Hamed Abdel-Samad, geboren 1972 bei Kairo, studierte Englisch, Französisch, Japanisch und Politik. Er arbeitete für die UNESCO, am Lehrstuhl für Islamwissenschaft der Universität Erfurt und am Institut für Jüdische Geschichte und Kultur der Universität München. Abdel-Samad ist Mitglied der Deutschen Islam Konferenz und zählt zu den profiliertesten islamischen Intellektuellen im deutschsprachigen Raum. Seine Autobiographie „Mein Abschied vom Himmel“ sorgte für Aufsehen…
Schon vor Jahren, als der heutige Politikwissenschaftler Hamed Abdel-Samad als unglücklicher Politologie-Student an einer durchschnittlichen deutschen Universität von Identitätskonflikten geplagt wurde, fiel ihm Oswald Spenglers »Der Untergang des Abendlandes« in die Hand. Zuerst glaubte er, darin alle Argumente gegen die dekadente westliche Zivilisation zu finden, die ihn als frommen Muslim so sehr überforderte.
Doch in die Schadenfreude angesichts des bevorstehenden Endes der westlichen Kultur, mischte sich bald ein Erschrecken: Der Zustand der untergehenden Zivilisation, wie Spengler ihn beschreibt, kam ihm, der gerade aus Ägypten nach Europa gekommen war, sehr bekannt vor. Wenn Spengler von einer in die Jahre gekommenen Kultur sprach, die kalt und seelenlos geworden und vom Materialismus und von formloser Gewalt unterwandert war, erkannte er die heutige islamische Welt. Er sah die vielen Muslime, die sich in der modernen Welt nicht zurechtfinden und sich in eine vorgebliche Religiosität flüchten. Er sah die aufmarschierenden Islamisten, die sich dem Geist der Zeit verschliessen und von der imaginären Urgemeinde des Islam in der Stadt Medina schwärmen…
Doch lassen wir den Autor selbst reden
(aus der Einleitung zu „Der Untergang der islamischen Welt„):
… Der Logik der Geschichte folgend, hätte die islamische Kultur spätestens nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches in den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts von der Erdoberfläche verschwinden müssen. Nach der Abschaffung des Kalifats deutete alles darauf hin, dass die Idee des Gottesstaats durch die des modernen Nationalstaats endgültig ersetzt würde, so dass alte patriarchalische Herrschaftsmuster keine Chancen mehr hätten. Doch die Gründung der Muslimbruderschaft in Ägypten im Jahr 1928 und die Entdeckung des Erdöls in Saudi-Arabien kurze Zeit danach reichten offenbar aus, um das Verschwinden des Islam aufzuhalten. Das unerwartete Geld, die Privatisierung des Dschihad und das Florieren des radikalen Wahhabismus schienen dem politischen Islam einen gewaltigen neuen Schub gegeben zu haben. Oder sollten diese Ereignisse nichts anderes als die künstliche Beatmung einer Kultur gewesen sein, die ihren Zenit längst überschritten hatte und bereits im Sterbebett lag?
Über die Zukunft der islamischen Welt zu sprechen ist nicht weniger leicht, als Gewissheit etwa über den Klimawandel zu erlangen. Wir können beobachten, dass sich große Teile der islamischen Welt vom weltlichen Wissen drastisch distanzieren und eine unversöhnliche Haltung zum Geist der Moderne einnehmen. Ferner, dass der Fundamentalismus und das Ressentiment gegenüber dem Westen geschwürartig wachsen und ihren furchtbaren Ausdruck finden in Gewalt und Ausgrenzung. Gleichzeitig laufen bei jungen Muslimen Individualisierungsprozesse ab, die exzessiv das Internet nutzen und, je nach finanzieller Situation, ebenso exzessiv moderne Verbrauchsgüter konsumieren und den alten traditionellen Strukturen nicht mehr vertrauen. Diese unterschiedlichen, parallel ablaufenden, sich wechselweise bedingenden und beeinflussenden Entwicklungen können sowohl in Demokratisierung als auch in Massenfanatismus und Gewalt münden. Es kommt darauf an, auf welche Infrastrukturen die abgekapselten Individuen treffen.
In Ländern wie dem Iran und Ägypten gedeihen sowohl die radikalen Formen des Islam als auch die Bemühungen junger Menschen, sich von diesen Formen zu befreien. Die Fronten sind verhärtet wie noch nie, und eine bittere Konfrontation ist unausweichlich. Der von Samuel Huntington beschworene »Kampf der Kulturen« ist langst Wirklichkeit geworden. Er findet nicht nur zwischen dem Islam und dem Westen statt, wie viele vermuten, sondern auch innerhalb der islamischen Welt zwischen Individualisierung und Konformitätsdruck, zwischen Kontinuität und Innovation.
Eine politische Reform sowie eine Reform des Islam liegen jedoch in weiter Ferne, da die Bildungssysteme immer noch für Loyalität statt für freies Denken werben. Mangel an Produktivität und eine wachsende Unzufriedenheit der Bevölkerung über die verfahrene politische und wirtschaftliche Situation bescheren den radikalen Islamisten immer mehr Zulauf. Selbst in den finanziell besser gestellten Golfstaaten wird gesellschaftliche und politische Öffnung als Einführung der modernsten Konsumgüter verstanden, nicht als Erneuerung des Denkens.
Insbesondere am Golf sind die Gesellschaften immer noch tief patriarchalisch geprägt, auch wenn sie sich durch ein zartes, modernes Feigenblatt zu tarnen suchen. In vielen islamischen Ländern werden Frauen zwar zur Bildung zugelassen, aber oft zugleich daran gehindert, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Die sogenannten Reformer des Islam trauen sich nach wie vor nicht an die elementaren Probleme der Kultur und der Religion heran. Reformdebatten werden zwar häufig angestossen, aber nie zu Ende geführt. Kaum jemand fragt sich: »Gibt es möglicherweise einen Geburtsfehler in unserem Glauben?«
Alle Fragen der Reform beginnen beim Koran und zerbrechen am Ende an diesem erratischen Block der islamischen Kultur. Reformer und Konservative sind nach wie vor vom heiligen Text besessen. Während die einen in ihm die Grundlage für einen Gottesstaat sehen, suchen die Reformer nach positiven Passagen in ihm, die für das moderne Leben taugen. Man schraubt am Vers rum, bis er irgendwie zu den Umständen der heutigen Gesellschaft passt. Kein Mensch traut sich zu fragen, wozu wir den Koran heute brauchen. Keiner wagt den postkoranischen Diskurs. Denn immer wenn die Reformdebatte ernst zu werden droht, werden die alten Ressentiments gegen den Westen durch politische Manipulationen aufgewühlt, um die Reformkräfte als fünfte Kolonne des Abendlandes zu diffamieren und sie dadurch leicht zu diskreditieren oder zu entsorgen. Angst vor Sanktionen, die im schlimmsten Fall mit dem eigenen Tod enden können, halten viele davon ab, in ihren Forderungen weit zu gehen… …
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Von Henryk M. Broder, Hamed Abdel-Samad
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