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LeChajim: Antäus und das Paradox der Veränderung

Die alten griechischen Mythen haben immer eine spezielle Anziehungskraft auf mich ausgeübt. Diese Geschichten von olympischen Göttern und Helden scheinen etwas vom Wesen des Menschen wiederzugeben.

Sie zeigen unverhüllt unsere Sehnsüchte und Gefühle, die wir üblicherweise unter dem Schleier der Kultur verstecken. Eine Zeit lang hatte es mir ein Mythos besonders angetan, der Mythos von Antäus.

"Öffne deine Schenkel dem Schicksal und
(wenn du es, ohne etwas zurückzuhalten, kannst)
der Welt - empfange einen Menschen."
- E. E. Cummings

Aus Arnold R. Beisser: “ Wozu brauche ich Flügel? „, Kapitel 11

Der Legende zufolge war die Erde (Gäa) die Mutter von Antäus. Wie so viele Gestalten der griechischen Mythologie war auch Antäus halb Gott, halb Mensch. Aufgrund seiner unbegrenzten Kraft herrschte er über einen Teil Nordafrikas. Immer wenn ein Fremder durch sein Land zog, forderte Antäus ihn zum Ringkampf heraus. Der Fremde wurde jedesmal besiegt. Antäus pflegte ihn dann zu töten.

Die Kämpfe waren nicht immer leicht. Manchmal gelang es einem Gegner, Antäus auf die Erde zu werfen. Aber gerade sie war die Quelle seiner unschlagbaren Stärke. Sobald er auf der Erde lag, berührte er seine Mutter, von der er frische Kräfte bekam. Im Unterschied zu seinen Widersachern wurde Antäus im Verlauf des Kampfes stärker und stärker, bis er unbesiegbar war.

Aber so kraftvoll er auch zu sein schien, in der Quelle seiner Stärke lag zugleich die Möglichkeit seiner Niederlage. Als Herkules das Reich von Antäus betrat, bekam er heraus, dass sich die wunderbaren Kräfte des Antäus durch die Berührung mit seiner Mutter erneuerten. Er hob Antäus empor und entzog ihm so die Unterstützung seiner Mutter. Dadurch machte er ihn völlig hilflos. Während Herkules ihn hoch über der Erde hielt, konnte er Antäus zermalmen.

Der Mythos von Antäus erschien mir wie eine Metapher für meine eigene Erfahrung. Denn ich war stark gewesen und fähig, mein Leben zu meistern, bis ich plötzlich hilflos wurde wie Antäus. Wie er hing ich in der Luft – ohne Verbindung zur Quelle meiner Stärke, meinem irdischen Körper. Antäus war immer noch Antäus, und ich war immer noch ich selbst, aber ohne Unterstützung waren wir beide hilflos und abgeschnitten vom Ursprung unsere physischen Kraft. Ich fühlte mich wie getrennt von den elementaren Funktionen und Handlungen, die mich getragen hatten. Ich hatte im wörtlichen Sinne keine Erde mehr unter den Füssen, denn während ich mich in der eisernen Lunge, im Bett oder im Rollstuhl befand, berührten meine Füsse fast nie den Boden.

Aber noch einschneidender war es, glaube ich, von den vielen alltäglichen Routinen abgeschnitten zu sein, mit denen sich die Menschen beschäftigen. Selbst wenn ich gearbeitet hatte, empfand ich keine physische Erschöpfung. Ich war nicht von mir aus in der Lage, so gewöhnliche Haltungen einzunehmen wie zu stehen oder zu sitzen. Ich war sogar von meinem Atem getrennt, denn es war eine Maschine, die für mich atmete. Ich hatte keine Verbindung mehr zu den gewohnten Rollen, die ich in meiner Familie, bei der Arbeit oder beim Sport gespielt hatte. Mein Platz in der Kultur war verschwunden.

Später entstand langsam eine neue Erkenntnis in mir. In mancher hinsicht geschah das, was mit mir geschehen war, auch mit vielen meiner Landsleute am Ende des 20. Jahrhunderts. Auch ihnen war der gewohnte Kontakt zur Erde abhanden gekommen. Als Bewohner von Städten und mehrstöckigen Gebäuden haben viele Menschen jede Verbindung zur Erde verloren. Sie gehen auf asphaltierten Strassen und bewegen sich ohne Kraftaufwand in Autos. Der Zusammenhang von Nahrung, Erde und Zyklen des Wetters sind dem Städter fremd. Die Arbeit ist getrennt von ihren Produkten. Nur wenige Menschen haben eine klare Vorstellung von der Verbindung zwischen ihren jeweiligen Aufgaben und dem praktischen nutzen ihrer Tätigkeit.

Die Bewegungen der kulturellen Befreiung haben viele Menschen zurückgelassen, die keine deutliche Kontinuität in ihrem Leben spüren. Sie sind von den üblichen sozialen Rollen in Ehe und Familie befreit und zugleich unschlüssig, wie sie Sicherheit und Zufriedenheit finden sollen. Sie sind sogar frei von manchen Bindungen an die eigene Biologie. So wird z.B. durch die Anti-Baby-Pille Sexualität ohne Angst von Schwangerschaft möglich.

Die Freiheit hat vielen Menschen des 20. Jahrhunderts die vertrauten Orientierungen und vorgezeichneten Lebensläufe genommen. Sie sind mit einer verwirrenden Menge an Möglichkeiten konfrontiert. In einer Welt, die sich schnell und andauernd verändert, ist die Erfahrung aus der Vergangenheit unbrauchbar. Anzunehmen, man könne sich auf sie verlassen, wird zur Behinderung. Früher oder später sind wir alle behindert, weil es unmöglich ist zu tun, was wir gerne täten. Es gibt eine Verwandtschaft zwischen der Wirkung, die meine Behinderung auf mich hat, und der Wirkung gesellschaftlicher Veränderungen auf Menschen mit gesunden Körpern. Wir kämpfen individuell, und wir kämpfen kollektiv, aber wir alle kämpfen.

In einem weiteren Sinne symbolisierten Antäus, Ödipus, Sysiphus und die anderen Helden der griechischen Mythologie den Kampf ums Überleben. Die Evolution hat uns dazu bestimmt zu kämpfen – darin sind wir alle gleich -, aber jeder Mensch muss auf seine eigene Art kämpfen und sich auf die Suche nach Sinn machen.

Ich bin durch meine Behinderung von der Welt getrennt und muss abseits von ihr im Exil leben. Dennoch bin ich auch ein Teil dieser Welt, und wie alle anderen lebe ich in einer Welt von Welten, die miteinander verbunden und verknüpft sind und einander wiederspiegeln. Was ich von meinem Standpunkt aus sehe, ist auch, was ich im Universum sehe.

Obwohl ich Gefangener meiner Wahrnehmungen bin, kann ich die Einsicht nicht vermeiden, dass es im Universum viel mehr gibt als in mir. Meine Behinderung war für mich ein weiser Lehrer, der mir manche Hinweise auf diese Einsicht gab. Sie hat mir gelegentlich den Ausgang aus meinem individuellen Gefängnis und das Licht jenseits davon gezeigt.

In meiner Kindheit habe ich gelernt, ich solle "etwas aus mir machen" und mir meinen Platz in der Welt schaffen. Es galt als eine Sache des Willens und der Anstrengung, die notwendigen Veränderung zu vollziehen, um etwas zu "werden" und einen Platz zu finden. Ich lernte, dass dieses Ziel erreichbar sei, wenn ich nur bereit wäre zu arbeiten, zu planen, mich anzustrengen und zu kämpfen.

Die Implikationen waren klar: Ich war von Anfang an "nicht genug". Es gab keinen Platz auf dieser Welt für mich, ohne dass ich ihn mir erarbeitete. Ordnung muss geschaffen werden. Ich musste mich ändern, diszipliniert sein und mich bemühen. Die Welt musste geändert werden, damit sie einen besseren Lebensraum darstellte. Selbstvervollkommnung war gefragt, und die Welt musste zivilisiert werden. Willentliche, erzwungene Veränderung stellte die einzige Art von Veränderung dar, die ich kennenlernte.

Meine Behinderung hat mich gelehrt, dass es auch eine andere Form von Veränderung gibt. Nur mit Widerstreben und aufgrund von Fehlschlägen habe ich sie entdeckt. Ich sah mich einer Situation gegenüber, die durch keinen Aufwand an Arbeit, Anstrengung, Planung oder Mühe zu bewältigen war. An allen Fronten vernichtend geschlagen, musste ich lernen, aufzugeben und anzunehmen, wie ich geworden war und nicht hatte sein wollen. Aus meiner Aufgabe und der Annahme dessen, was ich mir nicht ausgesucht hatte, erwuchs das Wissen um eine neue Art von Veränderung und eine neue Lebensweise, das ich nicht erwartet hatte. Es war eine paradoxe Veränderung.

Als ich aufhörte, zu kämpfen und an einer Änderung zu arbeiten, als ich Wege fand, anzunehmen, wie ich bereits geworden war, entdeckte ich, dass ich mich gerade dadurch veränderte. Anstatt mich behindert oder unzulänglich zu fühlen, wie ich befürchtet hatte, fühlte ich mich wieder ganz. Ich erlebte ein Wohlbefinden und eine Fülle, die ich zuvor nicht gekannt hatte. Ich fühlte mich nicht nur eins mit mir selbst, sondern auch mit dem Universum.

Es war keine Veränderung, die von Kampf, Arbeit und Mühe geprägt war, sondern eher die Entdeckung, wie es möglich ist, nicht zu kämpfen, nachzugeben, einen Schritt beiseite zu treten und die Wahrheit deutlich werden zu lassen. Es war keineswegs die tragische Wahrheit, die ich erwartet hatte.

Als ich bereit war, mich mit den Bedingungen zu konfrontieren, die mir unerträglich und undenkbar erschienen, veränderte sie sich in ihrer Wirklichkeit. Sie wurden von etwas Schrecklichem zuerst zu etwas nur Annehmbarem und dann zu etwas Interessantem und Erfüllendem. Ich erfuhr, dass es nicht immer nötig ist zu kämpfen, um seinen Platz in der Welt zu finden, denn ich entdeckte den Platz, den ich schon in mir hatte. Je mehr ich mit diesem Platz vertraut wurde und mich auf ihn verlassen konnte, desto mehr fand ich heraus, dass es auch einen Platz in der Welt für mich gab.

Ich hörte auf, mir Gedanken darüber zu machen, wie ich aus meiner misslichen Lage herauskommen könnte, und begann stattdessen, mich auf sie einzulassen. Dabei entdeckte ich, wie ihre unangenehmen und inakzeptablen Aspekte sich veränderten. Sobald ich mir gestattete, vollständig zu sein, wie und wer ich in diesem Moment war, ohne mir Gedanken über den folgenden zu machen, änderte sich dieser Moment, und ich änderte mich.

Manchmal empfinde ich die Fülle, die ich hier und jetzt erlebe, umfassender als jemals zuvor. Es gibt dann keinen Wunsch, kein Defizit, nichts Grösseres oder Kleineres, nichts Stärkeres oder Schwächeres. Es gibt nur das, was ist. Und das ist genug.

Ich empfinde es als ein Privileg, auf der Welt zu sein und das Wunder, die Majestät, den Schrecken, die Tragödie und die Komödie des Lebens zu erfahren. Ich brauche das Leben nicht zu bezwingen, indem ich es ändere. Das Leben bezwingt auch mich nicht. Auf diese Weise kann ich auch Herkules sein, der Antäus in der Luft hält. Ich bin geboren mit der Kraft des Herkules und der Schwäche des Antäus. Beide sind Seiten meines grösseren Selbst.

Erde unter mir zu haben, ist nicht so sehr eine Frage der Position meines Körpers und dessen, was er berührt, sondern mehr eine Sache des festen Kontakts mit den Realitäten. Dieser Kontakt ist unter allen Bedingungen möglich und nicht nur, wenn man mit den Füssen die Erde berührt. Aber er entsteht nur in der Unmittelbarkeit des gegenwärtigen Augenblicks und in der unmittelbaren Umgebung, in der ich lebe.

Zu sein, wer ich bin, eröffnet mir überdies auch einen Zugang zur Transzendenz. Mein Bewusstsein und meine Bewusstheit entwickeln sich auf höhere Ebenen hin, denn ich bin Teil eines evolutionären Prozesses. Die evolutionäre Entwicklung ereignet sich überall, in jedem Moment und in allem. Wenn ich einen Schimmer von ihr erblicke, komme ich mit der Macht des Universums in Verbindung, mit seiner unaufhaltsamen evolutionären Kraft. In diesem Sinne bedeutet die Erde der Realität paradoxerweise zugleich die Überwindung dessen, was hier und jetzt ist, und eine Bewegung zu dem hin, was kommt.

In den von Menschen geschmiedeten Zukunftsplänen oder in den Erinnerungen an die Vergangenheit gibt es keine wahre Kontinuität, sondern nur im Fluss jener Kontinuität, die das Erbe aller Lebewesen ist. Unsere momentanen Zustände ermöglichen es uns, uns mit den Gezeiten des Lebens zu bewegen. der Entstehung und der Auflösung aller Dinge.

Der Puls des Universums ist der Rhythmus des Lebens. Die menschliche Ausdrucksform dieses Rhythmus besteht sowohl darin, nach aussen zu gehen und sich auf die Welt einzulassen, als auch darin, sich zurückzuziehen und zu assimilieren. Es gibt Zeiten der Aktivität in der Welt und Zeiten der inneren Aktivität. Beide erfordern unsere ganze Aufmerksamkeit und unseren ganzen Einsatz.

Dieser Rhythmus entscheidet darüber, wann es Zeit ist, in die Welt einzugreifen, oder wann es darum geht, sich dem zu überlassen, was sie bereithält. Man kann ihr nur folgen, wenn man sich einer Weisheit zuwendet, die umfassender ist als eine Reihe menschlicher Glaubenssätze. Diese Weisheit kommt von innen und von aussen. Man muss sie nehmen, wie sie kommt, in diesem Moment, an diesem Ort.

Ich hatte nach einer Lösung gesucht, die ich mit meinem Verstand erfassen konnte, nach einer Idee oder Methode, an die ich mich für immer halten konnte. Das hatte mich blind gemacht für die Rhythmen und Pulse des Lebens im Universum. Ich habe nicht mehr vor, mich mir selbst oder der Welt entgegenzustellen. Ich möchte mich jenem zeit- und raumlosen Prozess anvertrauen, der paradoxerweise im Hier und Jetzt existiert.

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Hier finden Sie noch einen weiteren Beitrag von Arnold R. Beisser: Gestalttherapie und das Paradox der Veränderung

Frank-M. Staemmler: Vorwort: Dieses Buch war längst überfällig. Jahrzehntelang waren Arnold Beissers Schriften nicht in deutscher Sprache erhältlich – und das, obwohl sie aus der Geschichte der Gestalttherapie und aus ihrer Theorie nicht wegzudenken sind: Beissers „paradoxe Theorie der Veränderung“ (in Amerika 1970 veröffentlicht) gilt heute den meisten Gestalttherapeutinnen und Gestalttherapeuten nicht nur als ein Kernstück gestalttherapeutischer Anthropologie, sondern auch als Basis ihrer Methodik und Technik…

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