Geraubte jüdische Bücher und Kulturgüter nach 1945…
„Es ist bestimmt keine Übertreibung, wenn man behauptet, dass es keine Stadt mehr in Deutschland, vielleicht in ganz Europa gibt, die eine solche Zahl von hebräischen Büchern in ihren Mauern beherbergt“, erinnerte sich Rabbiner Severin Rochmann nach dem Besuch des „Offenbach Archival Depot“ (OAD). Dieser zentrale Aufbewahrungsort für sichergestelltes sogenanntes NS-Raubgut befand sich ab 1946 in einem Fabrikgebäude des Chemieunternehmens I.G. Farben im hessischen Offenbach.
Während der nationalsozialistischen Terrorherrschaft waren in ganz Europa jüdische Lehrhäuser und Synagogen, wissenschaftliche Bibliotheken und Archive geplündert worden; die Publikationen wurden anschließend etwa dem „Institut zur Erforschung der Judenfrage in Frankfurt“, dem „Lehrstuhl für jüdische Geschichte und Sprache an der Reichsuniversität in Posen“ oder der „Stürmer-Bibliothek“ des NSDAP Gauleiters von Franken, Julius Streicher, einverleibt. Nach dem Krieg lagerte die US-Militärregierung das aufgefundene Material im OAD ein, um es anschließend zu restituieren. Die meisten der über drei Millionen Bücher konnten zurückgegeben werden, nur bei einigen hunderttausend Bänden – darunter befanden sich jüdische Nachschlagewerke, Wörterbücher, Klassiker der jiddischen und hebräischen Literatur sowie rabbinische Werke – waren die rechtmäßigen Eigentümer nicht festzustellen.
Tausende von unsortierten Büchern jüdischer Provenienz. Foto: aus dem besprochenen Band (Yad Vashem Archive)
Die im Jahr 1947 in New York gegründete „Jewish Cultural Reconstruction“ (JCR), eine Organisation von Intellektuellen, die den kulturellen Wiederaufbau jüdischen Lebens zu ihrem Ziel erklärt hatte, nahm sich gemeinsam mit der US-amerikanischen Militärregierung der Rückerstattung von geraubten Büchern und weiteren jüdischen Kulturgütern in Europa an. Angeregt und begleitet wurde diese Initiative von bedeutenden jüdischen Gelehrten wie etwa Hannah Arendt, Gershom Scholem oder Lucy S. Dawidowicz. Die Historikerin Elisabeth Gallas, zurzeit Research Fellow am „Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien“, untersucht in ihrer Studie „Das Leichenhaus der Bücher“ die weitgehend vergessene Geschichte und Bedeutung des JCR und beschreibt dabei detailliert die Umstände und Schwierigkeiten der kulturellen Rückerstattung in der Nachkriegszeit. Gleichzeitig werden rechtliche und moralische Probleme der Restitution thematisiert sowie fundamentale Fragen der jüdischen Existenz nach der Shoa diskutiert.
Bei einigen hunderttausend Büchern und Objekten gestaltete sich die Suche nach Erben des geraubten Eigentums der ermordeten Juden als schwierig oder blieb sogar ergebnislos. In diesen Fällen organisierte die JCR die Übergabe der besitzlosen Kulturgüter an jüdische Bibliotheken, Hochschulen und Archive in den USA oder Israel. Einen Anspruch der neu entstandenen jüdischen Gemeinden in Deutschland auf die „stummen Zeugen des Massenmordes“, wie Lucy S. Dawidowicz die letzten Relikte der Millionen Ermordeten nannte, schloss die JCR-Führung kategorisch aus. Sie war der festen Überzeugung, dass diese im Land der Täter gegründeten „Ghost Communities“ langfristig keinen Bestand haben würden. Aber auch die Vertreter des Jischuw, die sich als rechtmäßige Erben des herrenlosen jüdischen Eigentums betrachteten, stritten mit der „Jewish Cultural Reconstruction“ über die Bücher. Während seines Besuches im OAD schmuggelte Gershom Scholem daher 1.000 kostbare Druckwerke und Handschriften nach Palästina, um sie der späteren israelischen Nationalbibliothek zu übergeben.
Gershom Scholem von der Hebräischen Universität Jerusalem begutachtet und identifiziert geraubte Bücher. Foto: aus dem besprochenen Band (Yad Vashem Archive)
Elisabeth Gallas’ fundierte und quellengesättigte Studie ist verständlich geschrieben und somit auch für Nichthistoriker zu empfehlen; das äußerst informative Buch beleuchtet ein kaum beachtetes Kapitel innerhalb der Debatte über „NS-verfolgungsbedingt entzogene Kulturgüter“, wie der nationalsozialistische Raubzug an jüdischem Eigentum etwas sperrig genannt wird. – (jgt)
Elisabeth Gallas, Das Leichenhaus der Bücher. Kulturrestitution und jüdisches Geschichtsdenken nach 1945, Göttingen 2013, 351 Seiten, 64,99 €, Bestellen?
„Einen Anspruch der neu entstandenen jüdischen Gemeinden in Deutschland auf die „stummen Zeugen des Massenmordes“, wie Lucy S. Dawidowicz die letzten Relikte der Millionen Ermordeten nannte, schloss die JCR-Führung kategorisch aus. Sie war der festen Überzeugung, dass diese im Land der Täter gegründeten „Ghost Communities“ langfristig keinen Bestand haben würden.“
Nun – die entstandenen jüdischen Gemeinden in Deutschland haben Bestand. Wäre es nun nicht an der Zeit, die doppel-geraubten Kulturgüter zurück zu geben?