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Logotherapie und Existenzanalyse: Viktor E. Frankl und die Skepsis des Therapeuten

Vergrössern per Klick...Der jüdische Wiener Arzt Viktor E. Frankl hat in der Nachfolge von und in der Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse Sigmund Freuds die Dritte Wiener Schule der Psychotherapie begründet und seinen Ansatz "Logotherapie und Existenzanalyse" genannt.

In "ºÄrztliche Seelsorge"¹, einem seiner Hauptwerke, stellt er ihn systematisch dar. Das Buch ist ein engagierter Aufruf zur Entmythologisierung der Psychotherapie und zur Rehumanisierung der Medizin. Immer wieder fordert Frankl darin auf, den Menschen — auch hinter aller Erkrankung — als verantwortungsfähiges, freies und nach Sinn strebendes Wesen zu sehen. Im selben Buch finden sich auch die "ºZehn Thesen über die Person"¹, die das Menschenbild der Logotherapie und Existenzanalyse in konzentrierter Form zusammenfassen…

Viktor E. Frankl, 1905—1997, war Professor für Neurologie und Psychiatrie an der Universität Wien, zugleich Professor für die von ihm begründete Logotherapie an der International University in Berkeley, Kalifornien. Ausserdem hatte er Professuren an den Universitäten Harvard, Stanford, Dallas und Pittsburgh inne. Seine insgesamt 32 Bücher wurden in 31 Sprachen übersetzt.
Bei dtv ist von ihm erschienen:
"º" trotzdem Ja zum Leben sagen"¹ (dtv 30142) und
Der unbewusste Gott"¹ (dtv 35058).

Weitere Informationen beim Verlag: dtv bzw. bei Bestellung"

Wenn Schelsky im Titel eines seiner Bücher die damalige Jugend als "Die skeptische Generation" bezeichnet, dann lässt sich Analoges von den heutigen Psychotherapeuten behaupten. Wir sind vorsichtig, ja misstrauisch geworden, und zwar insbesondere gegenüber uns selbst, gegenüber unseren eigenen Erfolgen und Erkenntnissen, und diese Bescheidenheit und Nüchternheit mag das Lebensgefühl einer ganzen Psychotherapeutengeneration zum Ausdruck bringen.

Längst ist es kein Geheimnis mehr, dass — welche Methode und Technik auch immer angewandt wird — beiläufig zwei Drittel bis zu drei Viertel der Fälle geheilt oder zumindest wesentlich gebessert werden. Allein, ich möchte vor jeder demagogischen Schlussfolgerung warnen. Noch ist nämlich die Pilatus-Frage aller Psychotherapie nicht beantwortet: Was ist Gesundheit — was ist Gesundung — was ist Heilung?

Eines aber lässt sich nicht bestreiten: Wenn quer durch die verschiedenartigsten Methoden hindurch annähernd gleich hohe Erfolgsraten verzeichnet werden, dann kann es nicht die jeweils angewandte Technik sein, der wir die betreffenden Erfolge in erster Linie zu verdanken haben. Franz Alexander hat einmal die Behauptung aufgestellt: "In all forms of psychotherapy, the personality of the therapist is his primary instrument." Soll das aber heissen, dass wir Verächter der Technik werden dürfen? Eher möchte ich Hacker beipflichten, der davor gewarnt hat, in der Psychotherapie einfach eine Kunst zu erblicken, durch welche Gleichsetzung nämlich der Scharlatanerie Tür und Tor geöffnet werden. Sicherlich ist Psychotherapie beides: Kunst und Technik. Ja, ich möchte darüber hinausgehen und die Behauptung wagen, das je nachdem musische oder technische Extrem der Psychotherapie sei als solches, als Extrem, ein blosses Artefakt.

Extreme existieren eigentlich nur in der Theorie. Die Praxis spielt sich in einem Zwischenbereich ab, in einem Bereich zwischen den Extremen musisch bzw. technisch aufgefasster Psychotherapie. Zwischen diesen Extremen erstreckt sich ein ganzes Spektrum, und in diesem Spektrum kommt jeder Methode und Technik ein bestimmter Stellenwert zu. Dem musischen Extrem am nächsten stünde die authentische existentielle Begegnung (die "existentielle Kommunikation" im Sinne von Jaspers und Binswanger), während näher dem technischen Extrem zu lokalisieren wäre die Übertragung im psychoanalytischen Sinne, die ja, wie Boss in einer seiner jüngsten Arbeiten bemerkt, jeweils "gehandhabt ", um nicht zu sagen "manipuliert" (Dreikurs) wird. Weiter ans technische Extrem heran käme das autogene Training nach Schultz, und wohl am weitesten vom musischen Pol entfernt hätte sich so etwas wie die Schallplattenhypnose.

Welchen Frequenzbereich wir quasi herausfiltern aus dem Spektrum, das heisst, welche Methode und Technik wir für indiziert erachten, hängt nicht nur vom Patienten, sondern auch vom Arzt ab; denn es ist nicht nur so, dass nicht jeder Fall auf jede Methode gleich gut anspricht2, sondern es ist auch so, dass nicht jeder Arzt mit jeder Technik gleich gut umgehen kann. Meinen Studenten pflege ich dies in Form einer Gleichung auseinanderzusetzen:

ψ = x + y

Das heisst, die jeweilige Psychotherapiemethode der Wahl (ψ) ist insofern eine Gleichung mit zwei Unbekannten, als sie nicht zu erstellen ist, ohne dass sowohl die Einmaligkeit und Einzigartigkeit des Patienten als auch die Einmaligkeit und Einzigartigkeit des Arztes in Rechnung gestellt werden.

Soll das heissen, dass wir einem faulen und billigen Eklektizismus verfallen und huldigen dürfen? Sollen die Gegensätze zwischen den einzelnen Psychotherapiemethoden verschleiert werden? Von all dem kann nicht die Rede sein. Worauf unsere Überlegungen und Erwägungen hinauslaufen, ist vielmehr, dass keine Psychotherapie mehr einen Exklusivitätsanspruch stellen darf. Solange uns eine absolute Wahrheit nicht zugänglich ist, müssen wir uns damit begnügen, dass die relativen Wahrheiten einander korrigieren, und auch den Mut zur Einseitigkeit aufbringen, nämlich zu einer Einseitigkeit, die sich ihrer selbst bewusst ist.

Man stelle sich vor, der Flötist würde im Orchester nicht einseitig und ausschliesslich Flöte spielen, sondern ein anderes Instrument zur Hand nehmen — nicht auszudenken; denn er hat nicht bloss das Recht, sondern nachgerade die Pflicht, einseitig und ausschliesslich Flöte zu spielen im Orchester — aber eben auch nur im Orchester: sobald er nach Hause kommt, wird er sich wohlweislich hüten, dort, daheim, ausserhalb des Orchesters, seinen Nachbarn durch einseitiges und ausschliessliches Flötespielen auf die Nerven zu gehen. Im vielstimmigen Orchester der Psychotherapie sind wir ebenfalls zu einer Einseitigkeit, die sich ihrer selbst bewusst bleibt, nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet.

Apropos Kunst: sie wurde einmal als Einheit in der Mannigfaltigkeit definiert; analog, meine ich, liesse sich der Mensch als Mannigfaltigkeit in der Einheit definieren. Trotz aller Einheit und Ganzheit des Wesens Mensch gibt es eine Mannigfaltigkeit von Dimensionen, in die hinein er sich erstreckt, und in sie alle hinein muss ihm die Psychotherapie folgen. Nichts darf da unberücksichtigt bleiben — weder die somatische noch die psychische noch die noetische Dimension. So muss sich denn die Psychotherapie auf einer Jakobsleiter bewegen, auf- und absteigen auf einer Jakobsleiter. Sie darf weder ihre eigene metaklinische Problematik unberücksichtigt lassen noch den festen Boden klinischer Empirie unter den Füssen verlieren. Sobald sich die Psychotherapie in esoterische Höhen "verstiegen" hat, müssen wir sie wieder zurückrufen, zurückholen.

Mit dem Tier teilt der Mensch die biologische und die psychologische Dimension. Mag sein Tiersein auch noch so sehr von seinem Menschsein her dimensional überhöht und geprägt sein, irgendwie hört der Mensch nicht auf, auch ein Tier zu sein. Ein Flugzeug hört nicht auf, genauso wie ein Auto auf dem Flughafengelände, also in der Ebene umherfahren zu können; aber als ein wirkliches Flugzeug wird     es sich erst dann erweisen, wenn es sich in die Lüfte, also in den dreidimensionalen Raum erhebt. Genauso ist der Mensch auch ein Tier; aber er ist auch unendlich mehr als ein Tier, und zwar um nicht weniger als eine ganze Dimension, nämlich die Dimension der Freiheit. Die Freiheit des Menschen ist selbstverständlich nicht eine Freiheit von Bedingungen, sei es biologischen, sei es psychologischen oder soziologischen; sie ist überhaupt nicht eine Freiheit von etwas, sondern eine Freiheit zu etwas, nämlich die Freiheit zu einer Stellungnahme gegenüber all den Bedingungen. Und so wird sich denn auch ein Mensch erst dann als ein wirklicher Mensch erweisen, wenn er sich in die Dimension der Freiheit aufschwingt.

Aus dem Gesagten erhellt, dass in der Theorie der ethologische Ansatz ebenso legitim sein mag wie in der Praxis der pharmakologische Ansatz. Ich möchte es hier dahingestellt sein lassen, ob sich durch die Psychopharmaka eine Psychotherapie ersetzen lassen oder nur erleichtert oder aber erschwert wird. Ich möchte nur eines bemerken: Wenn kürzlich der Besorgnis Ausdruck verliehen wurde, die psychopharmakologische Therapie könnte ebenso wie die Elektroschockbehandlung dazu führen, dass der psychiatrische Betrieb mechanisiert und der Patient nicht mehr als eine Person betrachtet wird, dann muss ich sagen, es ist nicht einzusehen, warum das der Fall sein soll. Nie kommt es auf eine Technik an, sondern immer nur auf denjenigen, der die Technik handhabt, auf den Geist, in dem sie gehandhabt wird.3 Und so gibt es denn auch einen Geist, aus dem heraus eine psychotherapeutische Technik auf eine den Patienten "depersonalisierende" Art und Weise gehandhabt wird, indem hinter der Krankheit nicht mehr die Person, vielmehr in der Psyche nur noch Mechanismen gesehen werden: der Mensch wird reifiziert — er wird zur Sache gemacht — oder gar manipuliert: er wird Mittel zum Zweck.

In Fällen endogener Depression beispielsweise ist die Therapie mit Hilfe der Psychopharmaka meines Erachtens durchaus angezeigt. Die Argumentation, in solchen Fällen dürften die Schuldgefühle nicht "wegtranquilisiert" werden, da ihnen eine wirkliche Schuld zugrunde liege, halte ich nicht für angebracht. In einem gewissen, im existen-       tiellen Sinne schuldig ist jeder von uns; aber der endogen Depressive empfindet dieses Schuldigsein dermassen unproportioniert, überdimensioniert, dass es ihn zur Verzweiflung und in den Selbstmord treibt. Wenn bei Ebbe ein Riff sichtbar wird, wird niemand die Behauptung wagen, das Riff sei die Ursache der Ebbe. Analogerweise wird während einer endogen-depressiven Phase jene Schuld sichtbar, in verzerrtem Ausmass sichtbar, die auf dem Grunde alles Menschseins liegt, ohne dass damit auch schon gesagt wäre, dass solches existentielles Schuldigsein nun auch der endogenen Depression "zugrunde" liegt, im Sinne einer Psycho- oder gar Noogenese "zugrunde" liegt. Wo es doch ohnehin schon merkwürdig genug ist, dass diese existentielle Schuld in einem konkreten Fall ausgerechnet nur von Februar bis April 1951 und dann wieder erst von März bis Juni 1956 und dann wieder lange überhaupt nicht pathogen sein soll. Und noch etwas möchte ich zu bedenken geben: Ist es nicht deplaciert, ausgerechnet während endogen-depressiver Phasen einen Menschen mit dessen existentieller Schuld zu konfrontieren? Nur allzu leicht könnte solch ein Vorgehen — Wasser auf die Mühle seiner Selbstvorwürfe — einen Selbstmordversuch zur Folge haben. Ich glaube nicht, dass wir in entsprechenden Fällen dem Kranken jene Erleichterung vorenthalten dürften, welche die Pharmakotherapie für sein Leiden bereit hält.

Etwas anderes ist es, wenn wir es nicht mit einer endogenen, sondern mit einer psychogenen Depression, nicht mit einer depressiven Psychose, sondern mit einer depressiven Neurose zu tun haben: dann würde eine Pharmakotherapie unter Umständen sehr wohl einen Kunstfehler bedeuten. Dann würde sie nämlich eine Pseudotherapie darstellen, welche die Ätiologie nur verschleiert — nicht anders als das Morphium im Falle einer Appendicitis. Analoges gilt aber auch für die Psychotherapie — auch mit ihr kann der Arzt einmal an der Ätiologie vorbeibehandeln. Und diese Gefahr ist nur um so aktueller, als wir in einer Zeit leben, in der die Psychiatrie, ja die Medizin, einen Funktionswandel erkennen lässt. Vor kurzem erst hielt Professor Farnsworth von der Harvard University vor der American Medical Association einen Vortrag, in dem er ausführte: "Medicine is now     confronted with the task of enlarging its function. In a period of crisis such as we are now experiencing, physicians must of necessity indulge in philosophy. The great sickness of our age is aimlessness, boredom, and lack of meaning and purpose." Solcherart werden an den Arzt heute Fragen herangetragen, die eigentlich nicht medizinischer, sondern philosophischer Natur sind und auf die er kaum vorbereitet ist.

Es wenden sich Patienten an den Psychiater, weil sie am Sinn ihres Lebens zweifeln oder gar daran verzweifeln, einen Lebenssinn überhaupt zu finden. Ich pflege in diesem Zusammenhang von einer existentiellen Frustration zu sprechen. An und für sich handelt es sich um nichts Pathologisches; sofern im besonderen von Neurose überhaupt die Rede sein kann, haben wir es mit einem neuen Typus von Neurose zu tun, den ich die noogene Neurose genannt habe. Immerhin macht sie laut übereinstimmenden Statistiken (vgl. S. 318) ungefähr 20% des anfallenden Krankenguts aus, und in den USA ist man sowohl an der Harvard University als auch im Bradley Center in Columbus, Georgia, bereits darangegangen, Tests5 auszuarbeiten, um die noogene Neurose von einer psychogenen Neurose (und einer somatogenen Pseudoneurose) diagnostisch differenzieren zu können. Ein Arzt, der diese Differentialdiagnose nicht zu erstellen imstande ist, würde Gefahr laufen, sich der wichtigsten Waffe zu begeben, die es im psychotherapeutischen Arsenal jemals gegeben hat: der Orientierung des Menschen nach Sinn und Werten.6 Ich kann es mir nicht vorstellen, dass etwa die mangelnde Hingabe an eine Aufgabe jemals die alleinige Ursache einer psychischen Erkrankung zu sein vermöchte. Sehr wohl aber bin ich davon überzeugt, dass eine positive Sinnorientierung ein Mittel der Heilung ist.

Nun bin ich darauf gefasst, dass man mir entgegenhalten wird, auf diese Art und Weise würde der Patient überfordert werden. Allein, was wir heutzutage, in einer Zeit existentieller Frustration, zu befürchten haben, ist nicht die Überforderung, sondern eine Unterforderung des Menschen. Es gibt ja nicht nur eine Pathologie des Stress, sondern auch eine Pathologie der Entlastung. 1946 konnte ich die Psychopathologie der Entlastung an Hand der Morbidität ehemaliger KZ-Gefangener belegen…

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