Anarchistische Positionen zu Antisemitismus, Zionismus und Israel…
Von Olaf Kistenmacher
Erschienen in: Rote Ruhr Uni
Zum Thema „Antisemitismus in der Linken“ wurde so viel geschrieben, dass man meinen könnte, es wäre alles gesagt. Gleichwohl bestehen nach wie vor große Forschungslücken, zum Beispiel zur Haltung der anarchistischen Bewegung. Mit „Antisemit, das geht nicht unter Menschen“. Anarchistische Positionen zu Antisemitismus, Zionismus und Israel legen Jürgen Mümken und Siegbert Wolf eine Textsammlung vor, um die ausstehende Debatte zu dieser Frage anzustoßen. Über ihre Motivation schreiben Mümken und Wolf:
Das Buch entstand aus unserer Unzufriedenheit über den geringen Stellenwert, dem eine ernsthafte und anhaltende Beschäftigung mit dem Antisemitismus heute in der anarchistischen Bewegung zukommt – von Ausnahmen einzelner Personen und ganz weniger Gruppen abgesehen.[1]
Der Band „Antisemit, das geht nicht unter Menschen“ ist allerdings mehr als eine Quellensammlung. Außer historischen Texten enthält er zahlreiche fundierte Beiträge zu prominenten Anarchistinnen und Anarchisten. Pierre-Joseph Proudhon, mit dem sich Werner Portmann im ersten Beitrag beschäftigt, ist ein Beispiel dafür, dass Anarchistinnen und Anarchisten nicht nur Positionen zum Antisemitismus oder zum Zionismus formuliert haben, sondern auch selbst antisemitischen Überzeugungen anhingen. 1847 schrieb Proudhon, der „Vater der Anarchie“, in sein Tagebuch:
Juden. Einen Artikel gegen diese Rasse schreiben, die alles vergiftet, indem sie sich überall einmischt, ohne sich je mit einem Volk zu vereinen. Ihre Ausweisung aus Frankreich verlangen, mit Ausnahme derer, die mit Französinnen verheiratet sind; die Synagogen schließen, sie zu keiner Arbeitsstelle zulassen, schließlich die Abschaffung dieser Religion betreiben. Es kommt nicht von ungefähr, dass die Christen sie Gottesmörder genannt haben. Der Jude ist der Feind der Menschheit. Man muss diese Rasse nach Asien zurückschicken oder sie ausrotten.[2]
Proudhon hat diesen Text nie veröffentlicht und den in diesem Tagebucheintrag angekündigten Artikel auch nie geschrieben. Allerdings waren seine Gedanken keine Haltung, die nur Proudhon allein vertreten hätte. Proudhon reproduzierte vielmehr die geläufigen judenfeindlichen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts. Das Judentum galt den Antisemiten dieser Zeit nicht nur als die Religion, deren Mitglieder Jesus Christus und damit ‚Gott ermordet‘ hätten, ihr Judenhass richtete sich gegen Jüdinnen und Juden zugleich als Personifikation der Moderne, die alles zersetzen würde. Deswegen war „der Jude“ nicht nur eine feindliche Gruppe unter vielen, sondern, wie Proudhon ebenfalls schrieb, „der Feind der Menschheit“.
Portmann rekonstruiert, wie Proudhons Ansichten über das Judentum seine politischen Zeitungsartikel und seine theoretischen Veröffentlichungen beeinflusste. In Contradictions économiques (System der ökonomischen Widersprüche) habe Proudhon die Ansicht vertreten, dass „die Juden“ „nur dem Mammon treu“ seien und „über alle herrschen“ wollten.[3] Während einer Lebensphase, in der Proudhon häufiger Umgang mit Jüdinnen und Juden pflegte, gingen solche Aussagen über „die Juden“ merklich zurück. Doch mit „dem Verlust seiner wenigen Kontakte zu Juden“, so Portmann, sei „ein schleichender Rückfall in den Antisemitismus zu beobachten“. In De la Justice bestand die zu bekämpfende Dreieinigkeit in den „Roben, Talare und Finanzleute“, und die „Finanzleute setzte er meist mit den jüdischen Bankiers gleich“.[4]
Ein anderer Begründer des politischen Anarchismus, Michael Bakunin, brachte mehr als 20 Jahre nach Proudhon einen ganz ähnlichen Hassausbruch zu Papier, der ebenfalls erst postum veröffentlicht wurde. 1871 schrieb Bakunin über seine „Persönliche Beziehung zu Marx“,
diese ganze jüdische Welt, die eine ausbeuterische Sekte, ein Blutegelvolk, einen einzigen fressenden Parasiten bildet, eng und intim nicht nur über die Staatsgrenzen hin, sondern auch über alle Verschiedenheiten der politischen Meinungen hinweg, – diese jüdische Welt steht heute zum großen Teil einerseits Marx, andererseits Rothschild zur Verfügung. Ich bin sicher, daß die Rothschild auf der einen Seite die Verdienste von Marx schätzen, und daß Marx auf der anderen Seite instinktive Anziehung und großen Respekt für die Rothschild empfindet.[5]
Dass Bakunin eine Einheit zwischen Marx und der französischen jüdischen Bankiersfamilie Rothschild imaginierte, war so wenig eine private Überzeugung wie Proudhons Ansichten. Im 19. Jahrhundert waren Antisemiten der Meinung, „die Juden“ seien für die gesellschaftliche Entwicklung verantwortlich, in der sich alles ums Geld drehte und dies alle anderen Werte oder Wertvorstellungen verdrängte. In diesem Sinne erschienen Kapitalismus und Kommunismus als zwei Seiten einer Medaille. In der nationalsozialistischen Propaganda des 20. Jahrhunderts wurde dieser Zusammenhang besonders deutlich. Die Nazis stellten „den Juden“ als geheimen Strippenzieher dar, der sowohl die Politik der kapitalistischen USA als auch der kommunistischen UdSSR lenken würde.[6]
Judenfeindschaft wurde von Anarchistinnen und Anarchisten bereits seit dem 19. Jahrhundert scharf verurteilt. Aus einem Brief Gustav Landauers stammt das titelgebende Zitat: „Antisemit, das geht nicht unter Menschen“.[7] Der heute kaum bekannte Historiker Bernard Lazare verfasste nicht nur mehrere Werke zur Geschichte der modernen Judenfeindschaft, sondern sprach sich während der Dreyfus-Affäre in Frankreich gegen den verbreiteten Antisemitismus aus. 1924 schrieb der libertäre Philosoph und Historiker Hans Kohn, Lazare sei ein „Anarchist wie Gustav Landauer“ gewesen:
Für ihn war die Wahrheit, die er erkannt, die Gerechtigkeit, die er gefordert, etwas Absolutes, dem alle Rücksichten auf Zeitliches, auf alle Tradition und alle natürlichen Interessen geopfert werden mussten. […] Gewänne man auch alle Schätze der Erde, missachtete aber nur im Geringsten die Stimme des Gewissens, wäre dieses alles nichts wert. Dies ist Anarchismus.[8]
Aus dieser Motivation sei Lazare „zum Vorkämpfer“ in der Dreyfus-Affäre geworden.[9] Landauer und Rudolf Rocker setzten sich ebenfalls am Ende des 19. Jahrhunderts mit der Dreyfus-Affäre auseinander, obwohl Landauer, wie er schrieb, als Jude, Deutscher und „Antipolitiker“ eigentlich zu schweigen habe. Jedoch müsse sich die anarchistische Linke gegen einen Justizskandal aussprechen und engagieren, um den es sich bei dem Gerichtsprozess gegen Alfred Dreyfus eindeutig handle:
Zu Unrecht verurteilt – heißt noch nicht: unschuldig; das zu behaupten, ist Sache der privaten Überzeugung; bewiesen ist es noch nicht, festgestellt ist nur: Der Mann, der einem im Übrigen nicht im mindesten sympathisch zu sein braucht, ist verurteilt worden, ohne dass ihm irgendetwas nachgewiesen wurde.[10]
Rudolf Rocker sprach sich mehrmals öffentlich gegen Judenfeindschaft aus – auch innerhalb der politischen Linken.[11] Er war kein Jude und gleichwohl in London in der jüdischen Arbeiterbewegung aktiv.[12] 1903 waren Rocker und Milly Witkop dabei, als vornehmlich jüdische Proletarierinnen und Proletarier in London gegen das Pogrom von Kiew demonstrierten. Dabei wurde eine Grußadresse von Peter Kropotkin verlesen.[13] Zehn Jahre später wurde, wieder in Kiew, Mendel Beilis, ein Jude, unter der Anklage vor Gericht gestellt, er habe einen christlichen Jungen getötet. Gustav Landauer und Erich Mühsam verwiesen auf die lange Geschichte des Ritualmordvorwurfs. Mühsam schrieb über den Antisemitismus, dieser sei „kein ehrliches Draufgehen mit sauberen Waffen, sondern ein schleichendes Verleumden“.[14]
In seinem Text „Antisemitismus und Nationalsozialismus“ erklärt Moishe Postone Antisemitismus in der Linken mit einem fetischisierten, personifizierten Antikapitalismus und verweist als Beispiel dafür auf Pierre-Joseph Proudhon. Proudhon könne, so Postone, „in dieser Hinsicht als einer der geistigen Vorläufer des modernen Antisemitismus gelten“.[15] Jürgen Mümken kritisiert in dem gleichen Sinn, dass sich bei den frühen Anarchisten wie Proudhon, Bakunin und Landauer eine „Sehnsucht nach den Lebensformen einer vorkapitalistischen Gesellschaft“ feststellen lasse.[16] Trotzdem zeigt der Sammelband „Antisemit, das geht nicht unter Menschen“, dass Proudhons Haltung für die anarchistische Bewegung nicht repräsentativ ist. Einerseits waren die anarchistischen Positionen, die sich wenig mit der strukturellen Herrschaft des Kapitals auseinandersetzten, anfällig für eine personifizierende Wahrnehmung des Kapitals, in die sich antisemitische Stereotype leicht einfügten. Aber das galt auch für die sozialistische und kommunistische Linke.[17] Auf der anderen Seite existierte innerhalb der anarchistischen Linken früh ein Bewusstsein, dass es außer dem Kapitalismus noch andere Herrschaftsformen gab und dass nicht alle Diskriminierungen mit der Aufhebung der ökonomischen Herrschaft verschwinden würden. Rudolf Rocker vertrat die Auffassung, dass Phänomene wie Antisemitismus und Rassismus
nie reinen Wirtschaftsverhältnissen [entspringen], sondern müssen auch psychologisch beurteilt werden, wenn man ihnen auf den Grund kommen will. Es sind psychologische Probleme, weil ihre unmittelbaren Ursachen uns nicht angeboren, sondern anerzogen werden.[18]
Dem Sammelband sind viele Leserinnen und Leser zu wünschen. Es sind nur zwei Kritikpunkte anzumerken: Zum einen finden sich viele grundsätzliche Informationen lediglich in den Fußnoten. Zum anderen entspricht das Cover, das eine israelische Fahne und die Mauer zwischen Israel und dem Westjordanland zeigt, einem traditionslinken Bedürfnis, das Problem Judenfeindschaft am Nahost-Konflikt festzumachen. Dabei endet „Antisemit, das geht nicht unter Menschen“, Band 1, mit der israelischen Staatsgründung, und mehr als die Hälfte der Texte beschäftigen sich gar nicht mit dem Zionismus. (Der zweite Band mit dem Schwerpunkt Von der Staatsgründung bis heute ist noch für 2014 angekündigt.) Wie immer in solchen Fällen ließen sich für jede Position zum Antisemitismus weitere Beispiele anführen, die in dem vorliegenden Band lediglich kurz erwähnt werden. Doch die lassen sich in früheren Veröffentlichungen der Edition AV nachlesen, die sich schon lange damit verdient macht, Klassiker der anarchistischen Theorie neu aufzulegen. Bereits vor zehn Jahren veröffentlichte der Verlag Alexander Berkmans Der bolschewistische Mythos. Tagebuch aus der russischen Revolution 1920-1922 wieder, in dem er beschreibt, wie Judenfeindschaft unter bolschewistischer Herrschaft fortbesteht.[19] Emma Goldman stellte die Gespräche, die sie und Berkman Anfang der 1920er Jahre mit Jüdinnen und Juden in Sowjetrussland geführt hatte, ganz ähnlich dar.[20] Aber schon jetzt haben Jürgen Mümken und Siegbert Wolf notwendige Materialien und Analysen zusammengetragen. Die überfällige Debatte über das Thema „Die anarchistische Linke und der Antisemitismus“ kann beginnen.
Jürgen Mümken/Siegbert Wolf (Hg.): „Antisemit, das geht nicht unter Menschen“. Anarchistische Positionen zu Antisemitismus, Zionismus und Israel, Band 1: Von Proudhon bis zur Staatsgründung, Lich (Hessen): Edition AV 2013, 295 S., € 18,-, Bestellen?
[1] Jürgen Mümken/Siegbert Wolf (Hg.): „Antisemit, das geht nicht unter Menschen“. Anarchistische Positionen zu Antisemitismus, Zionismus und Israel, Band 1: Von Proudhon bis zur Staatsgründung, Lich (Hessen): Edition AV 2013, S. 31.
[2] Pierre-Joseph Proudhon: Carnets, 26. Dezember 1847, zitiert nach: Mina Graur: Anarchismus und Zionismus. Die Debatte über den jüdischen Nationalismus, in: Mümken/Wolf (Hg.): „Antisemit, das geht nicht unter Menschen“, S. 159-176, hier: S. 164, Fußnote 16.
[3] Werner Portmann: Proudhon und das Judentum, ein kompliziertes Verhältnis, in: Mümken/Wolf (Hg.): „Antisemit, das geht nicht unter Menschen“, S. 39-79, hier: S. 62.
[4] Portmann: Proudhon und das Judentum, S. 72-73.
[5] Michael Bakunin: Persönliche Beziehung zu Marx (Ende 1871) – Auszug, in: Mümken/Wolf (Hg.): „Antisemit, das geht nicht unter Menschen“, S. 80-84, hier: S. 83.
[6] Moishe Postone: Antisemitismus und Nationalsozialismus [1979], übersetzt von Dan Diner/Renate Schumacher, in: Ders.: Deutschland, die Linke und der Holocaust. Politische Interventionen, Freiburg im Breisgau: ça ira 2005, 165-194, hier: S. 179.
[7] Gustav Landauer, Brief an Heinrich Dehmel, 16. Okt. 1913, in: Ders.: Ausgewählte Schriften. Band 4: Nation, Krieg und Revolution, Lich (Hessen): Edition AV 2011, S. 77f.
[8] Hans Kohn: Bernard Lazare und die Dreyfus-Affäre [1924], in: Mümken/Wolf (Hg.): „Antisemit, das geht nicht unter Menschen“, S. 87-93, hier: S. 87
[9] Ebd.
[10] Gustav Landauer: Der Dichter als Ankläger [1898], in: Mümken/Wolf (Hg.): „Antisemit, das geht nicht unter Menschen“, S. 94-102, hier: S. 96.
[11] Rudolf Rocker: Antisemitismus und Judenpogrome [1923], in: Mümken/Wolf (Hg.): „Antisemit, das geht nicht unter Menschen“, S. 132-138. Ders.: Der Nimbus des Blödsinns, in: Der Syndikalist 35, 1925.
[12] Siehe seine Schilderungen in: Rudolf Rocker: Nationalsozialismus und Judentum, in: Mümken/Wolf (Hg.): „Antisemit, das geht nicht unter Menschen“, S. 247-261.
[13] Ein Brief Peter Kropotkins, übersetzt von Max Nacht, in: Mümken/Wolf (Hg.): „Antisemit, das geht nicht unter Menschen“, S. 108-111.
[14] Erich Mühsam: Ritualmord [1913], in: Mümken/Wolf (Hg.): „Antisemit, das geht nicht unter Menschen“, S. 123-124, hier: S. 124.
[15] Postone: Antisemitismus und Nationalsozialismus, S. 185, Fußnote 14. Siehe auch Gerhard Hanloser: Krise und Antisemitismus, Münster: Unrast 2003, S. 25.
[16] Jürgen Mümken: Anarchismus, Utopie und jüdischer Messianismus, in: Ders./Wolf (Hg.): „Antisemit, das geht nicht unter Menschen“, S. 239-246, hier: S. 240.
[17] Stephan Grigat: Fetisch und Freiheit. Über die Rezeption der Marxschen Fetischkritik, die Emanzipation von Staat und Kapital und die Kritik des Antisemitismus, Freiburg im Breisgau: ça ira 2007. Olaf Kistenmacher: Vom „Judas“ zum „Judenkapital“. Antisemitische Denkformen in der KPD der Weimarer Republik, 1919–1933, in: Matthias Brosch/ u. a. (Hg.): Exklusive Solidarität. Linker Antisemitismus in Deutschland. Vom Idealismus zur Antiglobalisierungsbewegung, Berlin: Metropol 2007, S. 69-86.
[18] Rudolf Rocker: David Edelstat und die heutige Zeit, zitiert nach: Siegbert Wolf: Milly Witkop und Rudolf Rocker, der Nationalsozialismus und die Zeit des Zweiten Weltkriegs, in: ders./Mümken (Hg.): „Antisemit, das geht nicht unter Menschen“, S. 275-288, hier: S. 278-279.
[19] Alexander Berkman: Der bolschewistische Mythos. Tagebuch aus der russischen Revolution 1920-1922, übersetzt von Michael Halfbrodt, Frankfurt am Main 2004, zweite Auflage.
[20] Olaf Kistenmacher: „Mein Leben war mit dem der Juden verknüpft“. Emma Goldmans Autobiografie „Gelebtes Leben“, in: Jungle World 11, 17. März 2011.
Leserbriefe