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„Die Erstellung des Ghettos ist selbstverständlich nur eine Übergangsmaßnahme…“

Das Yad Vashem Lexikon über die Stätten des Leidens und Sterbens der europäischen Juden liegt nun auch in deutscher Sprache vor…

Eingang zum Ghetto in Stanislawow: „Jüdischer Wohnbezirk. Befahren und Betreten verboten!“ Die Nationalsozialisten gaben dem historischen Begriff Ghetto eine völlig neue und grundlegend andere Bedeutung und schufen damit ein Synonym für die Kontrolle, Ausbeutung und die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung. Das erste dieser urbanen Internierungslager entstand am 20. Dezember 1939 in der polnischen Kreisstadt Piotrkow Trybunalski (Bezirk Lodz). Dort lebten 10.300 Juden; das entsprach rund 20 Prozent der Gesamtbevölkerung. Ab sofort mussten alle jüdischen Bewohner Armbinden mit dem blauen Davidstern tragen und wurden zur Zwangsarbeit herangezogen, entweder direkt im Ghetto, in separaten Arbeitslagern oder in der Landwirtschaft.

Obwohl immer wieder Deportationen stattfanden, erhöhte sich die Anzahl der Bewohner durch die Ankunft weiterer Juden aus den umliegenden Ortschaften bis zum Herbst 1942 auf fast 25.000 Personen. Am 13. Oktober 1942 umstellten SS- und Polizeieinheiten das jüdische Wohngebiet und trieben die Menschen auf einem Platz zusammen. Anschließend durchkämmten die Polizisten die Häuser und ermordeten alle, die sich dem Befehl widersetzt hatten und in den Häusern verblieben waren. Die Deportationen zogen sich über einige Tage hin; etwa 22.000 Juden wurden ins Vernichtungslager Treblinka verschleppt. Nur Wenige konnten sich verstecken oder flüchten. Andere mussten weiterhin Zwangsarbeit leisten. Im Mai 1943 stellten die Deutschen am Bahnhof ein Schild mit der Aufschrift „Piotrkow Trybunalski – Judenrein“ auf.

Bild: Eingang zum Ghetto in Stanislawow: „Jüdischer Wohnbezirk. Befahren und Betreten verboten!“ Links ein ukraninischer Wachtposten; hinter der Ansperrung ein jüdischer Ghettopolizist. Repro: aus dem besprochenen Band (Yad Vashem Archive)

Weit über ein halbes Jahrhundert nach dem deutschen Angriff auf Polen und dem Beginn des 2. Weltkriegs musste vergehen, bis ein hochkarätiges Team von Wissenschaftlern unter der Leitung des „Institute for Holocaust Research Yad Vashem“ mit der systematischen Erforschung und Dokumentation der mehr als 1.100 Ghettos in Osteuropa beauftragt wurde. Im Oktober 2009 legten die Historiker die englische Ausgabe des zweibändigen Werkes „The Yad Vashem Encyclopedia of the Ghettos During the Holocaust“ vor. Die detaillierten Einträge umfassen weit über 1.000 Seiten.

In alphabetischer Reihenfolge sind zahlreiche Ghettos, auch in kleineren Orten, aufgeführt, in denen die europäischen Juden während des Zweiten Weltkriegs gefangen waren und ausgebeutet, erniedrigt und letztlich ermordet wurden. Zu den bekannten Namen wie etwa Warschau, Lodz, Wilna, Minsk und Riga finden auch kleinere Ghettos, die entweder nur für kurze Zeit existierten oder nahezu unbekannt sind, Eingang in die Enzyklopädie. Dafür steht beispielsweise das Städtchen Zbaraz im Bezirk Tarnopol. Nach dem Überfall auf Polen flüchteten sich Hunderte Juden aus den westlichen Regionen des Landes nach Zbaraz, das zu dieser Zeit unter sowjetischer Besatzung stand. Noch vor dem Einmarsch der deutschen Truppen im Juli 1941 verübten nationalistische Ukrainer Pogrome. Ein Jahr später wurde ein Ghetto eingerichtet, in das man auch Juden aus der Umgebung verschleppte. Immer wieder kam es zu sogenannten Aktionen oder Deportationen in das Vernichtungslager Belzec. Die letzten Bewohner wurden im Juni 1943 von einer deutschen Polizeieinheit erschossen.

Deportation der Juden aus dem Ghetto Sieradz (Bezirk Lodz)
Deportation der Juden aus dem Ghetto Sieradz (Bezirk Lodz), Repro: aus dem besprochenen Band (Yad Vashem Archive)

Die lexikalischen Einträge geben Auskunft über die jeweiligen Ghettos, beschreiben den Alltag der Bewohner, den Aufbau und die Führungsstruktur und schildern den Terror sowie die Mordaktionen. Außerdem wird über Widerstandsaktionen und die Anzahl der Überlebenden informiert. Zusammen mit den einführenden Texten informiert das Lexikon mit seinem umfangreichen Glossar und Ortsverzeichnis – zumindest für die größeren Ghettos – über das jüdische Leben vor dem Krieg. Besonders interessant ist der Beitrag von Dan Michmans, der die Einrichtung der Ghettos zwar als eine Verschärfung der „Judenpolitik“, nicht aber als unausweichliche Vorstufe zur „Endlösung“ betrachtet und damit eine neue Perspektive auf die Einordnung der nationalsozialistischen Ghettos eröffnet.

Die Yad Vashem Enzyklopädie der Ghettos während des HolocaustSchon mit der englischen Ausgabe der „Enzyklopädie der Ghettos während des Holocaust“ wurde eine Lücke in der Forschung geschlossen. Mit der deutschen Übersetzung wird nun auch eine breitere Leserschaft im „Land der Täter“ und insbesondere auch außerhalb des Wissenschaftsbetriebes hierzulande erreicht. Wer Fundiertes über das System Ghetto und die perfiden Formen der Vernichtung des jüdischen Lebens in Europa erfahren will, für den wird dieses sorgfältig recherchierte und fachlich auf hohem Niveau stehende Nachschlagewerk unverzichtbar sein. (jgt)

Guy Miron/Shlomit Shulhani (Hg.), Die Yad Vashem Enzyklopädie der Ghettos während des Holocaust, Göttingen 2014, 2 Bde., 1091 S., 246 Abb., geb., im Schuber, 99,- €, Bestellen?

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