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Ein jüdischer Jules Verne

Theodor Herzl im kollektiven Gedächtnis Israels…

Von L. Joseph Heid

An der Schnellstraße Haifa/Tel Aviv, sieht man am Autobahnkreuz Richtung Jerusalem, nahe der Stadt, die seinen Namen trägt, Herzliya, linker Hand sein überdimensionales Porträt. Theodor Herzl oberhalb eines Wasserreservoirs, während unter ihm der Straßenverkehr unermüdlich dahinfließt – das hat eine tiefe Symbolik. Das Herzl-Denkmal ist ein Beitrag der Stadtverwaltung Herzliyas, um das zionistische Bewusstsein in Israel zu vertiefen. Und von Tom Segev stammt das Bonmot: „Damit der Gründervater des Judenstaates nicht umkippt, ist er in allen Richtungen mit Drahtseilen befestigt.“ Auch mehr als 100 Jahre nach seinem ersten zionistischen Auftreten ist Herzl im heutigen Israel allgegenwärtig: Keine Stadt ohne seinen Straßennamen, ganz zu schweigen von all den Institutionen, den Museen und Schulen, die seinen Namen tragen. Auf Baseball-Kappen wie auf T-Shirts – überall sein Konterfei.

Kritiker warfen dem Verfasser des „Judenstaats“ vor, Israel werde von Propheten, nicht von Diplomaten gerettet werden. Doch viele sahen in Herzl beides. Überall, wo Herzl auftrat, riss er die Menschen mit, viele glaubten, in ihm einen modernen Moses zu erkennen. Schon zu seinen Lebzeiten war er ein Mythos. Und danach erst recht. In seinem Testament heißt es etwas großspurig: „Mein Name wird nach dem Tode wachsen.“ Damit sollte er Recht behalten. Auch heute noch ist der Begriff „Prophet des Staates“, „Chose ha-medina“, allein mit seinem Namen verknüpft.

Bislang jedoch fehlte es an einer umfassenden Untersuchung zu Herzl im Kollektivgedächtnis Israels. Das hat Andrea Livnat jetzt geändert. Sie wirft einen fokussierten Blick auf die „Mainstream“-Bereiche der Gesellschaft, die um die Gedenkkultur „Herzl“ wetteifern. Es gibt ja keine Geschichte im Singular. Jede Generation schafft sich „ihren“ Herzl, der zur Vergewisserung der eigenen Identität beiträgt.

Herzl war ein realistischer Träumer – ein jüdischer Jules Verne. Seine prophetischen Worte, dass der Staat der Juden in spätestens 50 Jahren errichtet sein würde, waren im Jahre 1948 in Erfüllung gegangen. Und mit Herzls Grab auf dem nach ihm benannten Hügel in Jerusalem war ein Ort der Identifikation des jungen Staates geschaffen, der einen wichtigen Platz in der Gedenkkultur des Landes als säkularer Kristallisationspunkt der zionistischen Errungenschaften hat. Doch in der jungen Generation Israels scheint das Wissen um Herzls historische Leistungen frappierend gering: Nach einer Umfrage unter Jugendlichen, die 2004 zu Herzls 100. Todesjahr durchgeführt wurde, wussten 54 Prozent der Befragten nicht, wer Herzl war oder antworteten falsch. Noch im selben Jahr verabschiedete die Knesset ein Gesetz, dass den 10. Ijar, den 2. Mai, Herzls Geburtstag, zum offiziellen „Herzl-Tag“ erklärte. Das „Herzl“-Gesetz dient heute dem Versuch, ihn vor dem Vergessen zu retten.

Andrea Livnat hat einen grundständigen, durch leichtfüßigen Stil bestechenden Beitrag zur Erinnerungsforschung geleistet, indem sie eine Antwort darauf gibt, wie Herzls Legende in dem von ihm erträumten „Judenstaat“ weiterlebt und der „Prophet des Staates“ den Sprung aus dem Vergessen geschafft hat, während gleichzeitig das konkrete Wissen über die Person Herzls selbst deutlich abgenommen hat.

Seit einigen Jahren sind in Jerusalem und Tel Aviv allenthalben und unübersehbar Graffitis von Herzl zu sehen – eine Demonstration der Straße. Sie verweisen den Betrachter auf Herzls berühmten Satz „Wenn Ihr wollt, ist es kein Märchen“ und beklagen durch eine Abwandlung des Texts zugleich die verpassten Chancen: „Lo rozim, lo zarich…“ – „Wenn Ihr aber nicht wollt, so ist es und bleibt es ein Märchen…“ Dieser Versuch, Herzl als mahnende Ikone in den Alltag einzubringen, zielt in bemerkenswerter Weise auf die Tatsache, dass er ein zentrales Symbol des Staates Israel ist und bleibt: Seine Botschaft ist noch immer aktuell.

Andrea Livnat: Der Prophet des Staates. Theodor Herzl im kollektiven Gedächtnis Israels. Campus, Frankfurt/M. 307. S., 34,90 Euro, Bestellen?

Die Rezension erschien in: Die Welt v. 14.01.2012 und Jüdische Allgemeine v. 10.11.2011.

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