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Ärztliche Seelsorge: Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse

Wer dürfte von Psychotherapie sprechen, ohne Freud und Adler zu nennen? Wer könnte umhin, wenn von Psychotherapie die Rede ist, von der Psychoanalyse und Individualpsychologie Ausgang und immer wieder auf sie Bezug zu nehmen? Stellen doch beide die einzigen grossen Systeme aus psychotherapeutischem Gebiete dar. Das Werk ihrer Schöpfer lasst sich aus der Geschichte der Psychotherapie nicht wegdenken.

Wann immer es auch darum gehen mag, die Grundsätze der Psychoanalyse bzw. Individualpsychologie zu erhöhen, gilt es trotzdem, ihre Lehre zur Grundlage der Untersuchungen zu machen. Sehr schön hat einmal Stekel den Sachverhalt zum Ausdruck gebracht, als er mit Bezug aut seine Stellung zu Freud meinte, ein Zwerg, der auf den Schultern eines Riesen stehe, könne weiter und mehr sehen, als der Riese selbst…

I.   Von der Psychotherapie zur Logotherapie (pp.27 ff)

Viktor E. Frankl

Wenn im folgenden der Versuch unternommen werden soll, die Grenzen aller bisherigen Psychotherapie zu übersteigen, dann ist es notwendig, diese Grenzen festzusetzen. Bevor wir uns der Frage zuwenden, ob eine Überschreitung der Grenzen notwendig und wie sie möglich sei, müssen wir feststellen, dass die Psychotherapie solche Grenzen wirklich hat.

Psychoanalyse und Individualpsychologie

Freud vergleicht die wesentliche Leistung der Psychoanalyse mit der Trockenlegung der Zuider-See: So wie hier überall, wo sich ursprünglich Wasser befand, fruchtbarer Boden gewonnen werden sollte – so soll in und durch die Psychoanalyse, dort, wo "Es" ist, "Ich" werden, das heisst, an Stelle des Unbewussten soll Bewusstsein treten; unbewusst Gemachtes soll bewusst gemacht werden, indem "Verdrängungen" aufgehoben werden. Es geht also der Psychoanalyse darum, das Ergebnis von Verdrängungsakten als Prozessen des Unbewusstmachens rückgängig; zu machen. Immerhin sehen wir hierbei, dass dem Begriff der Verdrängung innerhalb der Psychoanalyse eine zentrale Bedeutung zukommt, und zwar im Sinne einer Einschränkung des bewussten Ich vom unbewussten Es her. Im neurotischen System sieht die Psychoanalyse demnach eine Bedrohung, eine Entmachtung des Ich als Bewusstsein und demzufolge bemüht sich die analytische Therapie, verdrängte Erlebnisinhalte dem Unbewussten abzuringen, sie dem Bewusstsein zurückzugeben und so dem Ich einen Machtzuwachs zu erringen.

Analog dem Begriff der Verdrängung in der Psychoanalyse spielt in der Individualpsychologie der Begriff des Arrangements eine Hauptrolle. Im Arrangement versucht der Neurotiker, sich zu exkulpieren; hier wird also nicht der Versuch gemacht, etwas unbewusst zu machen, sondern sich selbst unverantwortlich zu machen; das Symptom soll gleichsam die Verantwortung übernehmen, es soll dem Kranken die Verantwortung abnehmen. Stellt es doch, im Blickfeld der Individualpsychologie, (als Arrangement) einen Rechtfertigungsversuch des Patienten vor der Gemeinschaft oder (als sogenannte Krankheitslegitimation) vor ihm selbst dar. Die individualpsychologische Therapie hat nun die Intention, den neurotischen Menschen für sein Symptom verantwortlich zu machen, das Symptom in die persönliche Verantwortungssphäre einzubeziehen, die Ich-Sphäre durch einen Zuwachs an Verantwortlichkeit zu erweitern.

Wir sehen sonach, dass die Neurose für die Psychoanalyse letzten Endes eine Einschränkung des Ich qua Bewusstsein darstellt und für die Individualpsychologie eine Einschränkung des Ich qua Verantwortlichsein. Beide Theorien lassen sich eine konzentrische Einschränkung ihres wissenschaftlichen Gesichtsfeldes zuschulden kommen – die eine konzentrisch auf die Bewusstheit des Menschen hin, die andere auf dessen Verantwortlichkeit. Nun ergibt aber eine ganz unbefangene Besinnung auf die ursprünglichen Grundlagen menschlichen Seins, dass eben Bewusstsein und Verantwortlichscin die beiden Grundtatsachen des Daseins ausmachen. Man könnte diesen Tatbestand in die anthropologische Grundformel kleiden: Mensch-sein bedeutet Bewusstsein und Verantwortlichsein. Sowohl die Psychoanalyse als auch die Individualpsychologie sehen somit je eine Seile des Menschseins, je ein Moment an der menschlichen Existenz – erst beide Aspekte zusammen ergäben aber ein wahres Bild vom Menschen. In ihrer anthropologischen Ausgangsstellung befinden sich Psychoanalyse bzw. Individualpsychologie in einer Gegenstellung; ihre Gegensätze erweisen sich aber schon hier als einander ergänzend. So zeigt sich, auf Grund solcher wissenschaftstheoretischer Analyse, dass die zwei repräsentativen Schulmeinungen im Bereich der Psychotherapie nicht das Produkt geistesgeschichlicher Zufälligkeit, sondern mit systematischer Notwendigkeit entstanden sind.

In ihrer Einseitigkeit werden Psychoanalyse und Individualpsychologie je einer Seite des Menschseins ansichtig; wie sehr aber Bewusstsein und Verantwortlichsein zusammengehören, dies findet seinen Niederschlag in der Tatsache, dass in der menschlichen Sprache, z. B. im Französischen und im Englischen, ähnliche Ausdrücke (mit gemeinsamem Wortstamm) zur Verfügung stehen sowohl für -Bewusstsein- als auch für -Gewissen- – also für einen der -Verantwortlichkeit- nahe verwandten Begriff. So verweist schon die Einheitlichkeit des Wortes auf eine Einheitlichkeit des Seins.

Dass Bewusstsein und Verantwortlichsein sich zu einer Einheit – zur Ganzheit des Menschseins zusammenschliessen, lässt sich ontologisch verstehen Zu diesem Zwecke wollen wir davon ausgehen, dass alles Sein wesentlich jeweils ein Anders sein ist. Was immer wir nämlich an Seiendem aus der übrigen Seinsfülle herausgreifen, kann nur dadurch abgegrenzt werden, dass es jeweils unterscheidbar ist. Erst durch das Bezogen-werden des einen Seienden auf ein Anders-seiendes wird beides überhaupt konstituiert. Die Beziehung zwischen Seiendem als je Anders-seiendem ist ihm irgendwie vorgängig.
Sein = Anders-sein, d.h. „Anders-sein“, also Relation; eigentlich „ist“ nur die Relation. Wir können daher auch folgendermassen formulieren: Alles Sein ist Bezogen-sein.

Das Anders-sein kann aber ein Anderssein sowohl im Nebeneinander als auch im Nacheinander darstellen. Das Bewusstsein setzt nun ein Nebeneinander mindestens von Subjekt und Objekt voraus, also ein Anders-sein in der Raumdimension; das Verantwortlichsein hingegen hat zur Voraussetzung das Nacheinander verschiedener Zustände, die Trennung eines zukünftigen Seins vom gegenwärtigen, also ein Anders-sein in der Zeitdimension: ein Anders-werden; wobei der Wille als Träger der Verantwortung den einen Zustand in den andern überzuführen strebt. Die ontologische Zusammengehörigkeit des Begriffspaares "Bewusst-sein – Verantwortlich-sein" wurzelt demnach in der ersten Aufspaltung des Seins als eines Anders-seins in die zwei möglichen Dimensionen des Nebeneinander und Nacheinander. Von den beiden Möglichkeiten anthropologischer Sicht, die in dem dargestellten ontologischen Tatbestand gründen, wird von der Psychoanalyse und Individualpsychologie je eine ergriffen.  –

Aber wir sind uns dessen bewusst, dass wir Freud nicht mehr und nicht weniger verdanken als die Erschliessung einer ganzen Dimension des psychischen Seins. Aber Freud hat seine Entdeckung eigentlich ebensowenig verstanden wie Columbus, der, als er Amerika entdeckte, glaubte, in Indien angekommen zu sein. Auch Freud glaubte, das Wesentliche an der Psychoanalyse seien Mechanismen wie Verdrängung und Übertragung, während es sich in Wirklichkeit um die Vermittlung eines tieferen Selbstverständnisses durch eine existentielle Begegnung handelte.

Und doch müssen wir weitherzig genug sein, um Freud vor seinem Selbstmissverständnis in Schutz zu nehmen. Was besagt denn die Psychoanalyse, letztlich und eigentlich, wenn wir von allem Zeitbedingten, von allen Eierschalen des 19. Jahrhunderts, die ihr noch anhaften mögen, einmal absehen? Das Gebäude der Psychoanalyse ruht auf zwei wesentlichen Konzepten: auf dem der Verdrängung und dem der Übertragung.
Was die Verdrängung anbelangt, wird ihr im Rahmen der Psychoanalyse durch die Bewusstwerdung, die Bewusstmachung entgegengearbeitet. Wir alle kennen Freuds stolzes, ich möchte sagen prometheisches Wort: „Wo Es ist, soll Ich werden„. –
Was aber das zweite Prinzip, das der Übertragung, anlangt, so ist sie meines Erachtens recht eigentlich ein Vehikel existentieller Begegnung. So dass die nach wie vor akzeptable Quintessenz der Psychoanalyse die folgende, die beiden Prinzipien der Bewusstmachung und der Übertragung zusammenfassende Formulierung zulässt: "Wo Es ist, soll Ich werden"; aber das Ich wird Ich erst am Du.

Paradoxerweise bringt die Vermassung in der Industriegesellschaft eine Vereinsamung mit sich, die das Aussprachebedürfnis steigert. Der Funktionswandel der Psychotherapie hat in den USA, im Lande der lonely crowd, die Psychoanalyse hochgespielt. Die USA sind aber auch das Land der puritanischen und calvinistischen Tradition. Sexuelles war auf einer kollektiven Ebene verdrängt worden, und nun lockerte eine pansexualistisch missverstandene Psychoanalyse die kollektive Verdrängung. In Wirklichkeit war die Psychoanalyse selbstverständlich gar nicht pansexualistisch, sondern nur pandeterministisch.

Eigentlich war die Psychoanalyse niemals pansexualistisch. Heute ist sie es weniger denn je. Worum es allein geht, ist jedoch, dass Freud die Liebe als ein blosses Epiphänomen auffasst, während sie in Wirklichkeit ein Urphänomen menschlicher Existenz ist und eben nicht ein blosses Epiphänomen, sei es im Sinne sogenannter zielgehemmter Strebungen, sei es im Sinne von Sublimierung. Phänomenologisch liesse sich nämlich nachweisen, dass es die Liebe ist, die, wann immer es zu so etwas wie Sublimierung überhaupt kommt, ebendieser Sublimierung als eine Bedingung ihrer Möglichkeit immer schon vorangeht, aus welchem Grunde die Liebesfähigkeit – die Voraussetzung von Sublimierung – nicht selber und ihrerseits das Ergebnis eines Sublimierungsprozesses zu sein vermöchte. Mit anderen Worten, erst auf dem Untergrund einer existentiell originären und primären Liebesfähigkeit, eines ursprünglichen Angelegtseins des Menschen auf Liebe hin, wird Sublimierung, will heissen die Integrierung der Sexualität in das Ganze der Person hinein, verständlich. Mit einem Wort, nur das Ich, das ein Du intendiert, kann das eigene Es integrieren. –

Scheler hat in einer respektlosen Anmerkung darauf hingewiesen, dass die Individualpsychologie eigentlich nur von einem ganz bestimmten Menschentvpus gelte, nämlich dem Typus des Strebers. Vielleicht muss man in der Kritik nicht so weit gehen; immerhin glauben wir, dass die Individualpsychologie bei all dem Geltungsstreben, das sie immer und überall vorzufinden vermeinte, übersah, dass so mancher Mensch von einem viel radikaleren Ehrgeiz beseelt sein kann, als es der simple Ehrgeiz ist – von einem Streben, das sich sozusagen mit irdischen Ehren gar nicht zufrieden gäbe, sondern nach viel, viel mehr langte, nach einem Sich-verewigen, in irgendeiner Form.

Man hat den Ausdruck Tiefenpsychologie geprägt; wo aber bleibt die Höhenpsychologie – die nicht nur den Willen zur Lust, sondern auch den Willen zum Sinn mit einbezieht in ihr Gesichtsfeld? Wir müssen uns fragen, ob es nicht an der Zeit ist, auch innerhalb der Psychotherapie die menschliche Existenz nicht nur in ihrer Tiefe, sondern auch in ihrer Höhe zu sehen – damit allerdings bewusst hinausgreifend nicht nur über die Stufe des Physischen, sondern auch noch über die des Psychischen, und den Bereich des Geistigen prinzipiell einbeziehend.

Die bisherige Psychotherapie hat uns der geistigen Wirklichkeit des Menschen zu wenig ansichtig werden lassen. Bekannt ist z.B. noch ein weiterer Gegensatz zwischen Psychoanalyse und Individualpsy­chologie: während jene die seelische Wirklichkeit unter der Kategorie der Kausalität anschaut, herrscht im Blickfeld der Individualpsycho­logie die Kategorie der Finalität. Wobei sich nicht leugnen lässt, dass Finalität irgendwie die höhere Kategorie darstellt und in diesem Sinne die Individualpsychologie gegenüber der Psychoanalyse eine Höher­entwicklung der Psychotherapie, einen Fortschritt in ihrer Geschichte bedeutet. Dieses Fortschreiten ist aber unseres Erachtens gleichsam noch offen, insofern nämlich, als noch eine höhere Stufe ergänzt wer­den kann. Müssen wir uns doch fragen, ob mit den beiden angeführ­ten Kategorien der Bereich möglicher kategorialer Gesichtspunkte bereits erschöpft sei oder ob nicht vielmehr zum "Müssen" (aus der Kausalität heraus) und zum "Wollen" (gemäss einer seelischen Fina­lität) die neue Kategorie des "Sollens" hinzuzutreten habe.

Derartige Überlegungen mögen auf den ersten Blick lebensfern er­scheinen, sie sind es aber nicht; im besonderen nicht für den Arzt und am allerwenigsten für den psychotherapeutischen Praktiker…

Weitere Informationen beim Verlag: dtv bzw. bei Bestellung

Die "Ärztliche Seelsorge" ist ein Klassiker der psychotherapeutischen Literatur und eines der Hauptwerke des jüdischen Wiener Arztes Viktor E. Frankl (1905 bis 1997). In diesem Buch gibt Frankl eine systematische Darstellung des von ihm begründeten psychotherapeutischen Systems der Logotherapie und Existenzanalyse. Sowohl die theoretischen Grundlagen als auch die therapeutische und klinische Praxis bei psychischen Störungen und existentiellen Sinnkrisen werden ausführlich dargestellt und begründet. Immer hält Frankl dabei dem Leser das Ziel vor Augen, die menschliche Person – auch hinter aller Erkrankung – als verantwortungsfähiges, freies und nach Sinn strebendes Wesen zu sehen.
Neben der „Ärztlichen Seelsorge“ befindet sich in der vorliegenden Ausgabe ein weiterer zentraler Text Frankls: die „Zehn Thesen über die Person„. Darin fasst Frankl das Menschenbild der Logotherapie und Existenzanalyse in höchst konzentrierter Form zusammen.

Die Zehn Thesen über die Person zählen zu den philosophisch-anthropologischen Grundtexten der Logotherapie und Existenzanalyse: Frankl vertieft darin das dimensionalontologische Menschenbild, dessen weiterreichende philosophische und anthropologische Implikationen er in zehn Thesen zusammenfasst. Unter anderem nimmt Frankl in dem Referat eine detaillierte argumentative Herleitung von zwei zentralen logotherapeutischen Postulaten vor: dem psychotherapeutischen Credo und psychiatrischen Credo. Sind diese Postulate in der Ärztlichen Seelsorge bereits inhaltlich angelegt und vorweggenommen, so werden sie in den Zehn Thesen über die Person zusätzlich in den Gesamtzusammenhang von Frankls philosophischer und psychologischer Anthropologie gestellt.

Viktor E. Frankl, geboren am 26. März 1905, war Professor für Neurologie und Psychiatrie an der Universität Wien, zugleich Professor für die von ihm begründete Logotherapie an der International University in Kalifornien. Frankl hatte ausserdem Professuren an der Harvard University, an der Standford University und an Universitäten in Dallas und Pittsburgh inne.
Vortragsreisen führten ihn nach Amerika, Australien, Asien und Afrika. 25 Jahre hindurch war Professor Frankl Vorstand der Wiener neurologischen Poliklinik, und seit ihrer Gründung war er Präsident der Österreichischen Ärztegesellschaft für Psychotherapie. Er starb am 2. September 1997 in Wien.

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