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Autobiografie und Lebenswerk einer Psychoanalytikerin

Vor wenigen Tagen ist die Psychoanalytikerin und Feministin Margarete Mitscherlich verstorben. Sie wurde 94 Jahre alt…

Als Tochter eines dänischen Landarztes und einer deutschen Schulrektorin machte sie noch während der Nazi-Zeit ihr Abitur, studierte Medizin und ließ sich an einer psychosomatischen Klinik nieder. Ihre gemeinsam mit ihrem Ehemann Alexander Mitscherlich verfasste Studie Die Unfähigkeit zu trauern, 1967 publiziert, fand unter der aufbegehrenden Studentenbewegung rasch Verbreitung. Hierin untersuchte sie die unzulängliche Auseinandersetzung und „Bewältigung“ des Nationalsozialismus, das Fehlen von Schuld- und Schamgefühlen.

Kürzlich ist Mitscherlichs dünnes, gut lesbares Werk Autobiografie und Lebenswerk einer Psychoanalytikerin erschienen. Im autobiografischen Rückblick setzt sie sich hierin vor allem mit der „Verarbeitung“ des Nationalsozialismus auseinander. Zur Erinnerung an ihr Wirken als Publizistin und Psychoanalytikerin stellen wir dieses Buch vor.

Rezension von Roland Kaufhold

Viele Werke mögen uns durch ihren Umfang und die Breite ihrer dargebotenen Materialien beeindrucken. Die Reihe „Wiener Vorlesungen“ wählt einen anderen Weg: Es werden die seit 1987 regelmäßig im Wiener Rathaus präsentierten dichten Vorträge prominenter Zeitgenossen in Buchform präsentiert, ohne zusätzliches Füllmaterial.

Im vorliegenden Büchlein Margarete Mitscherlichs ist dies ausgezeichnet gelungen. In dichter Weise entfaltet die 1917 in Norddeutschland, nahe der dänischen Grenze geborene Mitscherlich – beim Vortrag war sie 89 Jahre alt – im autobiografischen Rückblick das Wechselgeflecht zwischen prägenden Lebenserfahrungen und zeithistorischen Umständen.

Leitmotivisch verwendet sie, die sich zuvörderst immer als Psychoanalytikerin und Feministin verstanden hat, den Begriff des „Lebenssinns“ (S. 14). Als ihr Engagement bestimmende Wirkkräfte bezeichnet sie „Befreiung von Denkeinschränkungen, Vorurteilen, Ideologien“ (S. 12). Ein frühes Grundmotiv ihres Handels sei ihr Wunsch gewesen, „meine Mutter glücklich zu machen“ (S. 15). Ihre Mutter wiederum war von den Gefühlen einer unverarbeiteten Trauer um ihren verstorbenen Verlobten geprägt. Die traurigen Augen ihrer Mutter verstärkten ihren Wunsch, diese zu „heilen“. Gegenüber ihrem älteren Bruder empfand sie Rivalität.

Einzig in der Gegenwart ihrer Mutter habe sie als Kleinkind Gefühle der absoluten Aufgehobenheit zu entwickeln vermocht. Die emotionale Bedeutung ihres Vaters, dieser stammte aus Dänemark und war als Landarzt tätig – „ein denkbar verlässlicher, etwas zur Depression neigender Mann“ (S. 15) – vermochte sie hingegen erst im Alter angemessen zu wertschätzen. In ihrer Pubertät, sie besuchte seinerzeit ein Flensburger Gymnasium, habe sich ihre Beziehung zu ihrer Mutter etwas verändert, dennoch seien ihr Freundinnen zugleich die Freundinnen ihrer Mutter gewesen. Sie identifizierte sich mit ihrer Deutschlehrerin, was ihr einen Zugang zur Welt der Literatur erleichterte. Der Nationalsozialismus sowie die für sie symbolhafte Besetzung Dänemarks im April 1940 habe sie, bedingt durch den Einfluss ihrer Deutschlehrerin und ihrer Eltern, mit „Verachtung und Abscheu“ (S. 33) erfüllt. Zugleich hatte sie Angst vor Sanktionen; ein Leben ohne ein Studium erschien ihr unvorstellbar. „Weihnachten 1939 konnte ich sie (ihre Mutter, d. Verf.) davon überzeugen, dass man kein `Vaterlandsverräter´ sein musste, um die Niederlage des `Dritten Reiches´ im Zweiten Weltkrieg zu ersehnen“ (S. 34).

Ihr Studium der Literatur und der Medizin sowie ihr anschließendes psychoanalytisch-publizistisches Engagement für die Psychoanalyse, insbesondere seit ihrer Heirat mit Alexander Mitscherlich und der Geburt ihres (all zu früh verstorbenen) Sohnes, wird abschließend nur berührt. Die Psychoanalyse bot ihr die Möglichkeit zur Schaffung eines neuen „Ideals“ (S. 39), nach der Zeit des Nationalsozialismus. An die Stelle des Wunsches, ihre Mutter glücklich zu machen, war das Bestreben nach Selbsterkenntnis getreten: „Erkenne deine Zeit, wie wurde ich, was bin ich, wie konnte ich dieses Jahrhundert verstehen lernen, dessen Zeuge ich war?“ (S. 42). Abschließend erinnert sie an die außerordentliche Fähigkeit fast aller Deutschen, nach Kriegsende die eigenen Verbrechen zu verleugnen, zu verdrängen. Diese „seelische Mauer des Verdrängens“ – über die die Mitscherlichs bereits 1967 ein bahnbrechendes Werk publiziert haben – hielt „bis in die achtziger Jahre stand“ (S. 43). An der psychosomatischen Klinik der Universität Göttingen, die A. Mitscherlich seit 1950 geleitet hat, fanden sie nahezu niemanden, der über die Nazi-Verbrechen sprach: „Über alles wurde gesprochen, nur nicht über den Krieg, sofern es etwas über die Verbrechen der Nazis zu berichten gab“ (S. 45). Die Derealisierung der mörderischen Vergangenheit war der dominierende „Verarbeitungs“modus. Die Erinnerung wurde durch einen „fast manischen Wiederaufbau“ (S. 46) verdrängt.

Das kleine Büchlein war für mich eine anregende Lektüre. Die Mitscherlichs haben einen wichtigen Beitrag auch zum Verständnis des ewigen Antisemitismus geliefert. Diese abschließend geschilderte Szene liefert ein wesentliches Erklärungsmerkmal für den bis heute unvermindert wirkenden sekundären Antisemitismus, welcher sich heute bevorzugt hinter einer „Israelkritik“ verbirgt, jedoch der deutschen Geschichte – wie der israelische Psychoanalytiker Zvi Rix luzide dargestellt hat – inhärent ist: Mitscherlich erinnert sich: „Als die Deutschen in den fünfziger Jahren wieder ins Ausland fahren konnten, waren sie hochgradig erstaunt, dass dort fast nichts vergessen war. An die Vergangenheit erinnert zu werden, wurde nur als Böswilligkeit der ressentimentgeladenen Nachbarvölker ausgelegt“ (S. 47f.).

Margarete Mitscherlich: Autobiografie und Lebenswerk einer Psychoanalytikerin. Wiener Vorlesungen, Bd. 118 Wien (Picus Verlag), 53 S., 3. Aufl. 2011, 8.90 Euro, Bestellen?

Diese Rezension erscheint in einer der nächsten Ausgaben der Zeitschrift psychosozial. Wir danken dem Psychosozial Verlag für die Nachdruckrechte.

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