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Poesie als inneres Exil

Eine neue Biografie über Selma Merbaum …

Selma Merbaum - Ich habe keine Zeit gehabt zuende zu schreibenVon Ramona Ambs

„Ich möchte leben.
Schau, das Leben ist so bunt.“

Selma Merbaums Gedichte hab ich schon immer lieb gehabt. Eine Zeitlang sogar so sehr, dass ich ein Gedicht von ihr über meinem Bett hängen hatte: Schlaflied für dich / Wilder Mohn. Unter dem Gedicht stand ihr Name: Selma Meerbaum-Eisinger. Dass der Name so nicht richtig ist, wußte ich damals noch nicht. Und auch sonst wußte ich wenig über die junge jüdische Dichterin, die mit achtzehn Jahren in einem Arbeitslager starb…

Das hat sich jetzt, viele Jahre später, geändert. Denn nun ist eine neues Buch über Selma erschienen: „Selma Merbaum. Ich habe keine Zeit gehabt zuende zu schreiben – Biografie und Gedichte“. Und eigentlich ist das im zu Klampen Verlag erschienene 350 Seiten dicke Werk nicht nur ein Buch, sondern ein Schatz. Ein Schatz aus tausend Einzelteilen, die von Marion Tauschwitz in jahrelanger akribischer Recherche zusammengetragen wurden. Eines dieser Einzelteile ist der Name: Selma kann ab sofort wieder ihren richtigen Namen tragen: Selma Merbaum nämlich. Den Namen ihres Stiefvaters Eisinger hat Selma nie getragen, und der Name Merbau(m) geht auf eine tropische Holzart zurück und hat, auch wenn‘s viel lyrischer klingen mag, nichts mit dem schönen blauen Meer zu tun…

Aber Marion Tauschwitz hat Selma nicht nur ihren Namen zurück gegeben, sie hat ihr Stück für Stück wieder Leben eingehaucht und damit eine Welt auferstehen lassen, die schon lange der Vergangenheit angehört: die Welt des jüdischen Czernowitz, die Welt der Bukowina. Darin das Schuhgeschäft von Vater Max, die Molkerei von Onkel Abraham, das Klavierzimmer von Freundin Renee und die Schule, in der nur der „liebe Gott eine glatte 10 kriegt“. Kurz eine Welt, in der „Bücher und Menschen“ lebten, und in der Selma zu einer mutigen und kämpferischen jungen Frau heranwuchs. Eine Welt bestehend aus Gilu bei der Gruppe HaShomer HaTzair, dem Shabbat bei der Großmutter und einsamen Waldspaziergängen in der Dunkelheit. Eine Welt in der für „die Gräuel (des Naziterrors) die Fantasie gefehlt“ hatte, wie Tauschwitz zu Beginn des fünften Kapitels formuliert. Doch die Katastrophe machte auch vor Czernowitz nicht halt…

Selma dichtet dagegen an- und starb am Ende doch im Lager…:

Ich möchte leben.
Ich möchte lachen und Lasten heben
und möchte kämpfen und lieben und haßen
und möchte den Himmel mit Händen faßen
und möchte frei sein und atmen und schrei`n.

Ich will nicht sterben. Nein:
Nein.

Wer ein Leben rettet, rettet die ganze Welt. Marion Tauschwitz hat hier ein Leben gerettet. Ein Leben, das endete, bevor die Autorin selbst überhaupt geboren wurde. Sie hat es gerettet, indem sie genau hingesehen hat, gesammelt hat, was es zu sammeln gab und Zeitzeugen befragt hat, die bisher nicht gehört wurden. Sie hat Bilder zusammengestellt, Dokumente verglichen und wissenschaftliches Material zu Hilfe gezogen. Herausgekommen ist ein Buch, das Selma so nahe kommt, wie noch nie etwas anderes zuvor. Zudem hat sie sich ganz den Wünschen von Selma untergeordnet: so hat sie beispielsweise auch die Gedichte wieder in die Reihenfolge gebracht, die Selma selbst bestimmt hatte.

Das Buch erzählt die Geschichte von einem Mädchen mit widerspenstigem Haar und widerspenstigem Geist, es erzählt von der „betrunkenen Kirche“, die Selma mit ihrem Cousin Paul Celan bei der grünen Mutter Bukowina betrachtete, und es erzählt von Selmas „Flucht in die Worte, die das Weiteratmen in der Atemlosigkeit garantieren“…

Selmas Verse, die in Moll und in Dur, im packenden Furioso und im zarten Pianissimo, die biographischen Puzzlestücke begleiten und so auch immer wieder Selma selbst zu Wort kommen lassen, machen das Buch zu einem ganz besonderen Leseerlebnis.

Marion Tauschwitz: Selma Merbaum – Ich habe keine Zeit gehabt zuende zu schreiben. Biografie und Gedichte. Mit einem Vorwort von Iris Berben. Mit zahlreichen Abbildungen, 350 S., zu Klampen Verlag 2014, Bestellen?

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