Jüdisches Kulturmuseum Augsburg dokumentiert das jüdische Leben der 1950er und 60er Jahre…
Es war eine sonderbare Zeit, geprägt von Unverständnis und Sprachlosigkeit. „Ich kann mich nicht erinnern, wann ich erfahren habe, warum ich keine Großeltern hatte und was meine Eltern vor meiner Geburt erlebt hatten. Ich habe nicht gefragt und sie haben nichts erzählt“, erinnert sich Hella Goldfein, Tochter von Esther und Mayer Fischel. Sie wurde 1953 in Augsburg geboren; ihre Eltern waren Überlebende des Konzentrationslagers Auschwitz. Ähnliche Erfahrungen machte Michael Melcer, als er als kleiner Junge Mitte der 1960er Jahre zum Religionsunterricht ins Gemeindezentrum ging und regelmäßig einer Gruppe alter Männer begegnete. „Sie waren immer da. Zumindest erinnere ich es so. Damals in meinen Augen alte Männer, mit Jacketts und Mützen oder Hüten. Sie waren wohl alle Überlebende der Shoa aus Osteuropa, die in Augsburg gelandet, gestrandet waren.“
August 1958: Konsul Ben-Yaacov und der 2. Gemeindevorsitzende Spokojny eröffnen die neuen „jüdischen Kulturräume“. Von 1963 bis zu seinem Tod 1996 stand Julius Spokojny der Jüdischen Gemeinde Augsburg als deren Präsident vor. Repro: © Jüdisches Kulturmuseums Augsburg-Schwaben
Nach dem eindrucksvollen Auftakt der auf vier Teile konzipierten Schau „Jüdisches Leben in Augsburg – Von 1945 bis zur Gegenwart“ werden nun mit „Zukunft im Land der Täter?“ die 1950er und 60er Jahre beleuchtet. Und wieder hat Kuratorin Andrea Sinn Erstaunliches geleistet, wie der reichbebilderte und mit spannenden Texten versehene Ausstellungskatalog bezeugt. Andrea Sinn führt den Leser geschickt durch ein lange verdrängtes Kapitel der jüdischen Geschichte. Sie beschreibt, wie die jüdischen Überlebenden versuchten, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen, ein neues Leben auszubauen, und dabei bestenfalls auf Desinteresse, wenn nicht gar auf deutliche Ablehnung vonseiten der deutschen Mehrheitsgesellschaft trafen. Insbesondere die negativen Erfahrungen bei den sogenannten Wiedergutmachungsverfahren rissen die kaum vernarbten Wunden des erlittenen Unrechts wieder auf. Liese Fischer etwa, die noch rechtzeitig nach England hatte flüchten können, versuchte nach 1945 das geraubte Eigentum ihrer ermordeten Eltern zurückzubekommen. Nahezu 18 Jahre musste sie warten, bis sie eine „Ausgleichzahlung“ bekam. „Es fiel mir sehr schwer, das alles zu tun“, berichtet sie. „Ich fühlte mich darüber sehr traurig. Ich glaube nicht, dass irgendeine Rückerstattung für den Tod meiner Eltern entschädigen könnte.“ Nur wenige Gegenstände aus dem Haushalt der Eltern hat Liese Fischer zurückerhalten. Darunter ein Porzellanteller, der ihr allerdings nicht im Zuge des staatlichen „Rückerstattungsverfahrens“, sondern von einer ehemaligen Nachbarin übergeben wurde. Den Teller hat sie nun als Leihgabe für die Ausstellung zur Verfügung gestellt.
Wie der Mehrheit der nichtjüdischen Bürger bescherte das „Deutsche Wirtschaftswunder“ auch manchem Überlebenden der Shoa wirtschaftlichen Erfolg und Wohlstand. Die steigende Nachfrage nach Wäsche und Bekleidung nutzten einige Augsburger Juden, um in die Textilbranche einzusteigen. Nachdem etwa Mayer Fischel und seine Brüder zunächst ein Handelsgeschäft für Farben und Lacke eröffneten, folgte später die im Zentrum von Augsburg gelegene Textilfirma Fischel & Co. Die 1954 vom polnisch-jüdischen Kaufmann Hermann Bader gegründete Textilhandlung wurde sogar ab Anfang der 1970er Jahre unter dem Namen „Jeansbrother“zur Topadresse für die modebewusste Jugend. Doch es gab nicht nur Erfolgsgeschichten. Vielen fehlte nach den langen Jahren der Verfolgung eine entsprechende Schul- und Berufsausbildung oder sie litten an psychischen Erkrankungen wie etwa Depressionen. Als Beispiel hierfür steht die Lebensgeschichte von Mieczyslaw (Mietek) Pemper. Er hatte seinerzeit an der berühmten Liste im Konzentrationslager Plaszow mitgewirkt, die als Schindlers-Liste in die Geschichtsbücher einging. Jahrzehnte sprach er nicht darüber, niemand zeigte Interesse an seinem Schicksal, obwohl er als Zeuge gegen NS-Lagerleiter Amon Göth und andere hochrangige Nazis ausgesagt hatte. Erst der Film von Steven Spielberg brach das Schweigen. Bis zu seinem Tod sprach Pemper regelmäßig als Zeitzeuge vor Schülern und Studenten.
„Auch in Augsburg verdrängte man jahrzehntelang die Vergangenheit – dieses war allerdings keine Ausnahme“, erklärt die Kuratorin Andrea Sinn, „sondern in vielen deutschen Städten die Regel.“ Obwohl das Kartell des Schweigens mittlerweile durchbrochen wurde, waren viele Fakten des jüdischen Neuanfangs in Augsburg gleichwohl kaum im öffentlichen Bewusstsein verankert. Die Ausstellung „Zukunft im Land der Täter?“ zeigt erstmals anhand von Objekten, Dokumenten, Fotografien und persönlichen Erinnerungen ein Bild unterschiedlicher und unbekannter Facetten jüdischen Lebens in der noch jungen Bundesrepublik. Besonders beeindruckend sind die Hörstationen mit den Berichten von Hella Goldfein (née Fischel) und Michael Melcer. Als Nachkommen von Shoa-Überlebenden wussten sie trotz des Schweigens der Eltern wie auch der Umwelt, dass sie keine normale Kindheit hatten, sie suchten ihren Weg, der irgendwo zwischen dem Abgrenzungsbedürfnis der Eltern und ihrem Wunsch nach Anpassung lag.
Eltern und Kinder feiern Purim im Gemeindezentrum Augsburg (1957). Repro: © Jüdisches Kulturmuseums Augsburg-Schwaben
Eine sehenswerte Ausstellung und ein lesenswerter Katalog! Gespannt warten wir auf den dritten Teil der Schau. Leider wird Andrea Sinn diese nicht mehr kuratieren. Die promovierte Historikerin folgt einem Ruf an die kalifornische Universität von Berkeley. She set the bar very high. Ihre Nachfolgerin oder ihr Nachfolger werden an ihr gemessen werden. – (jgt)
Andrea Sinn, Zukunft im Land der Täter? Jüdische Gegenwart zwischen „Wiedergutmachung“ und „Wirtschaftswunder“ 1950–1969, 96 Seiten, Euro 14,00 €, ISBN 978-3-9814958-3-6
BEGLEITPROGRAMM:
Di, 07.05.2013, 19.00 Uhr
Wiedergutmachung zwischen Kriegsende und „Ende der Nachkriegszeit“
VORTRAG von Prof. Constantin Goschler, Ruhr-Universität Bochum, Lehrstuhl für Zeitgeschichte
11.06.2013, 19.00 Uhr
„Die Teilacher“
LESUNG mit Michel Bergmann
aus seiner Trilogie zur Jüdisch-deutschen Nachkriegsgeschichte
25.06.2013, 19.00 Uhr
„Die Wohnung“
Vorführung des FILMS von Arnon Goldfinger
über die Freundschaft seiner Großeltern mit einem SS-Offizier
17.07.2013, 19.00 Uhr
Erinnerungen an Augsburg in den 50er und 60er Jahren.
Ein GESPRÄCH mit Vertretern der Zweiten Generation, die diese Zeit in der IKG Schwaben-Augsburg erlebt haben
Weitere Informationen: www.jkmas.de
Danke für den tollen Text!
Und noch ein ergänzender Hinweis, der nur halb unmittelbar zum Thema gehört:
Ich habe soeben ein tolles Interview mit der Regisseurin Bettina Brokemper über den Fil »Hannah Arendt« von Margarethe von Trotta (Regie) und Bettina Brokemper (Produktion) gelesen. Sehr empfehlenswert!:
http://jungle-world.com/artikel/2013/17/47592.html