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Auf der Suche nach einer Sprache

Ein junger israelischer Schriftsteller erforscht das Museum in seinem Kibbuz – und stößt auf Verdrängtes und eine Geschichte ohne Ende…

Tomer Gardi: Stein, PapierVon Hanno Loewy
Erschienen in: Der Standard v. 04.04.2014

Am Anfang steht die Frage nach dem richtigen Ende. Der israelische Schriftsteller Tomer Gardi will eine Geschichte finden, und es gibt keine Geschichte zu erzählen, ohne das richtige Ende. Immerhin hat die Geschichte einen Anfang, ein „irgendwann“.

Irgendwann hat Tomer Gardi erfahren, dass das Museum in seinem Kibbuz, das Beith Ussischkin in Dan, im nördlichsten Zipfel Israels, unter dem Berg Hermon, aus den Steinen eines zerstörten arabischen Dorfes erbaut wurde.

Später hat er noch viel mehr erfahren, irgendwann hat er begonnen, unbequeme Fragen zu stellen, und aus solchen Fragen – doch davon handelt sein Buch Stein, Papier. Eine Spurensuche in Galiläa nicht – entstand eine Gruppe junger israelischer Aktivisten, die sich mit den israelischen Gründungsmythen nicht mehr zufriedengaben.

Trockengelegter Sumpf

Tomer Gardi gab einige Jahre die Zeitschrift Sedeq (Lücke“) heraus, die sich mit der Naqba, der Katastrophe der Vertreibung der arabischen Bevölkerung aus dem entstehenden Staat Israel 1948, beschäftigt – und der Fortdauer dieser Katastrophe im Schweigen über sie. Und Zochrot, die Gruppe, die diese Zeitschrift trug und heute als Buchreihe fortführt, stellt diesem Schweigen die für israelische Verhältnisse maximale Provokation entgegen. Vor nicht allzu langer Zeit sorgte eine Einladung zu einer zweitägigen Konferenz für einen Eklat, für die Zochrot Räume im Erez Israel Museum angemietet hatte – und nach Sheikh Munis einlud, das als Adresse nicht mehr existiert. Das Dorf liegt unter dem Museum begraben.

Schon seit Jahren ist Tomer Gardi auf der Suche nach den Ursprüngen des Museums seiner Kindheit. Auf der Freitreppe vor dem Beith Ussischkin hat er gespielt. Hier wurde Geschichte und Natur ausgestellt, die Archäologie jüdischer Siedlungen im Altertum, Flora und Fauna der Chule-Senke, jenes Sees und jener Sumpflandschaft, die schon seit jeher die Fantasie israelischer Autoren beflügelt (zuletzt Zeruja Shalev in ihrem Roman Für den Rest des Lebens, wo der Chule-See ein weiblicher Sehnsuchtsort ist). Und natürlich die Trockenlegung des Sumpfes, jener Triumph menschlichen Willens über die Natur und über die Malaria.

„Ich versuche, mir das in diesem Museum Verdrängte vorzustellen, das in der Präsentation unberücksichtigt Gebliebene, oder besser gesagt: das darunter Begrabene.“ Im Museum seiner Kindheit kommen sie nicht vor, die Araber, jene „anderen“, über die man nur redete, wenn Katjuschas auf den Kibbuz regneten. „Und wenn die Katjuschas aufhörten, puff, waren auch die Flüchtlingslager verschwunden.“

Tomer Gardi macht sich auf die Suche nach Dokumenten, die ihm vermitteln können, wie dieses Museum voller „Lücken“ aber mit einem soliden Archivbestand in seinem Mauerwerk entstand, wie die Steine des zerstörten Dorfe Hounin zur Verwertung freigegeben wurden, wie die Entscheidung fiel, dass die geflohenen Bewohner nicht zurückkehren durften und endgültig vertrieben wurden, wie vier arabische Frauen, die sich noch um die Landwirtschaft dort kümmerten (die jüngste 15 Jahre alt), im Sommer 1948 von israelischen Soldaten zuerst vergewaltigt, dann hingeschlachtet und dann verscharrt wurden – aus „Rache“ für einen getöteten Kameraden.

Risse im Schweigen

Gardi ist nicht der erste Israeli, der darüber schreibt. Das Schweigen hat Risse bekommen, seitdem inzwischen auch schon älter gewordene „junge Historiker“ die Staatsgründung nicht mehr nur als Mythos betrachten. Aber Tomer Gardi ist nicht mehr bereit, darauf mit der Routine einer selbstgewissen Sprache zu antworten. Seine Fragen gehen weiter. Fragen an das Archiv und an das Museum als Institution, als Macht über die Deutung, Bewahrung und Zensur. Fragen an den Triumph über das Sumpfland und die vielen Schichten, in denen dieser Triumph widerhallt. Und er stellt Fragen an seine eigene Sprache, an die Fähigkeit, über das, was damals geschah, überhaupt in einer verständlichen, gemeinsamen Sprache sprechen zu können.

Die Männer, die sich gegenseitig treffen wollten, indem sie ihren kostbarsten „Besitz“ schändeten, ihre Namen sind bekannt: die der israelischen Soldaten und auch die der arabischen Muchtare, der Dorfoberen, die mit den Israelis über eine Rückkehr in ihr Dorf verhandeln wollten, und auch die jener israelischen Politiker, die sich mit dem Thema schon im Jahr 1948 beschäftigt haben.

Alles ist protokolliert, auch wenn das Archiv der Hagganah noch heute Dokumente schwärzt, in denen man über solche Verbrechen „zu viel“ erfahren kann. Jeder Mensch hat einen Namen, so zitiert und travestiert Gardi ein Gedicht, das längst zum israelischen Schulbuchkanon gehört. Nur die vergewaltigten und ermordeten Frauen haben keine Namen, in der Erinnerung der einen wie der anderen. Sie sind so sprachlos, so mundtot wie der trockengelegte Chule-Sumpf.

Und Gardi erspart es uns nicht, den Assoziationsraum auszuloten, der sich mit diesem Krieg gegen den Sumpf verbindet. Immer schon, so erklärt er im Gespräch, wurde in den Sumpf hineingeworfen, hineinimaginiert, wovor man, vor allem „Mann“, Angst hatte, die undomestizierte Natur, die Krankheit, das Dämonische, Geister der Toten, der gefährliche Orient, die Araber und schließlich das „Weibliche“.

Gedichte und Legenden

Gardi lotet nicht nur den Assoziationsraum zwischen Märchenfantasie und Geschichte aus, er lotet auch unsere Unfähigkeit aus, diese Doppeldeutigkeit in Sprache zu fassen. Er experimentiert mit Gedichten und Legenden, mit einer Paul Celan travestierenden Kurzprosa und Shakespeare zitierendem Drama, nicht anmaßend, sondern decouvrierend.

Das ganze Pathos unserer Sprachen fällt am Ende in sich zusammen. „Wir halten sie mit eiserner Hand und an der kurzen Leine. Trennen sie von ihren Familien, damit sie das noch viele Jahre in Erinnerung behalten. Ich würde den Arabern Arbeit, Erziehung und Kultur bei minimaler Kalorienzahl geben.“ So gibt ein gewisser Nachum Horwitz, Mitbegründer der Hashomer-Bewegung, zu Protokoll, als es darum geht, den Bewohnern von Hounin ihre Rückkehr zu verweigern. So viel zum Thema Rückkehrrecht.

Es gibt kein richtiges Ende für Gardis Geschichte. Es gibt nur die Suche nach einer Sprache, die das Verschüttete freigibt, eine Sprache, die nicht wie ein Museum auf den verschütteten Spuren einer anderen Sprache liegt – und es bleibt die Anerkennung, dass es zwischen zwei Sprachen, die aufeinanderliegen, keine Entscheidung dafür gibt, welche die richtige ist, so wie es in Israel/Palästina in Wahrheit keine Trennung in richtig und falsch, hier und dort, die eigenen und die anderen geben kann.

Tomer Gardi, „Stein, Papier. Eine Spurensuche in Galiläa“. € 27,50 / 294 Seiten, Rotpunkt Verlag, Zürich 2013, Bestellen?

Hanno Loewy, studierter Literatur- und Medienwissenschafter, leitet seit 2004 das Jüdische Museum in Hohenems (Vorarlberg), in dem soeben eine neue Ausstellung eröffnet wurde („Die ersten Europäer. Habsburger und andere Juden – eine Welt vor 1914„). Tomer Gardi war im September zu Besuch beim Literaturfestival „Israeliteratur“ in Hohenems und Zürich.

6 comments to Auf der Suche nach einer Sprache

  • Karl Pfeifer

    Immer wieder phantasieren Menschen darüber, dass in Israel Schweigen herrschte über die eigene Geschichte.
    Davon kann keine Rede sein. Bereits 1949 – noch gab es den Krieg – den die arabischen Staaten ausgelöst hatten, als sie den jungen Staat Israel am ersten Tag seines Bestehens angriffen, erschien das – später auch ins Deutsche übersetzte – Buch von S. Yishar Chirbet Chisa, in dem zum Beispiel geschildert wurde, wie die Einwohner eines arabischen Dorfes von der israelischen Armee vertrieben wurden. Yishar schildert die Soldaten als unsympathisch und die arabischen Dorfbewohner als sympathisch.
    Kriege haben die Eigenschaft, nicht gerade das Beste aller Menschen hervorzubringen. Und als jemand, der an diesem Krieg teilgenommen hat, kann ich versichern, dass in meiner Einheit darauf geachtet wurde, die grundlegenden Menschenrechte zu beachten. Damals 1948 ging gerade in Europa eine Periode zu Ende, als man Millionen Menschen von ihrer Heimat vertrieb. Das wird heute gerne „vergessen“ wenn über Israel vorschnelle Urteile gefällt werden.
    Doch wer über das damalige Israel ein vorschnelles Urteil fällt, sollte folgende Tatsache bedenken: In Israel blieben 150.000 Araber, in den von Arabern administrierten Gebieten des ehemaligen britischen Mandatsgebiet durfte kein einziger Jude bleiben.
    Was wäre passiert, wenn die arabische Seite gesiegt hätte? Nun wir sehen ja heute, wie die Konflikte in dieser Region außerhalb Israels „gelöst“ werden.
    Der psychische Bedarf, vieler Nachkommen der Täter des Holocausts ist groß, die Gewißheit zu bekommen, dass die Juden Israels sich nicht von ihren Vorfahren unterschieden haben.

  • Karl Pfeifer

    Im übrigen fand ich diese reizende Meldung heute.
    Wenn palästinensische Männer ihre Frauen schlagen, sind die Israelis schuld
    http://blog.unwatch.org/index.php/2014/04/08/un-when-palestinian-men-beat-their-wives-its-israels-fault/

  • sebastian

    Und hier ein Beitrag, wie bei uns (wie eh und je) ein verzerrtes Bild gezeichnet wird, das man bei uns nur zu bereitwillig aufnimmt:

    http://www.achgut.com/dadgdx/index.php/dadgd/article/arte_die_reise_nach_jerusalem

    • ente

      @ sebastian: I`m sry! Ich fand die 24h Jerusalem gut. Natürlich hatte sie Schwächen, wie auch nicht, meiner Meinung nach gab sie jedoch die unterschiedlichen Wahrnehmungen der Bevölkerung wieder. Das man mit so einer Sendung überall in die Fettnäpfchen tritt, war klar, aber in meinen Augen auch o.K. Wie soll man eine so tolle Stadt, die auf einem Pulverfass sitzt, denn sonst darstellen. Meinst Du die Palästinenser fanden es lustig als erklärt wurde, das ein Hausverkäufer wegen Kollaboration friedenslieb offiziell gehängt wurde, oder das das freiwillige Verlassen von Häusern aufgrund arabischer Angriffe nach dem UN-Beschluss thematisiert wurde.

      Ceterum censeo- Menschen die den Opfern des Breivik Massakers direkt danach – ohne jede Emphatie i- eine Schuld unterstellten, sollten – so sehe ich es – ihre Klappe halten, wenn es um Journalismus geht.

  • mfb

    1. Danke für den informativen Artikel.
    2. Es war schon beim Lesen des Artikels klar, dass daraufhin Carl Pfeiffer seine absonderliche Meinung abseien würde.