und Mitte der 1920er-Jahre mit der Entstehung des Brith Schalom in Jerusalem endet, stehen sieben Protagonisten im Mittelpunkt: Hugo Bergmann, Max Brod, Hans Kohn, Leo Herrmann, Hugo Herrmann, Franz Kafka und Robert Weltsch. Die Studie versteht sich als prosopographische Arbeit und stellt „ideelle und politische Komponenten der soziokulturellen Lebenserfahrungen“ (S. 11) der genannten sieben Persönlichkeiten vor. Von diesen Männern erinnerte sich Hugo Bergmann folgendermaßen an seine Jugend als Jude und Zionist in der Dreivölkerstadt Prag zu Beginn des 20. Jahrhunderts: „Wir haben Prag als Brückenstadt in unser Herz aufgenommen und haben die Funktion der Vereinigung der Gegensätze auszuüben versucht. Und es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass böhmische Juden die Träger des Brith-Schalom-Gedankens waren.“ ((Hugo Bergmann an Dr. Kurt Wehle, Brief vom 22. Januar 1974, in: ders., Tagebücher und Briefe, hrsg. v. Miriam Sambursky und Jochanan Ginat, Königstein im Taunus 1985, Bd. 2, S. 698.))

Shumsky untersucht ebendiesen Zusammenhang zwischen dem zionistischen Studentenverein Bar Kochba in Prag um 1900, das geprägt war von einem multikulturellen Mit-, aber auch Gegeneinander von Deutschen, Juden und Tschechen, und dem politischen Programm des 1925 in Jerusalem gegründeten Brith Schalom. Dessen Mitglieder, die zu einem großen Teil schon im Bar Kochba ideologisch führend gewesen waren, setzten sich für eine binationale Lösung des jüdisch-arabischen Konfliktes ein.

Shumsky untersucht den soziokulturellen Kontext der Bar Kochba- und späteren Brith Shalom-Mitglieder und konfrontiert dieses Alltagsleben mit ihren schriftlichen Zeugnissen. Entsprechend der unterschiedlichen Tätigkeiten der sieben Personen befasst sich der Autor mit Quellen unterschiedlichster Gattungen, unter anderem programmatischen Schriften zur Ideologie des Bar Kochba, fiktionale Texte von Kafka und Brod sowie Entwürfe für eine politische Gestaltung Palästinas.

Die Schwäche bisheriger Forschungen identifiziert Shumsky darin, dass sie entweder germano- oder tschechozentrisch argumentierten. Demnach hätten sich die Prager Juden im deutsch-tschechischen Nationalitätenstreit für eine der beiden Nationalitäten entschieden und sich an diese akkulturiert. In dieser Lesart resultierte die Entstehung des Prager Zionismus somit aus dem Scheitern dieser Akkulturation; die Juden hätten dementsprechend versucht, sich als dritte Nationalität in Prag zu konstituieren. Folglich erscheint der Bar Kochba als ausgesprochen national-ethnisch ausgerichtete Gruppe, dessen Mitglieder als fanatische Anhänger eines jüdisch-partikularen Nationalismus ausschließlich auf das Wohl der jüdischen Nation bedacht gewesen seien. Aus dieser Schlussfolgerung ergibt sich jedoch ein analytisches Problem: Denn auch den Verfassern der Forschungsarbeiten blieb die Tatsache, dass führende Intellektuelle des Bar Kochba später auch die wortführenden Mitglieder des Brith Schalom waren, nicht verborgen. Als Mitglieder des Brith Schalom werden dieselben Männer von diesen Wissenschaftlern nun jedoch als Juden bzw. Zionisten beschrieben, die eine eher lose Beziehung zum partikularen Aspekt des jüdischen Nationalismus führten, also universalistisch anstatt national dachten.

Während diese widersprüchliche Erkenntnis durch die ethnozentrischen Ansätze der bisherigen Forschung ((U.a. Ruth Kestenberg-Gladstein, Die Anfänge des Bar Kochba, in Felix Weltsch (Hrsg.), Prag und Jerusalem, Jerusalem 1954, S. 86–110 (hebr.); Stuart Borman, The Prague Zionist Movement 1896–1914 (unveröffent. Diss., Universität Chicago, 1972); Scott Spector, Prague Territories. National Conflict and Cultural Innovation in Franz Kafka’s Fin de Siècle, Berkeley 2000; Hillel Kieval, The Making of Czech Jewry. National Conflict and Jewish Society in Bohemia 1870–1918, New York 1988. )) bisher nicht zufriedenstellend aufgelöst werden konnte, bietet Shumsky eine überzeugende neue Argumentation: Er weist nach, dass die bisher konstatierte Trennung der deutschen von der tschechischen Sphäre im Alltag der Bevölkerung weitaus weniger strikt war, als es der politische Nationalitätenkonflikt nahelegt. Den Ausgangspunkt zu dieser These bildet die Zweisprachigkeit: Er arbeitet deutlich heraus, dass die sieben Männer in ihrem Alltag bilingual agierten und leitet daraus eine tschecho-deutsche Identität dieser führenden Vertreter des Prager Zionismus ab. Diese Identität habe sie als Vermittler zwischen Deutschen und Tschechen prädestiniert. Anhand von programmatischen Schriften und der Ideologie des Bar Kochba argumentiert Shumsky, dass sich diese Intellektuellen aufgrund ihrer doppelten Identität stärker mit den Möglichkeiten einer nationalen und kulturellen Autonomie verschiedener Völker im Rahmen eines multinationalen und föderativen Imperiums wie der Habsburgermonarchie auseinandergesetzt hätten. Ein einflussreicher Ideengeber für diesen Binationalismus der Bar Kochba-Mitglieder sei dabei der Mährische Provinzialausgleich zwischen Deutschen und Tschechen im Jahr 1905 gewesen. So seien also die Wurzeln der binationalen Idee des später entstehenden Brit Schalom bereits in der Zeit der Habsburgermonarchie angelegt gewesen. Mit dieser Analyse erfolgreicher politischer Vorbilder der Bar Kochba- und Brith Schalom-Mitglieder gelingt es Shumsky auch, deren vorherrschende Charakterisierung durch einige ihrer Zeitgenossen als naive Träumer oder Utopisten, die mit ihrer Vorstellung von einer kulturellen Autonomie in einem multinationalen föderativen Rahmen im Gegensatz zu ihrer realen Umwelt gestanden hätten, gänzlich in Frage zu stellen (S. 18). Als mit dem Ende des Ersten Weltkriegs das multinationale Gefüge der Habsburgermonarchie zusammenbrach, transferierten die Prager Zionisten die binationale Idee in den Vorderen Orient, wo zu dieser Zeit eine politische Unklarheit herrschte, so dass multinationale Autonomiebestrebungen als zukünftige Gesellschaftsordnung nicht ganz aussichtslos erschienen. ((Diese These vom Transfer der binationalen Idee aus dem multinationalen Habsburgerreich in den Vorderen Osten ist dabei nicht neu, sondern wurde bereits formuliert von Yfaat Weiss, Central European Ethnonationalism and Zionist Binationalism, in: Jewish Social Studies 1, Nr 1 (2004), S. 93–117.))

Insgesamt legt Dimitry Shumsky eine überzeugende Analyse der komplexen und verwirrenden soziokulturellen Realität der jüdischen Bevölkerung im Prag der Jahrhundertwende vor, da er die Widersprüche zwischen deutschem und tschechischem Zugehörigkeitsgefühl mit seiner doppelten Identitätskonstruktion von tschecho-deutschen Juden nachvollziehbar verhandeln kann. Die Darstellung der Zweisprachigkeit im Alltag der sieben Hauptfiguren, die sich im Fremdsprachenunterricht, in der Nachbarschaft und in der Familienherkunft manifestierte, überzeugt insbesondere für Hugo Bergmann, dessen Biographie und Werk den größten Raum einnimmt. Nichtsdestotrotz kommt auch Shumsky nicht umhin, die in sich widersprüchlichen Selbstaussagen der Prager Zionisten über die Trennung der Nationalitäten in ihrer Heimatstadt zu erwähnen. Zu nennen wäre vor allem Hans Kohn, der in seiner Autobiographie von der “freiwilligen Segregation” zwischen Deutschen und Tschechen berichtete und sich generell in der deutschen Kultur verortet sah. ((Hans Kohn, Bürger vieler Welten, Frauenfeld 1965, S. 26.)) Shumsky interpretiert diese Aussagen als Beschreibungen der Gesamtgesellschaft im Allgemeinen und beschreibt Kohn dennoch als „ausgesprochen tschecho-deutschen Juden“ (S. 82). Diese Identitätszuschreibung ist dabei durch die Selbstbeschreibung nicht gedeckt – Kohn bezeichnete sich allenfalls als Österreicher – und erscheint in diesem Fall als undifferenzierte Ausweitung bestehender Alltagskontakte auf das Selbstverständnis insgesamt. Bedenkt man, dass es sich bei den ausgewählten Personen um Intellektuelle handelte, die vielzählige Abhandlungen unterschiedlichster Couleur verfassten, erscheint die Auswahl der Texte als sehr selektiv. Ein deutlicheres Eingehen auf ambivalente Selbstzuschreibungen wäre der komplexen Identität dieser Männer hier gerechter geworden.

Ungeachtet dieses Kritikpunktes bietet Shumsky einen das Forschungsfeld zum deutschsprachigen Zionismus und jüdischen Binationalismus bereichernden neuen Erklärungsansatz, der dem politischen Denken der Prager Zionisten durchaus gerecht wird: Ihr Zionismus galt nicht der Errichtung eines homogenen Nationalstaates, sondern einer multinationalen Gesellschaftsordnung. Dieses Bemühen war dabei keineswegs naiv oder utopisch, sondern zeitweise realitätsnaher als das Ringen um souveräne monoethnische Nationalstaaten.

Shumsky, Dimitry: Zweisprachigkeit und binationale Idee. Der Prager Zionismus 1900-1930 (= Schriften Des Simon-Dubnow-Instituts) [Übers. v. Dafna Mach]. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012, 336 S., EUR 59,99, Bestellen?

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