„Seit Ende des Zweiten Weltkriegs stelle ich mir selbst oft die Frage, wie war es möglich, dass du überlebt hast, wenn so viele Deiner nächsten Angehörigen ermordet wurden?“ Diese Frage ist wie keine andere charakteristisch für die Erlebnisse, die der 1928 im österreichischen Baden als Sohn jüdischer Eltern geborene Karl Pfeifer in seinem autobiographischen Buch festgehalten hat…
Referat für Internationales, HUch! Nr 76, Zeitung der studentischen Selbstverwaltung
Das Sujet des Buches umfasst gerade mal die Zeitspanne von den ersten 23 Jahren seines Lebens, erzählt aber Unglaubliches: die Kindheit und die Flucht aus Österreich nach Ungarn, die erneute Flucht aus Ungarn nach Palästina, das Leben im sozialistisch-zionistischen Kibbuz, die Gründungsjahre Israels, den Unabhängigkeitskrieg, in dem Karl Pfeifer als israelischer Soldat gekämpft hat, und schließlich die Rückkehr in das Nachkriegs-Europa.
Immer wieder wird deutlich, mit welch schierem Glück der Autor dem Tod entrinnen konnte – als Kind den Fängen der nationalsozialistischen Apparate und als Jugendlicher den anrückenden arabischen Armeen.
Dass Karl Pfeifer „nicht dazu gehört“ wurde ihm zum ersten Mal verdeutlicht, als er am Anfang der 30er Jahre in Baden eingeschult wurde. Die Idylle der Kindheit bekam ihre ersten Risse, als er von seinen nicht-jüdischen Mitschülern und Mitschülerinnen mit dem Geleit der Lehrer antisemitisch beschimpft, ausgeschlossen und auf dem Nachhauseweg abgepasst wurde. Nach dem Anschluss Österreichs an Deutschland 1938 gelang den Eltern nur mit Mühe und Not die illegale Ausreise nach Ungarn. In Ungarn gestaltete sich der Neuanfang nach der Enteignung in Österreich zwar schwierig, doch fühlten sich Vater Ludwig und Mutter Margit, beide gebürtige Ungarn, auf Anhieb heimisch. Bald erwies sich jedoch auch dies als trügerisch – die rechtsextremen Bewegungen gewannen durch den Einfluss des immer stärker werdenden Deutschlands immer mehr Macht im monarchischen Ungarn unter der Führung Miklós Horthys. Mit der Unterstützung des Monarchen und der Kirche wurden noch im selben Jahr, als die Familie Pfeifer in das Land einwanderte, das erste der drei sogenannten „Judengesetze“ erlassen. Es wurde zunächst eine Maximalquote von Juden und Jüdinnen in angesehenen Berufen, später das Jüdischsein selbst (ein Elternteil oder zwei Großeltern) und letztlich das Verbot von Beziehungen zwischen JüdInnen und NichtjüdInnen festgelegt – das alles viele Jahre vor dem deutschen Einmarsch in Ungarn.
Nichtsdestotrotz hielt der Vater repräsentativ für die anderen ungarischen Jüdinnen und Juden Ungarn die Treue. Er, der mit einer Medaille ausgezeichnet wurde dafür, dass er im ersten Weltkrieg als Offizier für Ungarn kämpfte, war wie die anderen der Überzeugung, dass diese Gesetze ein notwendiges Übel wären um dem mächtigen Deutschland entgegenzukommen. Der starke Patriotismus, der unter den ungarischen Jüdinnen und Juden verbreitet war, ließ sie glauben, dass in Ungarn so etwas wie in Österreich nicht geschehen könne.
Anders verhielt es sich mit dem jungen Karl Pfeifer – „Wenn ich auch in Budapest als Jude beschimpft wurde, wo gab es da einen Unterschied zu Österreich? Da halfen alle Beteuerungen der lieben Verwandten nicht, das sei ja nur der Pöbel, der da schimpft. […] Ich war und blieb ein Ausgeschlossener“ (S. 30). Anstatt seine jüdische Identität hinter den ungarischen Patriotismus zu stellen, teilte er die Hoffnungen seiner Freunde und Verwandten nicht und schloss sich der zionistisch-sozialistischen Jugendbewegung Schomer Hazair an, die ihm schließlich 1943, ein Jahr vor der deutschen Besatzung Ungarns, die Ausreise nach Palästina und somit das Überleben ermöglichte.
Es war ein Kindertransport, den unter anderem die ungarische Regierung als wohlwollendes Zeichen gegenüber den Alliierten setzen wollte, das 50 jüdischen Kindern aus Ungarn die Emigration nach Palästina ermöglichte. Neben Ungarn, Bulgarien und Rumänien war selbst Deutschland an einem Austausch von 5000 jüdischen Kindern aus den von Deutschland besetzten Gebieten gegen 20 000 deutsche Kriegsgefangene der Alliierten interessiert. Hier begegnet Karl Pfeifers Geschichte zum ersten mal einer Figur, die noch mehrmals eine Rolle spielen sollte – Mohammed Amin al-Husseini, dem „Großmufti von Jerusalem“. Der Mufti, Initiator des „arabischen Aufstands“ von 1936 gegen jüdisches Leben in Palästina, glühender Anhänger der Nazis, Mitglied der Waffen-SS und Kumpane Heinrich Himmlers, protestierte vehement gegen den Transport. Er ließ seine Beziehungen zu Himmler spielen und schrieb an die Regierungen Ungarns, Rumäniens und Bulgariens Briefe, in denen er darum bat, die Kinder nicht nach Palästina, sondern in die Vernichtungslager nach Polen zu schicken, was eine „dankbare Tat dem arabischen Volke gegenüber“ (S. 44) sein würde.
Schließlich waren es nur etwa 175 Kinder, die 1943 legal die Reise antraten, zu denen auch Karl Pfeifer gehörte. Trotz permanenter Gefahr, von den Durchreiseländern aufgehalten, von der Gestapo aufgespürt oder von den Briten nicht nach Palästina hineingelassen zu werden, schaffte es Karl Pfeifer mit seiner Gruppe über die rettende Grenze in das Gelobte Land. Außer seinem Bruder überlebte keiner seiner Verwandten die Shoah.
Einen großen Teil des Buches widmet Karl Pfeifer der Beschreibung des Lebens im Kibbuz „Shaar Haamakim“ in der Nähe von Haifa. Er erzählt vom streng geregelten Tagesablauf, der harten landwirtschaftlichen Arbeit und vom ideologischen Spagat, den man als sowjettreuer Sozialist und Zionist in der Mitte der 40er Jahre schlagen musste: Stalin war in allen Fragen Recht zu geben, außer in der Frage des Zionismus. Der Glaube an die sowjetische Revolution und daran, dass es in Russland keinen Antisemitismus gäbe, hielt auch dann der Realität stand, als aus Russland emigrierte Juden und Jüdinnen von Ausschluss und Verfolgung berichteten.
Karl Pfeifer trat 1946 der Palmach, einer Elitetruppe der Hagana (jüdische Verteidigungsorganisation in Palästina bis 1948) bei und kämpfte im Unabhängigkeitskrieg von 1948 im Negev gegen die aus dem Süden anrückende ägyptische Armee. Hier geschah es, dass er mit dem Großmufti von Jerusalem erneut in Berührung kam. Dieser war Gründer des „Arab Higher Committee“, der zentralen politischen Organisation der arabischen Community im Mandatsgebiet Palästina, die nun Streitkräfte im Kampf gegen Israel aufstellte. Unter anderem half der Mufti deutschen Soldaten aus der Kriegsgefangenschaft zu entfliehen um sie zusammen mit Soldaten der polnischen Armee und muslimischen Waffen-SS-Angehörigen aus Bosnien zu rekrutieren.
Eine aus eben diesen bosnischen Muslimen zusammengesetzte Truppe lockte Pfeifer und einen Kameraden in einen Hinterhalt, aus dem er mit viel Glück unversehrt entkam, während sein Gefährte tödlich am Hals getroffen wurde. Wie viele Jahre zuvor, als der Mufti sich bemühte den Kindertransport, dem auch der Autor angehörte, in die Todeslager umzuleiten, schaffte er es auch diesmal nicht, sein Leben auszulöschen. Während seines Dienstes als israelischer Soldat durchlebte Karl Pfeifer viele ähnlich lebensgefährliche Situationen, sah andere fallen und wurde selbst verwundet.
Die Motivation der Zionisten und Zionistinnen mitunter gegen ihre ehemaligen Peiniger in einem bewaffneten Kampf anzutreten, trug mit Sicherheit zum Triumph der zahlenmäßig weit unterlegenen jüdischen Truppen gegen die feindlichen Armeen im März 1949 bei. Das Buch verdeutlicht den Wahnwitz dieses Krieges: viele der jüdischen Soldaten waren wie Karl Pfeifer erst vor kurzem aus Europa dem sicheren Tod nur knapp entflohen um nun erneut ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Der israelischen Armee war im Gegensatz zu der arabischen klar, dass keine Verluste leichtfertig hingenommen werden konnten.
Nur in Kürze wird auf den letzten Seiten des Buches die schwierige Situation im Nachkriegs-Israel und die Rückkehr des Autors nach Österreich umrissen. Das ist vor allem deswegen schade, da der seit den 80ern als Journalist arbeitende Karl Pfeifer den Kampf gegen den Antisemitismus nicht nach seiner Auswanderung aus Israel liegen ließ, sondern ihn bis heute fortführt. Ohne Frage wüsste er vieles über den österreichischen und ungarischen Postfaschismus zu berichten – dies bleibt, solange es nicht als Buchform erscheint, weiterhin in seinen Artikeln in der deutschen und ungarischen Presse nachzulesen.
„Sei immer stolz ein Jude zu sein“ (S. 11) schrieb Bruder Erwin, der sich schon früh nach Palästina absetzte, in einer Postkarte, die er Karl Pfeifer zu seinem neunten Geburtstag schickte. Es wirkt paradox, dass die Verinnerlichung dieses Appells dem Autor das Leben rettete und das in einer Zeit, in der die Zuschreibung „jüdisch“ zu sein oft einem Todesurteil gleichkam.
Das Buch beschreibt in simpler Form die eigentlich unbegreifliche Tatsache, wie viel Entschlossenheit, Misstrauen und nicht zuletzt Glück notwendig war um als europäische/r Jude oder Jüdin die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zu überleben. Karl Pfeifer ist einer der wenigen, die auf die Versprechen ihrer späteren Henker nicht hereingefallen und den Antisemitismus nicht unterschätzt haben. Dies war eine notwendige, aber zumeist trotzdem nicht hinreichende Bedingung für das Überleben.
Für die Gründung Israels wurde das Misstrauen gegenüber der Abhängigkeit von anderen Staaten zur bis heute gültigen Staatsraison. Dass die Feindschaft, die Israels Nachbarländer dem jüdischen Staat entgegenbrachten und -bringen, nicht scharf von der Judenfeindschaft der Nazis zu trennen ist, wird im Buch ausführlich kommentiert.
Nicht zuletzt ist es aber auch die persönliche Geschichte Karl Pfeifers und die vielen lebendigen, tragischen und auch fröhlichen Anekdoten aus seiner Jugend, die den Leser und die Leserin in Momente der Geschichte versetzen, von denen immer weniger Menschen berichten können.
Karl Pfeifer, Einmal Palästina und zurück. Ein jüdischer Lebensweg, Edition Critic, 162 S., Euro 18,00, Bestellen?
Danke, schön geschrieben!