Kategorien / Themen

Werbung

Ich und die Eingeborenen

Essays und Aufsätze von Vladimir Vertlib…

Vladimir Vertlib - Ich und die Eingeborenen„Heute würden sich viele Künstler freuen, wenn es ihnen wenigstens einmal im Leben gelänge, unangenehm aufzufallen. […] Als Provokation mag man heute den einen oder anderen Werbespot betrachten, aber sicherlich kein Theaterstück und schon gar nicht einen Roman oder ein Gedicht.“ Dennoch, so Vladimir Vertlib, habe er sich den ’subversiven Mut zur Naivität‘ bewahrt, der es ihm erlaube, das gesellschaftliche Engagement von Literatur noch immer als ein Kriterium von Qualität zu betrachten.

Der vorliegende Band versammelt erstmals Vertlibs wichtigste Essays und Rezensionen zu Politik, Gesellschaft, Geschichte und Kunst, die unsere Gegenwart an den Erfahrungen eines ‚deutsch schreibenden jüdischen Russen, der zur Zeit in Österreich lebt‘, spannungsvoll brechen.

Vladimir Vertlib, „Ich und die Eingeborenen“, Essays und Aufsätze, herausgegeben und mit einem Vorwort von Annette Teufel, 344 S., Thelem Verlag 2012, Euro 22,00, Bestellen?

Vorwort

Sein Vater, schreibt Vladimir Vertlib in seinem Essay Träume, behauptete einmal im Scherz, »er habe mir durch seine Fehler und Neurosen, die […] der Grund für unsere gescheiterten Emigrationsversuche gewesen sind, einen Erfahrungsschatz verschafft, von dem jeder andere Autor nur träumen könne.« (S. 46) Tatsächlich hat es den Anschein, als stellte Vertlibs Kindheit geradezu eine Überfülle an Material für eine schriftstellerische Laufbahn bereit: Nach seiner Emigration aus Leningrad, wo er 1966 als erstes und einziges Kind einer jüdischen Akademikerfamilie geboren wird, gerät der knapp Fünfjährige unter die >Wilden<, die »Ein­geborenen« (S. 16) – in Israel ebenso wie in Österreich, in Italien, den Niederlanden und den USA, Ländern, zwischen denen seine Familie zehn Jahre lang, vergeblich nach einer Heimat suchend, pendelt und in denen der Sohn Sprachen und Schulen permanent austauschen muss. Euphemistisch gesprochen, hat er mit 15 – als die Familie beschließt, sich in Österreich niederzulassen – die Welt gesehen.

Dass ihn diese Erfahrung »zum Schreiben« brachte – ja zwangsläufig bringen musste – ist ein gängiger Topos der Vertlib-Kritik und ein Ste­reotyp seines medial vermittelten Autorimages.1 Die hier präsentierten Texte jedoch stellen diesen Gemeinplatz in Frage: Versammelt wurden Essays zu autobiographischen und poetologischen Fragen, zu Geschichte und Gesellschaft sowie Rezensionen zu wissenschaftlichen und poetischen Texten, die Vladimir Vertlib in den vergangenen 15 Jahren veröffentlicht hat und die wir in chronologischer Folge nach dem Erscheinungsjahr der Texte und innerhalb eines Jahres alphabetisch geordnet präsentieren, er­gänzt um zwei Originalbeiträge. Die Untergliederung, für die wir uns bei der Konzeption des Bandes entschieden haben, beschreibt dabei lediglich eine Tendenz; denn Vertlibs Zugang zu seinen Themen ist allemal ein persönlicher, und er verleugnet ihn nie: Er macht sie zu seinen Themen.

Vertlibs Essays decken nun einerseits durchaus das autobiographische Fundament seiner Autorschaft auf: Die Grenzerfahrung der Emigration, der biographischen Abgründe und der Fremdheit in einer Welt von >Wilden<, ist seinen Texten eingeschrieben; sie zu vermitteln, ist ihm wichtig. Dabei geht es ihm allerdings nicht darum, die Ausnahmebiographie eines Außenseiters zu präsentieren, sondern – im Gegenteil – ein für unsere Zeit paradigmatisches Zeugnis. Wie aus der individuellen Erfahrung des Einzelnen – wie aus dem Leben, dem Erlittenen, Erlesenen und Erzählten – Literatur werden kann, ist darum eine zentrale Frage in Vertlibs Poetologie, eine Frage, in der die Umkehrung allemal mitgedacht ist: wie und wodurch Literatur auf den Einzelnen und die Gesellschaft zurückzuwirken und sie womöglich zu verändern vermag. In diesem Spannungsfeld von authentischer Erfahrung, Literarisierung und gesellschaftlichem Enga­gement bewegt sich Vertlibs Autorschaft und bewegen sich seine Essays.

Neben ihrem autobiographischen Fundament verdeutlichen sie indes ein zweites: Die Erfahrung der Emigration hat Vertlib nicht etwa zum Schreiben, sondern vielmehr zum Lesen gebracht und zum wachen Umgang mit der Welt, in der er lebt, in der wir alle leben. Am Beginn seiner Autorschaft stehen demnach Lektüren und die Vermittlung von Literatur – »Texten von Exilautoren und Holocaustüberlebenden« insbesondere, die Vertlib liest, redigiert und rezensiert. Dabei entdeckt er ein Muster – ein »Schattenbild« -, in dem er eine der Grunderfahrungen unserer Zeit erkennt: »Die Opfer des NS-Regimes«, so Vertlib, »mussten nur in der krassesten Form durchleiden, was in einer unendlichen Anzahl von Varianten tagtäglich geschieht.« (S. 183) Die in Vertlibs Essays so präsenten Geschichten aus der Geschichte sind somit keineswegs längst »vergangen«, sondern vielmehr in doppelter Hinsicht ein Schlüssel zum Verständnis der Zeit: Sie spiegeln die gegenwärtigen Diskriminierungen – und erschließen zugleich deren historische Wurzeln, ihre eigene, bedenklich lebendige Tradition.

Unermüdlich ist der Rezensent und Essayist Vladimir Vertlib daher auf der Suche nach den »Prototypen einer Welt, die sich im Umbruch befindet« (S. 329): nach Menschen, die überall fremd sind, die vertrieben wurden oder nicht ankommen können, die nicht dazugehören dürfen und wollen – oftmals alles zugleich. Er entdeckt sie in der vernichteten jiddischen Literatur von Osteuropa – die auf die furchtbarste Weise bezeugt, wie Literatur auf die Gesellschaft und auf den Einzelnen, auch den Autor, zurückwirken kann -, in den literarischen Zeugnissen der Verfolgten des Nazi-Regimes, in der postsowjetischen Literatur, in den Identitätsentwürfen jüdischer und arabischer Autoren aus Israel, in den Literaturen Frankreichs, der Niederlande und der USA, aber er macht sie auch ganz real in den Einwanderungsbehörden der westlichen Welt mit ihren »ganz gewöhnlichen« Abschiebepraktiken aus: »Maulkörbe für Menschen« inklusive. »In Gängen und Korridoren«, konstatiert Vertlib, »findet man mehr Menschen, als man glaubt.« (S. 183)

Auf paradoxe Weise erliest er sich dabei eine mehr als nur »literarische[] Heimat« (S. 180); denn durch die Lektüren erhält er nicht nur, wie er in Schattenbild sagt, »einen besseren Zugang zum Verständnis für das Land, in dem ich lebe, sondern auch zu jenen persönlichen Er­lebnissen, die ich bis dahin entweder für uninteressant oder für nicht mitteilbar hielt. Meine Essays […] sind ohne diese Leseerfahrungen nicht denkbar« (S. 183).

Vladimir Vertlib schreibt demnach weniger aus der unmittelbaren Erinnerung an die Emigration heraus denn aus der Kenntnis der Diskurse über Fremdheit und Ausgrenzung in der Literatur. Hier ist seine Autorschaft zu verorten, hier hat sie ihre Funktion: Literatur hat den Abgründen, die zu Fremdheit und Ausgrenzung führen, auf den Grund zu gehen, sie aufzuzeigen und sie – wo irgend möglich – zu überbrücken, indem das Wort des Dichters der Phrasensprache der öffentlichen Rede – »Österreich ist schön« (S. 121) beispielsweise – entgegentritt und ein »Gegenmodell« zu »den herrschenden Verhältnissen« (S. 199) entwirft. Literatur hat sich demnach in die Gesellschaft einzumischen; sie sollte, wie Vertlib unmissverständlich erklärt, engagierte Literatur sein.

Auch als Essayist und als Rezensent bleibt er diesem Credo treu: Vertlib ist ein politischer Journalist, der nachdenklich und mit Sorge die Probleme der Zeit, aber auch die Debatten und Scheingefechte verfolgt, der sich klar und aktuell positioniert – der sich einbringt: beim Minarett-Verbot in der Schweiz nicht anders als beim »Skandalthema« Günter Grass. Dasselbe gilt für den Rezensenten: Was Vertlib bespricht, ist in den meisten Fällen gesellschaftlich eingreifende, ist engagierte Literatur, die er mit ebenso großem Engagement an seine Leser vermittelt: Was er rezensiert, geht ihn an. Darum wird auch hier der persönliche Zugang zum Thema oft­mals eher betont als verdeckt, so dass der Leser der Rezensionen – etwa aus Anlass einer Besprechung von Ann Reids Blokada – durchaus auf Geschichten aus Vertlibs Familiengeschichte stoßen kann.

Insofern trifft zumindest auf Vertlibs eigene Rezensionen zu, was er für das Genre generell geltend macht: es sind >literarische Texte<. Und dennoch liegen ihnen nicht nur individuelle Kriterien zur Bewertung ihres Gegenstandes zugrunde. Die Rezensionen machen diese Kriterien deutlich – Kriterien, an denen Vertlib die von ihm besprochenen Texte misst und die insofern das Bild von engagierter Literatur, das die hier vorgelegten poetologischen Essays entwerfen, konkretisieren: »Bulgakows Roman beinhaltet«, heißt es beispielsweise über Der Meister und Margarita, »fast alles, was man von einem großen literarischen Werk des 20. Jahrhunderts erhoffen, aber in einem einzigen Buch nicht vermuten würde: Totalitarismuskritik und Politsatire, Fantasy, Slapstick, einen historischen Roman, religiöse und philosophische Reflexionen mit An­klängen an Dostojewski, eine Liebesgeschichte, ein existenzialistisches Drama und einen ironischen Kommentar zu Goethes Faust […]« (S. 308). Es geht zunächst einmal also um Themen: Themen, die einerseits aktuell und brisant, durch die Verknüpfung mit Tradition und Geschichte an­dererseits aber zeitlos sind und die noch überdies, auf einer Metaebene, reflektiert werden – vorzugsweise ironisch. Die dadurch entstehenden, hoch komplexen Zusammenhänge hat der Autor jedoch, so fordert der Rezensent, »allgemein verständlich« (S. 313) und unterhaltsam darzu­stellen. Das gilt im besten Fall auch für nichtfiktionale Literatur, wofür die Schriften des israelischen Historikers Tom Segev ein überzeugendes Beispiel sind: »Durch eine gekonnte Mischung aus fundierter Recherche, professioneller Distanz, Authentizität und szenischer Unmittelbarkeit«, stellt Vladimir Vertlib heraus, »gestaltet Segev seine Bücher spannend wie Romane.« (S. 240)

Vielleicht nicht zufällig ist Vertlib auf der Suche nach Texten, die die­sen Kriterien entsprechen, an die Orte seiner Emigration zurückgekehrt, doch er ist auch darüber hinausgegangen: nach Japan, nach Afrika, Südamerika. Und er ist fündig geworden: Was der Rezensent Vertlib seiner Leserschaft vorstellt, ist eine Literatur, die mit vollem Recht als Welt-Literatur bezeichnet werden kann – eine Weltliteratur der Fremdheit. Dass es ihm dadurch gelingt, einem deutschsprachigen Publikum Texte zu vermitteln, die hierzulande, nicht anders als in Österreich, weitgehend unbekannt sind – und dass er damit zugleich Autorinnen und Autoren, die während der NS-Diktatur zu emigrieren gezwungen waren und nicht mehr zurückgekehrt sind, in ihrer ursprünglichen Heimat überhaupt erst bekannt macht, das ist Vladimir Vertlib ein ausdrückliches Anliegen.

Die Dokumentation dieser Vermittlungsleistung in dem vorliegenden Band verknüpfen wir mit der Hoffnung, dass diese Texte und Autoren ein noch breiteres Publikum finden mögen. Denn Vertlib öffnet die Augen dafür, wie nah die Texte uns selbst und unseren eigenen Erfah­rungen – allem Anschein des Fremden zum Trotz – dennoch sind. Und auch wenn diese Texte die Welt gewiss nicht unmittelbar verändern, so verändern sie doch den Blick auf sie: Vertlibs Essays und Rezensionen ermutigen dazu, sich auf das Andere, vermeintlich Fremde, einzulassen und das Eigene darin zu erkennen.

Annette Teufel, August 2012

Leseprobe, S. 11-14, zu:
Vladimir Vertlib, „Ich und die Eingeborenen“, Essays und Aufsätze, herausgegeben und mit einem Vorwort von Annette Teufel, 344 S., Thelem Verlag 2012, Euro 22,00, Bestellen?

  1. Vgl. beispielsweise die Anmoderation zu der Sendung: Nadja Tschistjakowa: Vladimir Vertlib. [Interview.] {= Heimat, fremde Heimat, Folge 858; Erstausstrahlung im ORF, 14. Mai 2006), in der es heißt, die Exilerfahrungen »haben ihn zum Schreiben gebracht«, sowie den Kommentar anlässlich der Vorstellung von Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur, in dem von einem »Leben auf Abruf« die Rede ist, »das zum Schreiben animiert.« – Wolfgang Beyer: Vladimir Vertlib. [Porträt und Interview.] (Erstausstrahlung im ORF in der Reihe Treffpunkt Kultur, 26. März 2001). []

Comments are closed.