Kategorien / Themen

Werbung

Einführung in ein schwieriges Land

Urteile über Israel sind schnell gefällt. In der öffentlichen Wahrnehmung erscheint das Land fast nur noch als Kontrahent im Konflikt mit den Palästinensern und der arabischen Welt, dabei zunehmend als der Part, dem die ganze Verantwortung für alles Übel in der Region angelastet wird. Der Jüdische Verlag im Suhrkamp Verlag veröffentlicht zur rechten Zeit ein Buch, das geeignet ist, diese Verengung aufzureißen, das schnell gefällte Urteil zu relativieren, und die Komplexität in den Blick zu rücken…

Rezension von Otto Oetz

Der Autor lehrt als Philosoph und Psychoanalytiker an der Universität Tel Aviv, schreibt für die Tageszeitung Haaretz und andere internationale Zeitungen (regelmäßig für den britischen Guardian). Er versteht sich als säkularen Juden, Liberalen, sympathisiert aktiv mit der Friedensbewegung, tritt für das Gespräch mit den Palästinensern und die Zweistaatenlösung ein. Die Politik seiner Regierung kritisiert er entsprechend.

Die im Titel formulierte Einschätzung, dass Israel ein schwieriges Land sei seine internationale Verstrickung ebenso wie seine inneren Verhältnisse: Politik, weltanschauliche, religiöse Milieus. Strenger lädt zu einer kurzen Autofahrt ein: sieben km auf einer modernen „urbanen“ Straße vom Zentrum Tel Avivs in die benachbarte Stadt Bnei Brak an einem Donnerstagabend. Zwei Welten, wie sie verschiedener nicht vorgesellt werden können. Hier das pulsierende Leben ein ‚westlichen‘ lebensfrohen Stadt, dort die geschlossene Welt ultraorthodoxer Juden wie im Jerusalemer Mea Shearim. Die Straßen sind leer gefegt. Die Menschen sind zu Hause mit der Vorbereitung des am Freitag beginnenden Sabbats beschäftigt. Wirkliche Kontakte, Verstehen zwischen den einen und den anderen sind nicht denkbar. Strenger selbst ist als Kind in einer orthodoxen Familie aufgewachsen. Er kennt beide Welten, empfindet Sympathie oder wenigstens Empathie mit der anderen. Er hat lange (als säkularer Gesprächspartner) in populären Diskussionssendungen der ultraorthodoxen Radiostation Radio Kol Chai gearbeitet. Aus solcher Erfahrung und aus dieser relativen Nähe zu beiden Polen der israelischen Gesellschaft heraus konnte er ein Buch schreiben, das geeignet ist, ohne die übliche Aufgeregtheit Verständnis entstehen zu lassen sowohl für die israelische Gesellschaft als auch für die Schwierigkeiten, die der westlich geprägtes Denken innerhalb und außerhalb des Landes immer wieder mit ihr hat.

Facit: das Land hat „gegenwärtig keinen Rhythmus, keine Melodien und keine Riten mehr, die einen Großteil seiner Bevölkerung zu verbinden vermögen. Im Innern tobe ein „Kulturkampf“, der noch lange nicht beendet sei ( S. 131). Die Linken, Universalisten, Liberalen hätten das Gefühl, dass ihnen das Land immer entgleitet, mit dem zu identifizieren, ihnen schwer fällt.

In der zunehmenden Mischung aus Utraorthodoxie und nationalreligiösem Messianismus sieht Strenger eine Bedrohung der israelischen Demokratie. Und dass „ein vollends zur Macht gelangter Messianismus“ den Nahen Osten in eine apokalyptische Katastrophe stürzen könnte, schließt er nicht aus (S. 67).

Strenger beschränkt sich jedoch nicht eifernd auf dieses Urteil. Das Buch lässt spüren, dass er das Land liebt, in dem er lebt und arbeitet. Sein Leser soll verstehen, warum es so ist, wie es ist.
Er weist darauf hin, dass westliche Demokratien lange gebracht haben, um zu dem zu werden als was sie heute erscheinen. Israel sei mit der Formulierung Helmut Plessners eine „verspätete Nation“, ein Spätankömmling im Prozess der Nationen- und Staatenbildung, ein „Anachronismus, da es viele Prozesse, die moderne Demokratien nach dem zweiten Weltkrieg beendeten, noch durchzustehen“ habe. Das Land habe die Zeit nicht gehabt, „die nachholende Entwicklung in Ruhe geschehen zu lassen“, zudem in einer feindlichen Umwelt, oft unter Androhung der physischen Vernichtung (S. 49). Überhaupt spiele sich hinter dem Tumult der israelischen Politik ein tieferes Drama abspielt: die noch nicht beendete Auseinandersetzung der Juden mit der Moderne.“

Ist Strenger ein Dissident? Als er in einer Diskussionsrunde von einem der Teilnehmenden für seinen Mut als „israelischer Dissident“ gelobt wurde, hat er sich dagegen verwahrt. Er könne seine Ansichten wöchentlich in Haaretz veröffentlichen. Auch sei Israel kein repressives Regime ohne Meinungs- und Pressefreiheit. Auch arabische Abgeordnete der Knesset könnten dort ihre Positionen öffentlich vertreten. Er sei schockiert gewesen, dass sein Gesprächspartner nicht bereit war, sich auf den Sachverhalt einzulassen, dass Israels militärischen Aktionen nicht als Kriegslust sondern Antworten auf systematischen Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen oder dem Libanon waren(S. 104)

Strenger weicht keiner Frage aus, auch nicht dieser: War die Gründung Israel, der zionistische Traum also von vornherein ein Fehler? Er versucht das Land jenseits der Idealisierung und der Dämonisierung zu verstehen. Seine Antworten sind nicht ein apodiktische ‚Ja‘ oder ‚Nein‘. Er stellt sie in den Zusammenhang der gesamten jüdischen Geschichte und der jeweiligen Mehrheitsbevölkerungen zu der jüdischen Minderheit in der Diaspora. Er besteht aber auch darauf, dass Israel für den Westen als Sündenbock für enttäuschte Ideale Utopien herhalten muss, aber auch als Projektionsfläche zum Beispiel für den Konflikt zwischen dem Westen und dem Islam.

Der Grundgedanke steht am Ende der einleitenden Kapitels: „Nur eine Politik jenseits des Erlösungsbedürfnisses, die mit der Unvollständigkeit der menschlichen Existenz Frieden geschlossen hat, wird auch Israel und dem Nahmen Osten Frieden bringen können.“ Die hier formulierte Hoffnung richtet sich an alle am Konflikt Beteiligten inner- und außerhalb Israels, aber auch an die, die in der Welt mit kritischem Auge verfolgen, was im Vorderen Orient geschieht.

Dem Buch sind viele Leserinnen und Leser zu wünschen. Es leistet einen wichtigen Beitrag zur mentalen Abrüstung in der Auseinandersetzung mit den oft doch verstörenden Nachrichten aus Palästina. Nebenbei bemerkt: Strengers Darstellung kommt in gut lesbarer Sprache daher. Das Buch hilft nicht nur dem Verstehen, es schenkt nebenbei ein angenehmes Lesevergnügen.

Carlo Strenger, Israel: Einführung in ein schwieriges Land. Jüdischer Verlag im Suhrkamp 2011, 173 S., Euro 16,90, [BESTELLEN?]

Carlo Strenger, in der Schweiz geboren und aufgewachsen, ist Professor der Psychologie an der Universität Tel Aviv. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht und schreibt regelmäßig für den britischen Guardian und Israels führende liberale Zeitung Haaretz, wo er ein er ist auserdem gerne gesehener Gesprächspartner in Richard C. Schneiders Videoblog “Zwischen Jordan und Mittelmeer“.

Videoblog “Zwischen Mittelmeer und Jordan”
Ein offener Brief an Abbas
Während die Palästinenser einen eigenen Staat fordern, schreibt “Haaretz”-Kolumnist Strenger in einem offenen Brief an Präsident Abbas: “Bitte erkenn einen jüdischen Staat an”. Der eigentliche Adressat aber sei die Europäische Union, sagt der Vertreter einer Zwei-Staaten-Lösung im Gespräch mit Richard C. Schneider…
Video / mp4

Videoblog “Zwischen Mittelmeer und Jordan”
“Linke Gruppen sollen zum Schweigen gebracht werden”
Für Aufregung hat in Israel ein Gesetz gesorgt, das Boykottaufrufe gegen den Staat und die Siedler unter Strafe stellt. Kritiker befürchten, dass damit vor allem linke Gruppen zum Schweigen gebracht werden sollen. Die Demokratie werde ausgehöhlt. Richard C. Schneider hat mit Experten gesprochen…
Video / mp4

1 comment to Einführung in ein schwieriges Land