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Zu Aharon Appelfelds 80. Geburtstag erscheint sein autobiographischer Roman „Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen“…

„Seit der Krieg vorbei war, lebte ich in einer nicht enden wollenden Müdigkeit.“ Der Protagonist Erwin hat die Schoa, die Kriegswirren, Hunger und Einsamkeit überlebt, aber seine Seele verlangt nach Schlaf. So schläft er tagelang, wird von anderen Überlebenden mitgenommen, getragen, vergessen, wieder aufgesammelt.

Es ist Aharon Appelfeld großes Thema, wie Kinder und junge Menschen die Schoa überleben, wie ihre Seelen dem Trauma begegnen. Appelfeld, der am 16. Februar 1932 in Czernowitz geboren wurde, überlebte selbst im Ghetto, im Lager und schließlich alleine in den ukrainischen Wäldern. Nach dem Krieg kam er über Italien nach Palästina und erlebte dort Staatsgründung und Aufbauphase Israels.

Auch Erwin geht diesen Weg. In Neapel wacht er auf und schließt sich einer Gruppe Jugendlicher an, die auf die Alija nach Palästina vorbereitet wird. Dauerlauf am Strand und das Erlernen der hebräischen Sprache können den Schlaf zurückdrängen, immer wieder muss Erwin sich jedoch eine Auszeit erbitten und verfällt in einen mehrtägigen Tiefschlaf.

Im Schlaf begegnet er seinen Eltern, der Familie, er kehrt zurück in seine Kindheit und wird sich der Entfremdung zunehmend bewusst. Es ist eine Entfremdung von sich selbst, seinen Wurzeln und seiner Sprache. Der Zusammenhang von Sprache und Identität ist Appelfelds anderes großes Thema, das sich wie ein roter Faden durch sein Werk zieht. Auch in diesem jüngsten Roman ist Verlust der Sprache und das Erlernen und Erwerben einer neuen Sprache Mittlpunkt der Handlung.

In Palästina wird Erwin für den Krieg ausgebildet. Im ersten Einsatz wird er verletzt und kann seine Beine nicht mehr bewegen. Ans Bett gefesselt beschließt er, den Weg seines Vaters fortzusetzen und Schriftsteller zu werden. Die Sprache der Eltern muss er dazu hinter sich lassen und eine neue erlernen, die ihm ermöglicht, seine Identität einzufassen.

„Für diejenigen, die als Kinder überlebt hatten, war der Krieg ihr ganzes – bisheriges -Leben“, schrieb Aharon Appelfeld an anderer Stelle. „Sie konnten über den Holocaust nicht in historischen, theologischen oder moralischen Begriffen reden; sie konnten nur von Angst und Hunger berichten, von Farben, von Kellern und von Menschen, die sie gut oder schlecht behandelt hatten. Die Kraft ihrer Zeugnisse liegt gerade in diesem begrenzten Horizont.“ Die Kraft von Aharon Appelfelds literarischen Zeugnissen liegt in der Fähigkeit, dem Leser diese Ebene zu vermitteln –  mit diesem neuen Roman auf sehr persönliche Art und Weise, die deutlich macht, dass der Verlust von Kindheit, Eltern, Heimat und Sprache ein Leben lang prägt.

Bleibt nur, Aharon Appelfeld alles Gute zu seinem Geburtstag zu wünschen, Masal tov ad mea essrim! Wir sind gespannt, was seiner Feder noch entspringen wird. – al

Aharon Appelfeld, Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen, Rowohlt 2012, 288 S., Euro 19,95, Bestellen?

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