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Briefe zum Spektakel

In der Edition Tiamat sind ausgewählte Briefe des französischen Situationisten Guy Debord erschienen. Sie bieten einen Parforceritt durch die Geschichte der revolutionären Erhebungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und dokumentieren das situationistische Unverständnis des Zionismus und die Ignoranz gegenüber dem Antisemitismus…

Von Stephan Grigat

1931 geboren, wurde Guy Debord zur maßgeblichen Figur in der Situationistischen Internationale, einem Zusammenschluss von Künstlern und Gesellschaftskritikern, der von 1957 bis 1972 existierte und maßgeblich zum Aufruhr im Pariser Mai des Jahres 1968 beigetragen hat. Der wohl bekannteste Text der SI „Über das Elend im Studentenmilieu“ erschien in Massenauflagen und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. Debords 1967 publiziertes Hauptwerk „Die Gesellschaft des Spektakels“ ist bis heute einer der wichtigsten Versuche, Gesellschaftskritik jenseits und gegen den ebenso stalinistisch wie sozialdemokratisch erstarrten Traditionsmarxismus zu betreiben.

Der Begriff des Spektakels hat durch die Kritik Guy Debords Eingang in die Sozialwissenschaften gefunden, wo er heute vorrangig zur Kritik des Medien-, Kultur- und Sportgeschehens gebraucht wird. Dadurch droht allerdings sein gesellschaftssprengendes Potenzial verloren zu gehen. Je größer die Begeisterung und das Interesse für die kunst- und kulturkritischen Schriften Debords wurde, desto weniger Beachtung fand die radikale Gesellschaftskritik, die seiner Kunst- und Kulturkritik zugrunde liegt. Debord betrachtet die Gesellschaft stets unter dem Aspekt ihrer revolutionären Veränderbarkeit. Bei ihm steht der Begriff des Spektakels für den Versuch einer Reformulierung von Gesellschaftskritik im Angesicht des Scheiterns der Emanzipationsbestrebungen des Proletariats, das sich im Siegeszug des „konzentrierten Spektakels“ von Stalinismus und Faschismus ebenso ausdrücke wie im „diffusen Spektakel“ des consumer capitalism samt sozialdemokratischer Integration des Proletariats, und das sich im „integrierten Spektakel“ nach der Auflösung der Systemkonfrontation ab Ende der 1980er Jahre in der scheinbaren Alternativlosigkeit von Ausbeutung und Herrschaft fortschreibe. In seinen 1988 erschienenen „Kommentaren zur Gesellschaft des Spektakels“ fasst Debord den Begriff als „die Selbstherrschaft der zu einem Status unverantwortlicher Souveränität gelangten Warenwirtschaft und die Gesamtheit der neuen Regierungstechniken, die mit dieser Herrschaft einhergehen.”

Die nun in der Edition Tiamat publizierten ausgewählten Briefe Debords aus den Jahren 1957 bis 1994 bieten einen Parforceritt durch die Geschichte der revolutionären Erhebungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ob Algerien in den 50er und 60er-Jahren, Portugal während der Nelkenrevolution oder Spanien im Übergang vom Franquismus zur Demokratie: Debord stand stets in engem Kontakt mit kleinen linken Zirkeln, um sich über den Stand der revolutionären Sache zu informieren und in die Umbrüche wenn möglich zu intervenieren. Man erfährt einiges über die Verwandlung Italiens in „ein europäisches Labor der Konterrevolution“ und über die Arbeiterstreiks im poststalinistischen Polen der 1980er Jahre, die Debord zu den „wichtigsten Ereignissen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ zählte. Man liest über den damaligen Studentenaktivisten und heutigen Grünen-Politiker Daniel Cohn-Bendit, „der die Rolle als spektakuläres Starlet akzeptiert“ habe und über den „unfähigen Gorbatschow“. Debord äußert sich zur Anfang der 1980er-Jahre aufkommenden Debatte über „Integration“ und Migration ebenso wie zum Zusammenbruch der Ostblockstaaten, die er stets kritisiert hatte. Über die Marxisten spottete er: „Das Proletariat ist ihr heimlicher Gott.“ Anstatt seiner Anbetung forderte Debord die „Selbsterziehung des Proletariats.“ Er hielt es für unerlässlich, dass „die Mehrzahl der Arbeiter Theoretiker werden.“ Über das Ziel einer befreiten Gesellschaft notiert er: „Weder Paradies noch Ende der Geschichte. Man hätte andere Übel (und andere Freuden), das ist alles.“

„Kritik mit der Axt“

Anhand der Briefe lassen sich die Geschichte der SI und die Positionierung Debords in ihr rekonstruieren. Grundbegriffe der „Kritik des Spektakels“ werden in Auseinandersetzung mit linken Gruppen in Japan und anderen Ländern dargelegt. Dabei treten auch zwei Grundprobleme der situationistischen Kritik zu Tage, die zugleich die Differenzen der Überlegungen Debords zur Kritischen Theorie Theodor W. Adornos verdeutlichen, mit der sie oft verglichen wurde. Erstens findet an keiner Stelle die Erfahrung von Auschwitz Eingang in die revolutionstheoretischen Kategorien der Situationisten. Der größte Mangel von Debords Spektakelbegriff besteht in seiner weitgehenden Ignoranz gegenüber dem Nationalsozialismus und seinem Vernichtungsantisemitismus. Debord erörtert in seinen veröffentlichten Schriften zwar in knappen Worten den Beitrag des Faschismus zur Herausbildung des modernen Spektakels, kann ihn aber nur mit einem totalitarismustheoretischen Vokabular beschreiben. Was nicht bedeutet, dass Debord gar kein Bewusstsein von deutschen Besonderheiten gehabt hätte: Dieter Kunzelmann, später Mitbegründer der Kommune 1 in Berlin und das Paradebeispiel für einen linken Antisemiten (nach allem, was man bisher weiß, war er maßgeblich verantwortlich für den Bombenanschlag auf das jüdische Gemeindezentrum in Berlin am 9. November 1969), wurde schon früh aus der SI ausgeschlossen – auf Grund des hellsichtigen Vorwurfs des „Nationalsituationismus“.

Zweitens formuliert Debord eine Absage an die Kunst, anstatt in ihr eine Statthalterin der Befreiung zu sehen. Auch wenn er Filme drehte, sah er sich doch stets als „Anti-Künstler“, und gerade dieser Aspekt führte zu zahlreichen Ausschlüssen aus der SI, in der anfänglich deklarierte „Künstler“ noch eine wichtige Rolle gespielt hatten. Nicht dialektische Aufhebung, die sich stets eine gewisse Skepsis gegenüber dem revolutionären Furor bewahren müsste, ist sein Programm, sondern Tabula rasa, wodurch der Furor stets noch befördert wird. In den Briefen wird das an der schroffen und mitunter nahezu brutalen Sprache deutlich, die nur noch selten etwas von jener verzweifelten Zärtlichkeit erahnen lässt, die man aus den Schriften Adornos kennt. Im Politischen schlug sich das in einer fast schon naiven Begeisterung für spontane Aufstände nieder, die stets in einem merkwürdigen Widerspruch zu Debords Forderung stand, die Arbeiter müssten Dialektiker werden.

Durch die Absage an die Kunst, die mitunter notwendige Distanz zu ermöglichen vermag, steht Debord vor dem Problem, dem Spektakel mit einem Konkretismus zu begegnen, der aber merkwürdig abstrakt bleibt. Was das Lebendige ausmacht, was das demnach tote Spektakel negieren soll, bleibt unklar. Debord postuliert ein vermeintlich richtiges Leben inmitten der falschen Gesellschaft als subversive Strategie. Er überschätzt die Verpflichtung der an Emanzipation interessierten Menschen, jetzt und hier anders zu leben und gelangt in seinem autobiographischen, ebenfalls bei Tiamat auf Deutsch erhältlichen „Panegyrikus” aus dem Jahr 1989 zu einer Selbsteinschätzung, die sämtliche sich notwendigerweise ergebenden Ambivalenzen und Paradoxien einer kritischen Existenz in der spektakulären Gesellschaft ausblendet, ja negiert: „Ich habe jedenfalls bestimmt so gelebt, wie ich gefordert habe, dass man leben müsse”.

Dennoch ist Debord weit entfernt von jener Lebensphilosophie, für die sein ehemaliger Mitstreiter Raoul Vaneigem mit seinem zeitweise ausgesprochen populären „Handbuch der Lebenskunst“ und ähnlichen Publikationen die vitalistischen Stichworte lieferte. In seinen Briefen aus den späten 1970er und den 80er Jahren begegnet Debord dem Autor von „An die Lebenden“ nur mehr mit beißendem Spott. Vaneigems „Buch der Lüste“ bescheinigte er: „Es ist zur Gänze und auf einzigartige Weise repetitiv und blöd, bemüht sich um Zynismus, scheitert aber.“

Besonders verdienstvoll an dem gewissenhaft edierten Briefband ist die erstmalige Übersetzung von Artikeln, die Debord für die Zeitschrift Encyclopédie des Nuissances geschrieben hatte, in der in den 80er Jahren in Frankreich versucht wurde, die situationistische Kritik aufzugreifen und mittels einer Enzyklopädie der Schädigungen zu aktualisieren. In seinen Briefen an die Redakteure der Encyclopédie, denen die Artikel für die Zeitschrift wie jener über das Stichwort „Abschaffung“ beigefügt sind, werden grundsätzliche Probleme der Kritik in der spätbürgerlichen Gesellschaft angerissen. Debord erläutert beispielsweise Einwände gegen einen inflationären Gebrauch von Ironie, wenn er der Redaktion mitteilt: „Ironie ist objektiv ein wenig überholt angesichts der einseitigen Plumpheit, mit der die Welt ihrem Ruin entgegengeht. Schließlich (…) wird und muss Eure Ironie angesichts der Schädigungen, von denen Ihr sprecht, unvermeidlich bitter sein und riskiert in diesem Sinne, den Feind nicht so zur Verzweiflung zu bringen, wie es vor hundert oder selbst vor zwanzig Jahren der Fall gewesen wäre. Der Feind hat keinerlei gemeinsames Terrain mehr mit Euch, nicht einmal auf der Ebene der formalen Logik.“ Dagegen empfiehlt Debord: „Kritik mit der Axt (…), drohende Denunziation, Beschimpfung, Prophezeiung ad hominem.“

In der Briefauswahl finden sich auch eher entbehrliche Dinge wie Rezepte für ein reichlich albernes Revolte-Menü, beginnend mit „wütender Suppe“, endend mit „flambierter Sorbonne“, das nun wohl in jeder zweiten Anarchisten-WG nachgekocht werden würde, hätte sich dort nicht schon längst die kulinarische Konterrevolution in Form des Veganismus eingenistet. Debord war in den 1980er-Jahren von der aufkommenden ökologischen Landwirtschaft ausgesprochen angetan, aber nicht auf Grund eines reaktionären Naturromantizismus, sondern aus Gründen der Gebrauchswertkritik: Für die Encyclopédie des Nuissances schrieb er über den „extremen Verfall der Nahrung“. Nicht um einen verzichtsneurotischen Vegetarismus oder gar Veganismus war es ihm zu schaffen, sondern er lobte die Ökobauern, weil bei ihnen Rind, Kalb und Schwein von „ausgezeichneter Qualität sind, wie der erste Bissen bestätigt.“ Die „allgemeine Rückbildung der Sinnlichkeit“, die sich gerade im Desinteresse am Geschmack von Essen und Trinken zeigt, sah er mit einer „außerordentlichen Rückbildung geistiger Klarheit“ einhergehen. Und er hat Recht: wer nicht genießen kann, kann in aller Regel auch nicht denken.

Unverständnis des Zionismus

Die Ignoranz gegenüber dem Antisemitismus, welche die Situationisten und Debord mit großen Teilen jener Linken teilten, die sie ansonsten scharf und völlig zu Recht attackierten, verunmöglichte ihnen von vornherein ein Verständnis des Zionismus als Notwehrmaßnahme gegen diesen Antisemitismus. Das situationistische Unverständnis des Zionismus schlägt sich in den Briefen in kruden Thesen über den Jom Kippur-Krieg des Jahres 1973 nieder. Während Israel sich auf Grund des Überraschungsangriffs der arabischen Nachbarn an einem der höchsten jüdischen Feiertage am Beginn des Krieges an den Rand einer Niederlage gedrängt sah, behauptet Debord allen Ernstes, dass sich die Israelis „am ersten Tag absichtlich haben angreifen lassen.“ Allerdings intendiert er – und auch das unterscheidet ihn von großen Teilen der Linken – keineswegs eine plumpe Denunziation des jüdischen Staates. Vielmehr geht es ihm darum, diesen Krieg als „Gipfel des Spektakels“ zu beschreiben. Es herrsche ein „offenes Einverständnis zwischen Moskau und Washington – und zweifellos auch allen arabischen Regierungen –, um endlich zu einem Frieden zu kommen, den die kriegslüsterne arabische Bevölkerung akzeptieren kann.“

Die Unfähigkeit zur adäquaten Einschätzung Israels wurde in späteren Jahren ergänzt durch eine Fixierung der Kritik auf die USA, die 1985 für Debord zum „Herzen des Spektakels“ mutiert sind. Er jammert: „Wir haben uns zu Amerikanern gemacht“ und charakterisiert den „global-spektakulären Verfall aller Kultur“ als „amerikanischen“. Gesellschaftskritik verkommt hier zunehmend zum Geraunze über fast food und Hollywood-Kino, das in den späten Texten Debords durch einen gewissen Hang zu verschwörungstheoretischen Spekulationen komplettiert wird. Letzterer wurde allein schon dadurch befördert, dass die Mitglieder der SI sowohl in Frankreich als auch in Italien immer wieder mit ganz realen „Verschwörungen“, beispielsweise mit jenseits jeder Rechtsstaatlichkeit agierenden Geheimdiensten, konfrontiert waren, worauf Debord in seinen Briefen immer wieder Bezug nimmt. Die bis heute ungeklärte Ermordung seines französischen Verlegers Gérard Lebovici im Jahr 1984 dürfte das Ihre dazu beigetragen haben, dass Debord sich in seinen letzten Jahren immer stärker mit konkreten Herrschafts- und Manipulationsinstrumenten auseinandergesetzt hat, anstatt, was gerade eine der Stärken seiner „Gesellschaft des Spektakels“ gewesen war, die subjektlose (und sich doch durch und in den Subjekten durchsetzende) Herrschaft in der modernen Gesellschaften zu kritisieren.

Seine letzten Jahre verbrachte Debord nicht mehr in Paris, das für ihn eine zerstörte Stadt geworden war. In der Abgeschiedenheit eines Dorfes in der Auvergne sah er die heraufdämmernde Vereinnahmung seiner Person und seiner Kritik durch „Journalisten-Polizisten“ und andere Agenturen jener „Rekuperation“, mit der die SI die Rückgewinnung verlorenen Territoriums durch die spektakulären Kräfte des schlechten Bestehenden bezeichnete, also die Wiedereingliederung der Subversion mittels der Simulation von Rebellion: „Eine beunruhigende Sache (unter vielen) ist, dass man anfängt, Gutes über mich zu schreiben!“

Über die Krankheit, die ihn 1994 dazu brachte, sich das Leben zu nehmen, schrieb er am Tag seines Todes: „Es ist das Gegenteil von der Art Krankheit, die man sich durch eine bedauerliche Unvorsichtigkeit zuziehen kann. Dazu bedarf es im Gegenteil des getreuen Eigensinns eines ganzen Lebens.“

Guy Debord: Ausgewählte Briefe 1957-1994. Edition Tiamat: Berlin 2011, 353 Seiten, 28,- Euro, Bestellen?

Stephan Grigat ist Lehrbeauftragter am Institut für Philosophie der Universität Wien und Autor von „Fetisch und Freiheit. Über die Rezeption der Marxschen Fetischkritik, die Abschaffung von Staat und Kapital und die Kritik des Antisemitismus“.
Diese Rezension ist bereits erschienen in „Zwischenwelt. Literatur – Widerstand – Exil“, Nr. 3, 2011 und online beim Magazin „Prager Frühling“.  Eine Kurzfassung ist am 28.7.2011 in der „Neuen Zürcher Zeitung“ erschienen.

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