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„Die Sozialhygiene, das war seine Berufung“

Der jüdische Arbeitsmediziner Meyer-Brodnitz: eine Biografie…

„Ein englischer Gelehrter hat einmal die Berufskrankheiten das traurige Privileg der Arbeiterschaft genannt. Neben den übrigen Nachteilen ihrer sozialen Lage hat die Arbeiterschaft unter den speziellen Gesundheitsschädigungen zu leiden, welche die Eigenart des Produktionsprozesses und die verwendeten Materialien verursachen“, schrieb Franz Karl Meyer-Brodnitz 1927 einleitend in seinem Aufsatz „Die Berufskrankheiten“. In diesem Text untersuchte er das Einatmen von feinen Stäuben und wies eine erhöhte Sterblichkeit durch Tuberkulose bei den Arbeitern nach. Erst 1925 hatte der Deutsche Reichstag ein Gesetz zu den Berufskrankheiten auf den Weg gebracht. Insbesondere wurden Erkrankungen durch den Einfluss von diversen chemischen Substanzen wie Blei, Phosphor, Quecksilber, Arsen, Benzol und Schwefelkohlenstoff zur Kenntnis genommen. Der engagierte Arbeitsmediziner Dr. Meyer-Brodnitz sah es als seine Lebensaufgabe an, die Forschung über gesundheitliche Risiken und die Verbesserung des Arbeitsschutzes voranzubringen.

Franz Karl wurde 1897 in eine wohlhabende Bankiersfamilie hineingeboren und verbrachte eine sorgenfreie Kindheit und Jugend in der damals noch selbstständigen Stadt Charlottenburg vor den Toren Berlins. Seine Eltern sorgten für eine solide Schulausbildung. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges meldete sich der junge Mann im Alter von 17 Jahren als Oberprimaner freiwillig zum Wehrdienst. Bei Einsätzen an der West- und später an der Ostfront wurde Franz Karl verwundet und absolvierte nach seiner Genesung zunächst eine „Notreifeprüfung“, um sich dann an der Berliner Universität zum Medizinstudium einzuschreiben. Der Student durchlief eine Sanitätsausbildung und war dann in einem Lazarett tätig. Ab Herbst 1916 diente er bis Kriegsende als Sanitätsunteroffizier an der Westfront und wurde mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse (EK II) ausgezeichnet.

Der junge Mann nahm sein Medizinstudium wieder auf und besuchte die Universitäten in Rostock, Freiburg und Berlin. 1922 legte er das Staatsexamen ab, durchlief an der Charité seine Zeit als Medizinalpraktikant und erhielt im Sommer 1923 die Approbation. Noch im selben Jahr promovierte Franz Karl Meyer-Brodnitz zum Thema „Ueber die Ausscheidung des Radiothoriums durch den Harn und den Magendarmkanal mit besonderer Berücksichtigung der Pankreasdrüse“.

Bedingt durch seine Kriegserfahrungen hegte der junge Arzt starke Sympathie mit pazifistischen Überzeugungen und wandte sich der Sozialdemokratie zu. Er beschäftigte sich intensiv mit Gesundheits- und Sozialpolitik. Da nach seiner Ansicht die ausreichende und effektive medizinische Versorgung der Arbeiterklasse nur durch Schaffung von Ambulatorien und Polikliniken zu erreichen war, nahm er ab Sommer 1924 eine ärztliche Tätigkeit in einem Ambulatorium der Krankenkassen Berlins auf. Neben seiner diagnostischen und therapeutischen Arbeit befasste sich Dr. Meyer-Brodnitz mit der Erfassung von beruflich bedingten Erkrankungen. Ab 1927 forschte und lehrte der Arzt im Dienste des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) Gewerbehygiene und Arbeitsschutz und setzte sich für bessere Arbeitsbedingungen ein. Meyer-Brodnitz war auch als kassenärztlicher Gutachter und Vertrauensarzt tätig. Mit der „Machtübernahme“ der Nationalsozialisten begann ein langer und letztlich aussichtsloser Kampf um seine Zulassung. Mehrfach wurde ihm diese entzogen und auf Beschwerde, bis hin zum Reichsarbeiterministerium, wegen seiner Kriegsteilnahme wieder erteilt. Nachdem ihm 1934 seine Wohnung mit den Praxisräumen gekündigt wurde, sah der Mediziner keine Zukunft mehr in Deutschland. Mit seiner Frau Vilma, die er kurz vor der Emigration geheiratet hatte, verließ er im November 1935 Berlin in Richtung Palästina.

Obwohl sich Dr. Meyer-Brodnitz bewusst war, dass er seiner Heimat wahrscheinlich für immer den Rücken kehrte, er nahm auch einen großen Teil seines Hausstandes mit, hoffte der deutsch-jüdische Arzt, dass er doch eines Tages zurückkehren könne, wie der Passus in dem Abmeldeschreiben an die Kassenärztliche Vereinigung – seine Zulassung als „vorläufig ruhend anzusehen“ –  deutlich dokumentiert. Nachdem Vilma und Franz Karl zunächst bei Verwandten in Tel Aviv Unterschlupf fanden, gelang es Dr. Meyer-Brodnitz eine der begehrten Arzt-Lizenzen zu erhalten. Er eröffnete in Haifa eine Privatpraxis und versuchte in der nahezu unbekannten Gewerbehygiene (Arbeitsmedizin) in Palästina Fuß zu fassen. Ende 1936 entwickelte er einen Plan „Zur Nutzbarmachung ärztlicher Kräfte für den Gesundheitsschutz in der Industrie“ und forderte „Unfallsprechstunden in den Industriebezirken Haifa und Tel Aviv“. Zudem suchte er Kontakt zu Benno Chajot, einem ebenfalls aus Berlin geflohenen Mediziner und Sozialhygieniker. Gleichzeitig gründete Meyer-Brodnitz mit weiteren jüdischen Ärzten wie etwa Elias Auerbach oder Bruno Ostrowsky den Verein „Orbis Orientalis“, mit dem sie sich solidarisch vereint den Problemen in Palästina stellen wollten. Trotz des aktiven „networking“ kämpfte Franz Karl Meyer-Brodnitz mit großen existenziellen Nöten. Seine Ersparnisse schmolzen dahin. Viele seiner Privatpatienten, darunter auch der Literat Arnold Zweig, waren gleichfalls deutsche Emigranten, die oft mittellos waren und ihre Rechnung nicht begleichen konnten. „Ja, und wenn man nicht zahlen konnte, hat man eben nicht bezahlt. Davon zu leben, war nicht“, erinnert sich der erstgeborene Sohn Michael rückblickend. Dr. Meyer-Brodnitz hatte zwei Söhne, den 1936 geborenen Michael und den vier Jahre jüngeren Rafael.

Dr. Franz Karl Meyer-Brodnitz in seiner Praxis in Haifa (ca. 1936), Foto: © Michael Meyer-Brodnitz
Dr. Franz Karl Meyer-Brodnitz in seiner Praxis in Haifa (ca. 1936), Foto: © Michael Meyer-Brodnitz

Erst 1942 gelang es dem Arzt, seine sozialmedizinischen Vorstellungen in der Kommission für Gewerbe und Sozialhygiene der Gewerkschaft „Histadrut“ zu Gehör zu bringen. Seine Aufgabe war es, die Situation in einigen Haifaer Fabriken unter arbeitsmedizinischen Gesichtspunkten zu untersuchen. Doch zu diesem Zeitpunkt war Meyer-Brodnitz schon schwer erkrankt. „Als er von der Besichtigung zurückkam, hatte er einen Anfall“, erinnerte sich Ehefrau Vilma. Sein Gesundheitszustand war besorgniserregend, er hatte Schmerzen in der Brust und hustete Blut: „Es war für ihn zu spät!“ Im November 1942 wurde Meyer-Brodnitz zur Beobachtung ins Beilison-Krankenhaus in Petach Tikwa gebracht. Diagnose: Lungenkrebs. Vier Monate später, im März 1943 starb Dr. Franz Karl Meyer-Brodnitz im Hadassah-Krankenhaus in Jerusalem.

Obwohl Meyer-Brodnitz mit zu den Gründervätern der deutschen Arbeitsmedizin gehörte, zahlreiche wissenschaftliche Aufsätze und Artikel zeugen davon, war es ihm nicht vergönnt, die Früchte seiner Arbeit ernten zu können. Nach Demütigungen, Ausgrenzung und Vertreibung fiel er zudem noch der Vergessenheit anheim.

»Ja, daran hing sein Herz ...«: Der Gewerbehygieniker und engagierte Gewerkschafter Franz Karl Meyer-Brodnitz (1897-1943)Die Ärztin Gine Elsner und die Sozialwissenschaftlerin Verena Steinecke haben dem Mediziner und Sozialdemokraten, Dr. Franz Karl Meyer-Brodnitz, mit ihrem Buch die Würdigung erteilt, die er schon längst verdient hätte. Anschaulich ist es ihnen gelungen, das Leben eines engagierten Arztes nachzuzeichnen und in den Kontext der politischen und sozialen Umbrüche des 20. Jahrhunderts einzuordnen. Vor dem Hintergrund des Ersten Weltkrieges, der Weimarer Republik und den frühen Jahren der NS-Herrschaft beschreiben sie den Lebensweg eines linksorientierten deutschen Juden, der aus seiner Heimat vertrieben wurde und unter schwierigen Bedingungen einen Neuanfang in Palästina wagen musste. Ein gelungenes, mit Empathie und Sachkenntnis geschriebenes Portrait eines Menschen. (jgt)

Gine Elsner/Verena Steinecke, „Ja, daran hing sein Herz…“. Der Gewerbehygieniker und engagierte Gewerkschaftler Franz Karl Meyer-Brodnitz (1897–1943), Hamburg 2013, 268 Seiten, 18,80 €, Bestellen?

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