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Regressive Rebellion gegen Liberalismus und Sozialismus

Samuel Salzborn und Hans-Christian Petersen publizieren einen Sammelband, der das Gesicht des Antisemitismus in Osteuropa nachzeichnet… 

Von Martin Jander

Nach der Shoah, während des Kalten Krieges, so schien es zunächst, war der Antisemitismus in Europa verschwunden. Heute wissen wir, er war nur überdeckt. Schon früh hatten z. B. die Forscher des Frankfurter Instituts für Sozialforschung in der Bundesrepublik Deutschland ein neues Gesicht des Antisemitismus entdeckt, den Schuldabwehrantisemitismus. Bis sich ihre Erkenntnisse in der Wissenschaft und in der Öffentlichkeit durchsetzten, dauerte es freilich eine Weile.

Der Antisemitismus nach der Shoah artikuliert sich heute in Europa in etwas veränderten Gewändern, hat mit dem Antisemitismus der Deutschen in den Jahren der Naziherrschaft auf den ersten Blick nichts gemein. Immer deutlicher zeigt er sich jedoch als entscheidendes Ferment der rechtspopulistischen Bewegungen in Europa, als ein den Nationalismus überwölbendes Element. Er findet sich darüber hinaus nicht nur auf der rechten Seite des politischen Spektrums sondern auch auf der Linken und ist Teil vieler sozialer Bewegungen. Weiterhin artikuliert er sich deutlich in den Milieus der Einwanderer vorwiegend aus arabischen Ländern.

In dem hier rezensierten Sammelband von Samuel Salzborn werden Teilstücke eines, insbesondere in der politischen Linken Westeuropas, lange tabuisierten Themas abgehandelt. Es geht um Antisemitismus in den osteuropäischen Ländern, seine Geschichte und seine Gegenwart. Viele Beobachter im Westen wollte es damals nicht wahrhaben. Sollte es wirklich wahr sein, dass in den Ländern, deren Bevölkerung zu großen Teilen (wie zum Beispiel in Polen und der Tschechoslowakei) Opfer der Nationalsozialisten geworden war und die (wie zum Beispiel die Sowjetunion) darüber hinaus große Opfer für den Sturz der Naziherrschaft erbracht hatten, Antisemitismus existierte?

Dabei war die Sache selbst offensichtlich. Es war nicht zu übersehen, dass Stalin Ende der 40er Jahre eine in den Sattelitenstaaten der Sowjetunion nachvollzogene antisemitische Propagandakampagne anschob. Die Sowjetunion und die Staaten in ihrem Einflussgebiet hatten zunächst die Gründung und sogar die Bewaffnung des entstehenden Israel unterstützt und durch Waffenlieferungen entscheidend zu Israels Selbstbehauptung im Unabhängigkeitskrieg 1948 beigetragen. Als Stalin jedoch bemerkte, dass Israel nicht, wie erhofft, ein Vorposten des Sozialismus im Nahen Osten werden würde, mobilisierte er den in Russland und allen osteuropäischen Ländern tief verwurzelten Antisemitismus, um seinen Positionswechsel hin zur Unterstützung der Feinde Israels zu rechtfertigen und um sich gleichzeitig jener Menschen innerhalb und außerhalb der kommunistischen Parteien Osteuropas zu entledigen, die potentiell eine pro-westliche Politik hätten favorisieren können.

Der offene Antisemitismus Stalins und seiner Statthalter in den osteuropäischen Ländern, konnte dabei an Ressentiments anknüpfen, die in der Geschichte der jener Länder lange virulent waren und die, nach dem Zusammenbruch der Diktaturen sowjetischen Typs, wieder deutlich sichtbar geworden sind. Eben mit diesen Wurzeln des Antisemitismus in einigen Ländern Osteuropas beschäftigt sich dieses Buch. Es nimmt dabei auch den sich transformierenden Antisemitismus in den post-kommunistischen Gesellschaften in den Blick.

Vorgestellt werden Länderstudien zur Tschechischen Republik (Michal Frankl), Ungarn (Magdalena Marsovszky), Jugoslawien (Chaim Frank), Rumänien (Mariana Hausleitner), Russland und Sowjetunion (Hans-Christian Petersen), Litauen (Mordechai Zalkin) und Lettland (Svetlana Bogojavlenska). Alle Studien sind so aufgebaut, dass der Leser zunächst mit der Judenfeindschaft vor dem 2. Weltkrieg und vor der Shoah bekannt gemacht wird, daraufhin mit der Periode der Diktaturen sowjetischen Typs und im Anschluss daran wird eine kurze Skizze der Erscheinungsformen der Judenfeindschaft heute gegeben.

Die Wurzeln des Antisemitismus liegen in Ost- wie in Westeuropa in der christlichen Tradition der Gesellschaften. Unter dem Gesichtspunkt des Antisemitismus betrachtet, fällt in Osteuropa gewissermaßen lediglich die Tschechoslowakei aus dem Rahmen, die als einziges Land vor der Ära der Nazi-Herrschaft in Mittel- und Osteuropa eine demokratische Kultur und demokratische Institutionen ausbildete.

Die unterschiedlichen Gesichter der Judenfeindschaft in Osteuropa haben heute vor allem mit den unterschiedlichen Geschichten der Industrialisierung und der Nationalstaatsbildung zu tun, sowie der darin verwobenen Geschichten der Diktaturen sowjetischen Typs. Antisemiten konstruierten ihr abwertendes Judenbild in Osteuropa vor allem in zwei Richtungen. Juden werden für die Erscheinungen der Industrialisierung und Urbanisierung verantwortlich gemacht und zusätzlich für Liberalismus und Kommunismus. Antisemitische Ressentiments formen in Osteuropa eine regressive Rebellion gegen Liberalismus und Sozialismus, gegen Freiheit und Gleichheit.

Die Angriffe auf Juden und Israel als „faschistisch“, wie sie in der westlichen Linken erst mit dem Sechstage Krieg von 1967 auftauchten, kennzeichnen das Gesicht der Judenfeindschaft in Osteuropa schon kurz nach der Shoa. Mit der antisemitisch/antizionistischen Kampagne in der Sowjetunion und ihren Satellitenstaaten zu Beginn der 50er Jahre geht eine Veränderung der Perzeption des Nationalsozialismus in Osteuropa einher. Er wird reduziert auf den Kapitalismus. Damit müssen sich die osteuropäischen Gesellschaften die Frage nach der eigenen Verwicklung in den Judenmord, die Kollaboration mit den Nationalsozialisten nicht mehr beantworten und können so die Opfer von gestern zu angeblichen Tätern, Spionen und Verrätern von heute umfrisieren.

Antisemitismen heute in osteuropäischen Ländern richten sich nicht allein gegen alle Aspekte der modernen Industriegesellschaft, Juden werden als die angeblich Verantwortlichen für die mittlerweile untergegangenen Diktaturen sowjetischen Typs betrachtet. Die in einigen Ländern existierende Verwicklung in den Judenmord bzw. die Kollaboration mit den Deutschen wird ausgeblendet. Der Antisemitismus richtet sich gegen Liberalismus und Sozialismus, gegen Freiheit und Gleichheit.

Was diesen Sammelband so wichtig macht, ist nicht allein die mühevolle Sammlung von politikwissenschaftlichen Analysen zu bislang nicht sehr häufig erzählten verschiedenen Geschichten des Antisemitismus, es ist die Analyse-Methoden selbst. Samuel Salzborn und seine Mitstreiter haben ihren Blick psychologisch und kulturwissenschaftlich geschult. Sie haben damit die Schallgrenze einer lediglich am Marxismus orientierten Denkbahn verlassen und sind doch nicht bei der versimplifizierenden Extremismus-Analyse gelandet. Erst so entsteht ein klares Bild vom vollen Umfang der antisemitischen Traditionen und Gefahren in Osteuropa heute.

Hans-Christian Petersen, Samuel Salzborn (Hrsg.), Antisemitism in Eastern Europe, Frankfurt 2010, Peter Lang Verlag, 245 Seiten, ISBN 978-3-631-59828-3 (Reihe: Politische Kulturforschung, herausgegeben von Samuel Salzborn, Band 5), Bestellen?

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