Einhundertachtzig Milliarden DM (also etwas über neunzig Milliarden Euro) — auf diesen Betrag schätzte der Wirtschafts-wissenschaftler Thomas Kuczynski in einem Anfang November 1999 vorgelegten Gutachten, was den ehemaligen Zwangsarbeitskräften an vorenthaltenen Löhnen nachzuzahlen sei (4)…
Vorbemerkung zum Buch „Brosamen vom Herrentisch“, ersch. im Verbrecherverlag
Von Thomas Kuczynski
Das Gutachten hatte er im Auftrag der in Bremen ansässigen Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts für die Rechtsanwälte Ed Fagan (New York) und Michael Witti (München) verfasst. Die Stiftung beriet zu jener Zeit eine Gruppe von Anwälten in historischen Fragen, vor allem bei deren „Bemühungen um die Entschädigung der Opfer von Zwangsarbeit, Vermögensenteignungen und "Arisierungen" durch deutsche Unternehmen und Behörden zur Zeit der NS-Diktatur".
Der Ausgangspunkt des Gutachtens war im Grunde der gleiche wie der von Hans Frankenthal, der als KZ-Häftling den Aufbau des Buna-Werkes der IG Farben in Auschwitz überlebt hatte. Er hatte als Grundforderung bei allen Entschädigungsverhandlungen in Sachen Zwangsarbeit formuliert:
„Den ehemaligen Sklavenarbeitern steht zumindest der bis heute nicht ausbezahlte Arbeitslohn zu."6 Zumindest, denn bei einer so formulierten Forderung wird von all dem abgesehen, was nach bürgerlichem Recht als Schmerzensgeld bezeichnet wird und im Bürgerlichen Gesetzbuch so verankert ist: „Im Falle der Verletzung des Körpers oder der Gesundheit sowie im Falle der Freiheitsentziehung kann der Verletzte auch wegen des Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine billige Entschädigung in Geld verlangen." (§ 847, Ziff. 1 BGB)
Die von Frankenthal formulierte Mindestforderung ist einleuchtend und ihre Basis so einfach, dass sie all jenen, die Löhne oder Gehälter empfangen bzw. zahlen müssen, verständlich sein sollte: Was die Zwangsarbeitskräfte damals zu wenig ausbezahlt bekommen haben, muss ihnen jetzt nachgezahlt werden. So hatte es auch der Jurist Burkhard Hess 1996 formuliert: „…massgebend ist der Lohn, den ein deutscher Arbeiter an der Stelle des ausländischen Zwangsarbeiters verdient hätte."
Die im Gutachten zu untersuchende Frage war also, wie viel ihnen damals vorenthalten worden war und wieviel sie demzufolge nachgezahlt bekommen müssten. Dabei konnte es nicht darum gehen, für konkrete Einzelfälle auszurechnen, was und wieviel nachzuzahlen sei, es ging um einen Gesamtbetrag, der aus den wirtschaftlichen Resultaten der geleisteten Zwangsarbeit abzuleiten war. Diese Resultate wurden während des Zweiten Weltkriegs erzielt, und ihre Berechnung hatte daher unabhängig davon zu erfolgen, ob die Opfer zum Zeitpunkt der Abgabe des Gutachtens (November 1999) noch am Leben waren oder nicht. Um die Höhe der Forderung zu bestimmen, war der aktuelle Wert des so ermittelten Betrags festzustellen.
Ein solches Herangehen setzt voraus, Zwangsarbeit als justiziable, von Tätern begangene Straftat zu qualifizieren. Diese Sichtweise ist in der Literatur bis heute umstritten. Insbesondere die deutsche Industrie hat sie stets scharf bekämpft, getreu der Schlusserklärung des Angeklagten Friedrich Flick in Nürnberg 1947: „Nichts wird uns davon überzeugen, dass wir Kriegsverbrecher sind."
In einem ersten Teil wird herausgearbeitet, warum und wie und von wem das Entschädigungsproblem über fünfzig Jahre hinweg verschleppt worden ist und hat verschleppt werden können. Aus der Darlegung dieses mehr juristischen Hintergrundes ergibt sich auch, warum mit den im Gutachten vorgelegten Berechnungen vom Ansatz her völliges Neuland beschritten worden ist.
Daran anschliessend werden, in einem zweiten Teil, die Methoden der Ausraubung der ehemaligen Zwangsarbeitskräfte und deren Resultate dargestellt. Es handelt sich um eine vornehmlich ökonomisch-statistische Analyse, keineswegs um eine Sozialgeschichte der Lage der Zwangsarbeitskräfte unter dem Nazifaschismus. Im Unterschied zum Gutachten, wo der Versuch unternommen werden musste, die zu leistenden Entschädigungszahlungen jenen Hauptgruppen zuzuordnen, die als Zahlungspflichtige anzusehen waren, der privaten Wirtschaft und der öffentlichen Hand, konnte dieser Aspekt nach der Verabschiedung des Stiftungsgesetzes (August 2000) weitgehend ausser Betracht bleiben. Deshalb wird der Raub nicht so sehr unter dem Gesichtspunkt „zusätzlicher Einnahmen und Gewinne" betrachtet, sondern vielmehr unter dem seiner Dimensionen und Wirkungen im makroökonomischen bzw. volkswirtschaftlichen Kontext.
In einem dritten Teil werden aktuelle — ökonomische, politische wie ideologische — Hintergründe der in den Jahren1999/2000 geführten Auseinandersetzungen um das Problem der Entschädigungen dargestellt, die Aktivitäten der Beteiligten, soweit sie bislang bekannt geworden, aber auch die Inaktivität der unbeteiligt Gebliebenen. Er erhellt damit die wichtigsten Ursachen für die ungeheure Diskrepanz zwischen dem nachgewiesenen Entschädigungsanspruch und den zugewiesenen Brosamen vom Herrentisch.
>>>Brosamen vom Herrentisch
Erste Auflage, Verbrecher Verlag Berlin 2004, www.verbrecherei.de
© Thomas Kuczynski 2004 Gestaltung, ISBN : 3-935843-37-2
- Thomas Kuczynski: Entschädigungsansprüche für Zwangsarbeit im „Dritten Reich “ auf der Basis der damals erzielten zusätzlichen Einnahmen und Gewinne. Das vollständige Gutachten wurde (ohne die vorangestellte und für den schnellen Leser gedachte Zusammenfassung) abgedruckt in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts. Jg. 15, H. 1 (März 2000), S. 15-63.
Die Zusammenfassung erschien am Tage nach der Vorstellung des Gutachtens in der Bundespressekonferenz (unwesentlich gekürzt und mit dem redaktionellen Titel „Den Zwangsarbeitern stünden 180 Milliarden Mark zu versehen“ in der Süddeutschen Zeitung, München, Jg.55, Nr.265 (16.11.1999), S. 14. - Siehe Zwei Gutachten zur Entschädigungsfrage. Redaktionelle Vorbemerkung, in: 1999, H. 1/2000, S. 12.
- Zit. nach Ulrich Sander: Wenigstens den entgangenen Arbeitslohn. In: Neues Deutschland. Berlin, Jg. 54, Nr. 291 (13.12.1999), S. 2. – Zur Biographie des wenig später (am 22. Dezember 1999) Verstorbenen siehe Hans Frankenthal: Verweigerte Rückkehr. Erfahrungen nach dem Judenmord. Frankfurt/M. 1999, sowie den Nachruf von Hans G Helms: Ein Mensch voller Zorn und Liebe. In: junge Welt. Berlin, Jg. 53, Nr. 302 (27.12.1999), S. 13., 169
- Burkhard Hess: Völker- und zivilrechtliche Beurteilung der Entschädigung für Zwangsarbeit vor dem Hintergrund neuerer Entscheidungen deutscher Gerichte. In: Entschädigung für NS-Zwangsarbeit. Rechtliche, historische und politische Aspekte. Hg. v. K. Barwig, G. Saathoff u. N. Weyde. Baden-Baden 1998, S. 69.
- Siehe etwa Cornelia Rauh-Kühne: Hitlers Hehler? Unternehmerprofite und Zwangsarbeiterlöhne. In: Historische Zeitschrift, Bd. 275 (2002), H. 1,S. l-55.-Das Fragezeichen in der Überschrift sagt alles über den Standort der Autorin aus, auch wenn sie selber meint, ihr Beitrag ,postulier[e] keine Rehabilitierung der tief in NS-Unrecht verstrickten Unternehmen im .Dritten Reich“ {ebenda, S. 55).
- TrialofWar Criminals before the Nuremberg Military Tribunals under Control Council LawNo. 10. Vol. VI: The Flick Case. Washington 1949, S. 1187.
- Zitate aus der Präambel (einschl. der Hervorhebungen) nach der Internetseite der Stiftung (http://www.stiftungsinitiative.de).
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