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Tödliche Realitäten

Buch zum Gedenken an Mawa El-Sherbini erschienen…

Von Lucius Teidelbaum

Am 1. Juli 2009 wurde in Dresden die 32-jährige aus Ägypten stammende Muslima Marwa El-Sherbini im Gerichtsgebäude von dem in Rußland gebürtigen Deutschen Alex Wiens mit 18 Messerstichen ermordet. Der Mörder hatte sein Opfer weil es Kopftuch trug, in einem vorangegangenen Streit auf einem Kinderspielplatz als „Islamistin“, „Schlampe“ und „Terroristin“ bezeichnet und dann nach seiner Verurteilung wegen Beleidigung auf sie unter dem Ruf „Du hast kein Recht zu leben!“ eingestochen. Der Mann der Angegriffenen, Elwy O., wurde von einem herbeigeeilten Polizisten „versehentlich“ angeschossen. Der dreijährige Sohn muss den Mord mit ansehen. Ein weiterer herbeigeeilter Helfer wurde mit drei Stichen schwer verletzt.

Die Opferberatung des RAA Sachsen e.V. hat kürzlich einen Sammelband im Gedenken an diesen Mord herausgegeben. Auf über 200 Seiten finden sich von 21 Autor_innen 18 Textbeiträge und ein Interview. Das Buch ist noch einmal unterteilt in die vier Bereiche „Die Tödliche Dimension gesellschaftlicher Zustände“, „Die Reaktionen“, „Die juristische Aufarbeitung“ und „Erwartungen und Perspektiven“.

Im ersten Teil, „Die Tödliche Dimension gesellschaftlicher Zustände“, widmen sich die Autor_innen dem Mord selbst und der Beschreibung rechter Gewalt, wie der herrschenden Umstände bis hin zur Beschreibung des Stadtviertels Dresden-Johannstadt aus dem der Täter und sein Opfer stammten.

Die Beschreibung des Mordes durch Alexander Schneider in dem Kapitel „Mord im Landgericht Dresden“ betrachtet auch die Vorgeschichte und gibt im Original den schriftlich formulierten Einspruch des Täters gegen seinen anstehenden Prozess wegen Beleidigung wieder. Die Lektüre dieses Zitates ist sehr erhellend, weil sie sich liest wie das Bekenntnis des Osloer Massenmörders Breivik, freilich ohne dessen intellektuelle Attitüde. Es finden sich jedenfalls neben vulgärrassistischen Aussagen auch einige einige spezifische Merkmale des antimuslimischen Ressentiments. Das Einspruchschreiben des Täters könnte sich so auch in einem Kommentar in dem rassistischen Hetzblog PI-News finden. Es ist aber unbekannt woher der Täter sich mit seinem Hass versorgt hat bzw. inspiriert wurde. Trotzdem widmet sich das Buch auch der organisierten Szene der Moslemfeinde. Ulli Jentsch vom APABIZ in Berlin verschafft in seinem Beitrag „Antimuslimischer Rassismus – Das Schlachtfeld der Neuen Rechten“ dem/der Leser_in einen guten Überblick. Allerdings geht er trotz seiner Überschrift in seinem Text nicht noch einmal darauf ein, was er unter dem Begriff „Neue Rechte“ genau versteht. Eine Bezeichnung, die immerhin mit sehr verschiedenen Bedeutungen gefüllt werden.

In „Sächsische Realitäten“ von Michael Nattke geht es um „Organisierte Neonazis und ihr gesellschaftliches Umfeld“. Hier macht der Autor darauf aufmerksam, dass die Landtagswahl alle vier Jahre nicht der Gradmesser einer nachhaltigen Veränderung sein sollte: „Erfolge sind nicht in abnehmenden Wahlergebnissen für die NPD zu messen, sondern an einer langsamen Veränderung der politischen Kultur.“ (Seite 59-60) Das der Mord an Marwa nicht der erste rassistische Mord in Sachsen war, entnimmt man den Fallschilderungen des Beitrages „(K)eine Frage der Wahrnehmung: die tödliche Dimension politisch rechts motivierter Gewalt“ von Heike Kleffner. Insgesamt gab es von 1990 bis 2011 zwölf Opfer rechter Gewalt in Sachsen und vier weitere dringende Verdachtsfälle. Unter den Fallbeschreibungen von rechten Morden in Sachsen findet sich auch bereits ein Fall von antimuslimischen Rassismus. Am 23. Oktober 1996 wurde der 30-jährige Achmed Bachir in Leipzig-Lindenau von einem Nazi-Skinhead erstochen. Dieser hatte zuvor mit seinem Freund in der Straßenbahn gepöbelt: „Diese Moslems stechen wir ab“.

Der zweite Teil des Buches, „Die Reaktionen“, befasst sich mit dem Geschehen nach dem Mord. Hier wird beleuchtet warum der Mord anfangs kaum von den deutschen Medien beachtet wurde und es erst eine Woche später in die Schlagzeilen schaffte. Grund ist, dass anfangs zu wenige Faktoren erfüllt waren, um die Nachricht „wertvoll“ erscheinen zu lassen. Erst als das ganze zum internationalen Politikum wurde, nachdem ägyptische Medien über den Fall berichtet hatten und es zu Protesten in Ägypten kam, wurde über den Mord in den Medien stärker berichtet. Am 12. Juli 2009 schaltete sich auch noch Ahmadinedschad, „Präsident“ des Irans ein, und versuchte den Mord für seine Zwecke zu instrumentalisieren.

Zuvor war der Fall häufig als „Nischenkonflikt zwischen Migrant_innen“ wahr genommen wurden und der Schwarze Peter wurde nicht den Deutschen, sondern den Russlanddeutschen zugeschoben. Tatsächlich kann man sich fragen, wieviel Hass der Täter in Deutschland erlernte und wieviel er aus Russland mitbrachte, von wo er 2003 kam. Die, in seinem Einspruchsschreiben, verwendeten Vokabeln wie „Satansgott“ hören sich jedenfalls im deutschsprachigen Raum eher fremd an. Trotzdem können der Täter und seine Motivation nicht einfach in seine Herkunftsstadt Perm in Sibirien weg verschoben werden. Sachsen ist keinesfalls frei von braunen Umtrieben. Da genügt ein kurzer Blick auf die aktuelle Zusammensetzung des Landtages. Wiens selbst bekannte stolz NPD-Wähler zu sein. Kein Wunder, im Gegensatz zu einigen Medien ist dem Täter nicht fehlende Integration, sondern die Überidentifikation mit dem nationalen Wir-Kollektiv vorzuwerfen. Wiens beging seine Tat eindeutig als deutscher Nationalist.

Die Beiträge von Dr. Sabine Schiffer und Floris Biskamp widmen sich dem Problem der Begrifflichkeit für die spezifische Feindschaft gegen Muslime und dem Umgang mit dem „Reden über das Reden über den Islam“ (Biskamp). Der Beitrag Biskamps stellt dabei eine überaus lesenswerte Kritik an den Thesen und Schriften von Personen wie Sabine Schiffer dar, die Kritik an problematischen Strömungen im Islam selbst unterlassen und anderen generell vorwerfen. Nach Biskamp mündet das in einer kritiklosen Affirmation des orthodoxen Islam. Biskamp schlägt im Gegensatz dazu vor, sich nach beiden Seiten hin Kritik zu bewahren: „Der autoritäre Hass gegen den Islam einerseits und die autoritären Gesinnungen im Islam andererseits bringen die kritische Forschung in eine Double-Bind-Situation“ (Seite 138) Der folgende Text „Nach dem Mord. Muslimische Frauen in Dresden“ ist ein Interview mit zwei Initiatorinnen des Frauentreffs für muslimische Frauen des Ausländerrat Dresden e.V. in Dresden-Johannstadt. Beim Lesen wird klar, dass als Muslime und „Fremde“ erkennbare Frauen in Dresden sehr häufig Anfeindungen im Alltag erleben mussten und müssen. Eine der Initiatorinnen, In-Am Sayad Mahmood, fasst ihre Forderung an die übrigen Dresdner_innen prägnant zusammen: „Ich erwarte Anerkennung, keine Toleranz.“ (Seite 152) Im letzten Beitrag dieses Buchteils geht es um „Das Konzept Opferberatung in Sachsen“. Hier wird klar das eine Organisation für die Opfer rechter Gewalt „parteilich für die Betroffenen“ arbeitet.

Im nächsten Teil des Buches geht es um „Die juristische Aufarbeitung“. In dem Beitrag „Suche nach Gerechtigkeit“ von Andrea Hübler geht es um den „Prozess um den Mord an Marwa El-Sherbini“. In diesem erhielt der Mörder eine lebenslange Haftstrafe, obwohl seine Verteidiger versuchten ihn als Psychopathen darzustellen, um damit eine geringere Strafe zu erreichen.

Im letzten Buchteil „Erwartungen und Perspektiven“ geht es um Ausblicke und Fazite. Mehrere Aktivisten stellen in dem Text „Messerstiche für Dresden“ ihren Verein „Bürger.Courage“ vor, der mit „interaktive Anonymität“ über Kunst und Aktionen im öffentlichen Raum Diskussionen anzustoßen und Diskurse zu beeinflussen versucht. Sein Projekt „18 Stiche“ zum Mord an Marwa El-Sherbini waren große im Boden steckende Betonskulpturen in Messerform, die den quasi Stiche in die Haut Dresdens darstellten. Viele empfanden diese „Stiche“ aber ofenbar als unangenehm und ein Teil der Skulpturen durfte an belebten und wichtigen öffentlichen Plätzen nicht aufgestellt werden.

Der Text „In Dresden nichts Neues?!“ von Sebstian Vogel widmet sich kritisch dem Thema „Wie die Stadt Dresden mit dem Mord an Marwa El-Sherbini umging“. Der Autor beklagt das gesellschaftliche Desinteresse an dem Mord: „Ernüchtert zieht man das Fazit, dass Dresden noch heute mit dem Mord an Marwa El-Sherbini nicht umgehen kann. […]; die Mehrheit der Dresdner Bevölkerung steht dem Tod von Marwa El-Sherbini in beschwichtigendem Desinteresse gegenüber und beklagt zu allererst die negative Außenwirkung der Tat für das Image der Stadt; […].“ (Seite 208) Auch die Politik reagierte nach Sebatian Vogel kaum auf den Mord: „Was als unmittelbare Reaktion auf die Tat jedoch aus dem Dresdner Rathaus folgte, war ohrenbetäubendes Schweigen: kein Appell, kein Denkmal, keine Debatte.“ (Seite 209)

Dieses Verhalten führt Vogel auf den in Dresden vorherrschenden konservativen Geist zurück, die zu der Selbstinszenierung als „weltoffen“ konträr verläuft: „Dresden ist und bleibt in vielen »einheimischen« Köpfen die Stadt des zerstörten und wieder aufgebauten barocken Zentrums, des über Jahrhunderrte gesammelten Kunstreichtums und der sächsischen Kurfürsten, Könige und Ministerpräsidenten. Dresden rechtfertigt und erwirbt einen Großteil seiner momentanen Ausstrahlung und seines Lebensinhaltes im Blick zurück in seine Vergangenheit. Die damit einhergehende Schwierigkeitz scheint darin zu liegen, dass für die Mehrheit der Dresdnerinnen und Dresdner das reale Zusammenleben in dieser Stadt weitaus weniger wichtiger ist als das über Jahrhunderte erworbene Image ihrer Stadt. Weltoffenheit wird propagiert, aber nur in seltenen Fällen gelebt und vorgelebt.“ (Seite 210)

Leider entging den Buchautor_innen ebenso wie fast allen Medien ein wichtiger Aspekt der Tat. Der Täter hasste „Ausländer“ allgemein und Muslime im Besonderen, aber das Opfer seines Hasses war zudem auch noch eine Frau. Bereits bei der vorausgegangenen Beschimpfung auf dem Spielplatz wurde das Opfer als „Schlampe“ bezeichnet, also mit einer sehr geschlechtsspezifischen Beschimpfung. Häufig tritt Sexismus weniger konkret auf, aber nach der Beschreibung des Täters entsteht die dringende Vermutung, dass der Täter es für besonders schmachvoll empfand, dass ausgerechnet eine Frau für seine Verurteilung gesorgt hat.

Trotzdem ist das Buch eine dringende Leseempfehlung, besonders für alle Dresdner_innen.

Opferberatung des RAA Sachsen e.V. (Hg.): Tödliche Realitäten. Der rassistische Mord an Marwa El-Sherbini, ISBN: 978-3-00-034794-8
Das Buch ist kostenlos und kann in den Büros des RAA Sachsen e.V. abgeholt oder gegen Übernahme der Portokosten unter projekt(at)raa-sachsen.de bestellt werden.

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