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Baedeker der Vernichtung

Als die Häftlinge nach der Befreiung aus den KZs in ihre Heimat zurückkehrten und ihre Erlebnisse veröffentlichten, wählten sie oft das Erzählmuster des Berichts einer Reise in eine fremde exotische Welt, eine grauenvolle Strafkolonie mit perversem Reglement, absurder Logik, irreführendem Neusprech…

Von Daniel Krochmalnik

David Rousset nannte diese moralische Antipode „Univers concentrationnaire » (1946), Robert Antelme beschrieb eine Welt, die sich wild und grausam gegen die Lebenden richtete und dem Tod ruhig und gleichgültig gegenüberstand“ (L’espèce humaine, 1949), sogar der trockene Eugen Kogon verglich das KZ in seinem SS-Staat (1946) mit dem Inferno Dantes. Diese Assoziation kam Tätern wie Opfern ständig in den Sinn. So kommentiert der ehemalige Kommandant von Sobibor und Treblinka, Franz Stangl, im Gespräch mit Gitta Sereny seine Ankunft in Treblinka so: „Es war Dantes Inferno (…). Dantes Inferno war Wirklichkeit geworden (TB, S. 181). Der Chronist des Sonderkommandos von Auschwitz, Salmen Gradowski, benannte seine Flaschenpost von der „Todesinsel“ nach Josef Conrads Bestseller „In Harz fun Gehenem“.

Der ehemalige Sek Alexander Solschenizyn hat für das „sonderbare Land GULAG“ die Metapher des Archipels gefunden „das die Geographie in Inseln zerrissen, die Psychologie aber zu einem festen Kontinent zusammengehämmert hat, jenem fast unsichtbaren, fast unspürbaren Land, welches besiedelt ist von Volk der ‚Seki’. Das Inselland ist eingesprenkelt in ein anderes, das Mutterland. Kreuz und quer durchsetzt es seine Landschaft, bohrt sich in seine Städte, überschattet seine Straßen – und trotzdem haben manche nichts geahnt, viele nur vage etwas gehört, bloß die Dortgewesenen alles gewusst“ (Prolog). Obgleich die „Zone“ auf keiner Landkarte verzeichnet war, kannte sie jeder – jeder sollte sie kennen, denn sie war für die Insassen, nicht weniger als für die, die nicht einsaßen, der Ort des Terrors. Dennoch sind mühsame Recherchen notwendig, um den Archipel zu kartographieren. Nicht zufällig beginnt Frank Westermanns Buch über Stalins kolossale Wasserbauwerke und ihre Zwangsarbeiterlager vor einer irreführenden Karte der Sowjetunion (Ingenieure der Seele, TB 2005, 12 f.). Dass man als deutscher Tourist oder Kolonist ins Epizentrum des Zivilisationsbruchs reisen konnte, ohne davon Notiz nehmen zu müssen, beweist der Baedeker Generalgouvernement anno diaboli 1943. Es zeichnet die Utopie eines „judenfreien“ Polen, während die Vernichtung der jüdischen Gemeinden der beschriebenen Orte gerade auf Hochtouren lief. Über die frühere Vorstadt Kazimierz heißt es z. B., „die 1335 durch König Kasimir vor den Toren Krakaus angelegt wurde und Krakau überflügeln sollte (ursprünglich sogar Sitz der Universität) später jedoch z. T. Wohnsitz der jüdischen Bevölkerung Krakaus (jetzt judenfrei)“ (S. 50). Soviel konnte Baedeker über das südlich davon, jenseits der Weichsel gelegene Podgórze, wo das Ghetto von Krakau war, noch nicht melden. Während sein Bandbearbeiter Oskar Steinheil im Herbst 1942 das  Generalgouvernement bereiste, lief dort gerade die zweite große Liquidierungsaktion. Deshalb vermerkt er nur den deutschen Anspruch, indem er daran erinnert, dass Josef II. diese Vorstadt im „österreichischen Gebietanlegen ließ (S. 51).

Nun haben Wolfgang Benz, der ehemalige Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin, und Barbara Distel, die ehemalige Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau den Baedeker der Vernichtung nachgeliefert, der dem Ruf der Unfehlbarkeit des legendären Reiseführers gerecht wird.

Im neunbändigen Atlas des nationalsozialistischen Konzentrations- und Zwangslagersystems, Ort des Terrors, verzeichnen und beschreiben 300 Autoren die 23 Stammlager und ihre ca. 1000 Außenlager. Nicht gerechnet die 1100 bis 1200 Ghettos, die 177 Zwangsarbeitslager der Organisation Schmelt für Juden in Schlesien und Sudetenland, die 750-800 Zwangsarbeitslager für Juden in den besetzten Ostgebieten, die unzähligen Polizeihaftlager und Arbeitserziehungslager, Zigeunerlager, Jugendschutzlager, die rund 30 000 Fremdarbeiterlager, die ungezählten Kriegsgefangenenlager, sowie die oft genauso grausam geführten Lager der Verbündeten Deutschlands, die im Band Bd. 9 behandelt werden. Die Herausgeber ziehen Bilanz: „Kaum einen Ort im Deutschen Herrschaftsbereich gab es schließlich, an dem nicht ein Lager existierte“ (Dachauer Hefte 25, S. 301).

Wenn man sich in seiner eigenen Umgebung orientieren mag, muss man nur den Band zum nächstgelegenen Stammlager aufschlagen und findet auf der Innenseite des Umschlags alle KZs verzeichnet. Für den in Heidelberg wohnhaften Rezensenten wäre z. B. das Stammlager Natzweiler-Struthof im Elsass das nächstgelegene KZ gewesen. Es ist aber nicht nötig in die Vogesen zu reisen, um die ehemalige Todeszone zu betreten. Überall am Neckar von der Quelle bis zur Mündung lagen Außenlager von Natzweiler-Struthof. Dem Metalemma Natzweiler-Struthof von Robert Steegmann, der sich mit seinem Standardwerk La Nuée Bleue als bester Kenner dieses „Spiralnebels“ ausgewiesen hat (2005, dt. v. P. Geiger, Das Konzentrationslager Natzweiler-Struthof und seine Außenkommandos an Rhein und Neckar 1941-1945, 2010), folgen 53 Beiträge in alphabetischer Reihenfolge zu den einzelnen Lagerstandorten im Elsass, in Baden, Hessen und Rheinland-Pfalz (Bd. 6, 48-190). Im letzten Kriegsjahr schufteten in den „Neckarlagern“ tausende von Häftlingen bei der Untertagverlegung der Kriegsproduktion und bei der Gewinnung von Treibstoff aus Ölschiefer. Im Ländle gab es sogar ein kleines Todeslager, in Vaihingen/Enz.

Hier wurden die arbeitsunfähigen Sklaven eingewiesen und der „Vernichtung durch Entkräftung“ überlassen (Steegmann 2010, 233). Die Beschreibung der Zustände in der vom Lagerarzt sogenannten  „Baracke der  Verreckenden“ entspricht der von Terrence de Pres beschriebenen Anatomie des Todeslagers: „Die Nazis setzten die Gefangenen bewusst und mit Absicht ihren Fäkalien aus. Sie benutzten Kot und Urin zum Angriff auf deren Leben und Würde“ (dt. 2008, 68). Merkwürdig schillert Der Neckar, wenn man sich diese ganze Sklavenwirtschaft in die romantische Landschaft hineindenkt: „In deinen Thälern wachte mein Herz mir auf/ Zum Leben, deine Wellen umspielten mich,/ Und all der holden Hügel, die dich/ Wanderer! Kennen ist keiner fremd mir.// Auf ihren Gipfeln löste des Himmels Luft/ Mir oft der Knechtschaft Schmerzen; und aus dem Thal/ Wie Leben aus dem Freudebecher/ Glänzte die bläuliche Silberwelle/“ (Hölderlin).

Mit dem Reiseführer von Benz/Distel lernt man auch anderswo seine Heimat mit anderen Augen sehen. Wer Soldau bisher mit den Augen von Georg Hermanowskis „Ostpreußen – Wegweiser durch ein unvergessenes Land“ sah, erfährt im letzten Beitrag des Werkes von Uwe Neumärker (Bd. 9, 612-621), dass die Kasernen der Stadt „als zentraler Ort des Terrors für Ostpreußen und als ‚Lernort’ für den Holocaust angesehen werden“ muss (612). Der Einsatzgruppenleiter Emil Otto Rasch und der erste Kommandant des Vernichtungslagers Chelmno, Herbert Lange, übten hier ihr Mörderhandwerk an polnischen Intellektuellen, katholischen Priestern, psychisch Kranken und Juden. Bis zu 20 000 Opfer wurden in den Wäldern der Umgebung von Soldau verscharrt. Wer die Vertreibung als Unrecht geißelt, wird daran erinnert, was ihr vorausging.

Für die Herausgeber ist „Ort“ aber nicht nur ein topographischer, sondern, wie der Singular schon ansagt, ein funktionaler Begriff, mit dem das KZ als Herrschaftsinstrument des nationalsozialistischen Systems charakterisiert werden soll. „Der Ausdruck ‚KZ’ wurde eine der Metaphern des Schreckens, mit denen die nationalsozialistische Diktatur ihren universalen Verfügungsanspruch über das Individuum – von dessen Demütigung bis zu seiner Vernichtung – durchsetzte.“ Wie sehr das KZ von Anfang an der „Ort des Terrors“ war, zeigt Band 2 über die frühen, wilden Lager. Auch wenn man mit Karin Orth eine Eskalation der Gewalt in den Lagern annimmt (Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte, Bd. 2, 2002, 97 ff.), so waren die Lager von Anfang an mörderisch, wie man in den instruktiven Beiträgen: „Berlin-Köpenick“ und „Columbia-Haus“ (Bd. 2, S. 43 u. 57) nachlesen kann.

Das hat damit zu tun, dass das Mordprogramm ein konstitutives Moment der nationalsozialistischen Theorie und Praxis war. Das Wort „Lager“ bezeichnete im NS-Deutsch ja keineswegs nur die Dystopie sondern auch die Eutopie. „Kinderlandverschickungslager“, „Schulungslager“, „Wehrertüchtigungslager“, das „Lagerleben im Felde“ usw. waren positiv besetzte Begriffe. Im Lager ohne Vorzeichen sollte die „endgültige Ordnung des Menschen“ (Breymayer/Ulrich) hergestellt werden, eine Ordnung, die keinerlei Abweichung von der Norm duldete. Das KZ sollte alle „Elemente“ dem „nationalen Gesamtinteresse gleichschalten und diesem anpassen.“ (A. Hitler). In diesem Sinne war das Lager, sowohl Ort der „positiven Auslese“, der Formierung und Erziehung als auch Stätte der „negativen Auslese“, der „Aussonderung“ und „Ausmerze“, die nationalsozialistische Endlösung war die genaue Kehrseite der nationalsozialistischen Erlösung.

Für Reisen ins Archipel KZ ist der Benz/Diestel künftig ein unverzichtbarer Führer.

Wolfgang Benz, Babara Distel (Hg.): DER ORT DES TERRORS. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, 9. Bde. C. H. Beck Verlag, München 2005-2009, ISBN 978 – 3 – 406 – 52960-0

Bd. 1: Die Organisation des Terrors 2005, 394 S.
Bd. 2: Frühe Lager. Dachau. Emslandlager 2005, 607 S.
Bd. 3: Sachsenhausen. Buchenwald 2006, 660 S.
Bd. 4: Flossenbürg. Mauthausen. Ravensbrück 2006, 644 S.
Bd.. 5: Hinzert. Auschwitz. Neuengamme 2007, 591 S.
Bd. 6: Stutthof. Groß-Rosen. Natzweiler 2007, 840 S.
Bd. 7: Niederhagen/Wewelsburg. Lublin-Majdanek. Arbeitsdorf. Herzogenbusch (Vught). Bergen-Belsen.Mittelbau-Dora 2008, 360 S.
Bd. 8: Riga. Warschau. Vaivara. Kaunas. Plaszów. Kulmhof/Chelmno. Belzec. Sobibór. Treblinka 2008, 464 S.
Bd. 9: Arbeitserziehungslager, Ghettos, Jugendschutzlager, Polizeihaftlager, Sonderlager, Zigeunerlager, Zwangsarbeitslager 2009, 656 S.

1 comment to Baedeker der Vernichtung

  • Robert Schlickewitz

    Nicht nur in KZ’s wurde vernichtet, wurden Leben ausgelöscht, wüteten Deutsche wie die sprichwörtlichen Barbaren.
     
    Meine derzeitige Buchlektüre ist „Wintergrün“ von der Passauerin Anna Rosmus, ein Buch, das 1993 erschien und sich mit verdrängten Morden in meiner niederbayerischen Umgebung beschäftigt.
     
    Deutsche Landsleute vergewaltigten und schwängerten massenweise osteuropäische Zwangsarbeiterinnen, die sie in der Landwirtschaft und Industrie bei absolut inhumanen Bedingungen für den „Endsieg“ einsetzten. Die Schwangeren wurden zu Kurpfuschern (etablierten Medizinern ohne Skrupel) gebracht, wo ihnen die Föten bis zum siebten Monat „rausgekratzt“ wurden. Bei manchen bedauernswerten Polinnen, Weißrussinnen, Ukrainerinnen wurde die Geburt frühzeitig eingeleitet und die zumeist lebensfähigen Kinder, die ließ man einfach verhungern. War ja nur „fremdrassiges“ Leben. An mehreren Orten Niederbayerns und im Bayerischen Wald entstanden so kleine Massengräber für die sterblichen Überreste dieser Kinder und auch für einige von deren Müttern, die diese Eingriffe nicht überlebten.
     
    Wie reagierte die katholische Kirche, für die doch Abtreibung bis in die Gegenwart ein solch abscheuliches Gräuel darstellt? – Sie schaute i.d.R. beiseite und zahlreiche Pfarrer beschwerten sich auch noch darüber, dass „fremdvölkische“ Tote zunehmend die heimischen Friedhöfe füllten bzw. kontaminierten.
     
    Andere Kapitel widmen sich Massenerschießungen von russischen Kriegsgefangenen kurz vor Kriegsende bei Passau, dem KZ Plattling, jüdischem Leben und gewaltsamem Sterben in Pocking und an anderen Orten der Region.
     
    Und wie ist die Haltung der großen Mehrheit der Niederbayern heute, ihre Einstellung zu dem, was damals, vor zwei bzw. drei Generationen, in ihrer Mitte geschah?
     
    Gleichgültigkeit und Angewidertheit. „Lasst’s uns doch damit in Friedn!“, „Wollen wir jetzt nur noch nach vorne blicken, das Vergangene ruhn lassen!“, „Dös is mia doch wurscht, dös is doch scho so lang her!“.
     
    Schade, dass der Konstanzer Labhard Verlag, der das Buch „Wintergrün“ einst veröffentlichte, keine Neuauflage vornimmt, schade, dass die Autorin Rosmus dieses Buch, das Namen, Orte und Daten akribisch festhält, nicht online stellt.

    Das Buch wäre nämlich dazu geeignet, die Menschen aufzurütteln, denn das, was hier zu lesen ist, behandelt Geschehnisse, die sich in ihren ureigensten Orten abgespielt haben, die sie daher auch direkt ansprechen. Da ist nicht von Juden und Osteuropäern irgendwo auf der Welt und irgendwann in der Geschichte die Rede, nein, vielmehr von Menschen, die an genau diesem und jenem Ort in Niederbayern gelitten haben, die dort ermordet wurden, auf deren Gräbern heute u.a.  Abenteuerspielplätze angelegt werden.
     
    Besonders beschämend: Bayern hat diese vielen Begräbnisorte, soweit sie bekannt wurden, ab den 1950er Jahren aufgelöst, hat Exhumierungen vornehmen lassen, hat Grab- und Mahnsteine beseitigt. Nichts sollte mehr in diesen Orten, Dörfern und Städten an die Untaten der eigenen Vorfahren erinnern.
     
    Die exhumierten Leichen aus den betreffenden Friedhöfen der Umgebung kamen auf einen riesigen Leichen-‚dumpyard‘ (anders kann man es nicht ausdrücken), in der Oberpfalz, Flossenbürg, in eine sog. zentrale „Gedächtnisstätte“.
    Tja, entsorgt – ist wohl hierfür der beste Ausdruck, die adäquateste Bezeichnung für dieses pietätlose aber um so ökonomischere Vorgehen bayerischer Behörden bzw. des bayerischen Staates.
    Denn – nur noch an einem Ort müssen Anlagen gepflegt, muss überwacht, muss Sorge für den Erhalt getragen werden.
    Zudem – wer verirrt sich schon ausgerechnet in die Oberpfalz, nach Flossenbürg? – Doch wohl nur einige wenige Eingeweihte und die immer weniger werdenden Angehörigen der Ermordeten.
     
    Schandland Bayern, pfui Deifi!