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Fast wie Geschichten aus 1001 Nacht

Die jüdischen Textilkaufleute Mayer zwischen Europa und dem Orient…

Rezension von Monika Halbinger

Der für ein historisch fundiertes Werk etwas exotisierend anmutende Titel sollte niemanden abschrecken. Die Geschichte der jüdischen Textilkaufmannsfamilie Mayer eröffnet ein Geschichtspanorama, das über einen Zeitraum von mehreren Generationen unterschiedliche geographische Räume, differierende soziale Lebenswelten mit den vielfältigsten kulturellen Einflüssen sowie Verbindungen umfasst. Auch wenn eine theoretische Einordnung des im Buch bisweilen etwas oberflächlich verwandten Orient-Begriffs wünschenswert gewesen wäre, besticht das Buch durch die Verknüpfung von österreichischer und levantinischer Geschichte[1] sowie seiner Fülle an historischen Detailformationen.

Zunächst ist die Geschichte der Familie Mayer eine Geschichte des Aufstiegs einer jüdischen Familie im 19. Jahrhundert der Habsburgermonarchie, deren Anfänge im Pressburger[2] Ghetto lagen. Eine wichtige Quelle für das Buch sind die Lebenserinnerungen des 1831 geborenen Firmengründers Sigmund Mayer[3] mit seinen luziden Schilderungen, unter anderem des Ghettolebens des biedermeierlichen Österreichs, die sich als wahrer Schatz erweisen.  Sigmund Mayer beschreibt nicht nur, wie das jüdische Viertel Pressburgs in der Nacht durch die Polizei abgesperrt wurde, wie armselig und bedrückend das Leben dort mit den völlig unzureichenden Wohnverhältnissen war, sondern er benennt  auch die psychischen Folgen dieser belastenden Lebenssituation: Der Druck, von dem sich die Menschen nicht freimachen konnten, äußerte sich in Angstgefühlen. Als das Ghetto 1842 – gegen heftigen Widerstand, vor allem auch der katholischen Kirche –  geöffnet wurde, war Vater Salomon einer der ersten, der mit seinem Textilhandel, den er sich über die Jahre aufgebaut hatte, aus den beengenden Mauern floh.

Fast wie Geschichten aus 1001 Nacht: Die jüdischen Textilkaufleute Mayer

Die Familiengeschichte der Mayers gibt auch interessante Einblicke in das Wien vor und während der Märzrevolution. Im Jahr 1847 nahm Salomon seinen Sohn mit nach Wien, wo Sigmund Ingenieurwesen studieren sollte. Diese Übersiedelung war allerdings nicht so einfach. Juden – deren Aufenthalt in Wien von wenigen Ausnahmen abgesehen verboten war – wurden mit zahllosen Schikanen konfrontiert. Und auch die heute vielgerühmte Toleranzpolitik Kaiser Joseph II. folgte wirtschaftlichen Überlegungen, nicht so sehr humanitären Grundsätzen. Sie erlaubte den freien Handel und das Betreiben von Fabriken. Grunderwerb und Meisterbefähigung im Handwerk hingegen blieben Juden immer noch verwehrt. Die Zahl der Juden, die sich dauerhaft legal in Wien aufhielten, sollte gering gehalten werden. Sigmunds Pläne eines Technik-Studiums zerschlugen sich mit Ausbruch der 1848er Revolution, von der sich viele Juden Freiheit und Gleichheit erhofften. Ernüchtert musste er jedoch feststellen, dass jede gesellschaftliche Schicht lediglich auf den eigenen Vorteil bedacht war und Freiheit nur für sich reklamierte. So kam es in Pressburg beispielsweise zu schweren antisemitischen Pogromen, weil bestimmte gesellschaftliche Gruppen „ihre Freiheit“  dahingehend interpretierten, Juden erneut zu vertreiben. Die Vorfälle wurden von der Wiener Zeitung entsetzt kommentiert und „in der finsteren Zeit des Mittelalters“[4] verortet – eine Formulierung, die relativ vertraut anmutet und auch im heutigen Sprachgebrauch – auch bei antisemitischen Vorfällen – verwandt wird, damals fast ein Jahrhundert vor der Shoah.

Nach der gescheiterten Revolution verließ Sigmund Mayer das Wiener Polytechnikum und maturierte 1850 im Schottengymnasium. Anschließend begann er ein Jurastudium an der Uni Wien. Nach einem Jahr wechselte er an die Prager Universität. Dort fiel ihm der tiefe Bruch der Gesellschaft auf, die Spaltung zwischen Deutschen und Tschechen. Juden galten zwar als Deutsche und sahen sich auch selbst so, waren aber von den Christen stark separiert. Deutsche Nichtjuden standen den Juden feindlicher gegenüber als die Tschechen. Mayer sah die Problematik vor allem in der deutschen Volksgruppe begründet und seine Analyse ist auch heute sehr lesenswert: „Diese können sich in die Tatsache ihrer unleugbaren Minorität nicht fügen und wollen sich mit dem Gewicht  ihrer überragenden Kultur, ihrer wirtschaftlichen Bedeutung, mit der Notwendigkeit des Deutschen als Staatssprache, durch den deutschen Charakter der Reichshauptstadt nicht begnügen.“

Nach einigen Semestern kehrt Sigmund nach Wien zurück. Eine Erkrankung verhindert das Fortsetzen des Studiums, und so trat Sigmund 1853 in das elterliche Textilgeschäft ein. Sigmund Mayer mietete 1863 in der Wiener Innenstadt ein Verkaufslokal, mit dem er bald Erfolg hatte. Als sich nach mehr als 12 Berufsjahren bei Sigmund zunehmend physische und psychische Erschöpfung einstellte, was heute in moderner Diktion als Burnout bezeichnet würde, zog 1865  das wirtschaftlich prosperierende Ägypten sein Interesse auf sich. Die Autoren setzen im Folgenden die persönliche Geschichte der Familie geschickt in den Kontext der österreichisch-levantinischen Handelsbeziehungen. Als Sigmund Mayer im Juli 1866 mit seinem Bruder Albert ein Kleidergeschäft gründete, war der Maria-Theresien-Taler auch bereits in der Levante verbreitet und österreichische Fez-Exporte verdrängten zusehends die französische Konkurrenz. In Ägypten gab es den Wunsch nach einer raschen „Europäisierung“, Kairo sollte eine moderne westliche Großstadt werden. Viele Ägypter wandten sich dem westlichen Kleidungsstil zu und anlässlich der Eröffnungsfeierlichkeiten für den Suezkanal 1869 kleideten sich viele neu ein. Sigmund Mayers Schilderungen über Ägypten zeigen die Veränderungen: Ägypten hatte sich im Laufe der Jahre stark gewandelt, den Orient müsse man nun suchen. Da anfangs die Geschäfte nur schleppend liefen, hielt sich Sigmund Mayer ab 1869 jedes Jahr für drei Monate in Ägypten auf und auf lange Sicht machte sich das Beobachten von Konkurrenz und Markt bezahlt. Bemerkenswerterweise profitierte man auch ein wenig von der unflexiblen Haltung der eingesessenen französischen Kleiderhändler, die ohne Rücksicht auf die lokalen Wünsche nur französische Schnitte anboten (Ägypter bevorzugten aber keine engen, sondern aufgebauschte Hosen). Die Mayers respektierten bei ihrer Fertigung den Geschmack der Kunden und in Sigmunds Erinnerungen kann man lesen: „Ich sah nicht ein, warum man den Leuten für ihr Geld nicht ihren Willen tun sollte und diese Erkenntnis ward das Leitmotiv für unsere Erzeugung.“[5] Entgegen dem Klischee vom orientalischen Feilschen hatten die Mayers gerade damit Erfolg, dass auf  jedem Artikel der Preis vermerkt war. Dieser Preis galt ohne Ausnahme für jeden, gleich wie er bezahlte.

Vor dem Ersten Weltkrieg hatten eine ganze Reihe jüdischer Konfektionsfirmen aus Österreich-Ungarn, darunter auch A. Mayer & Co, bedeutende Konfektionskaufhausketten in der Levante, mit denen sie beträchtliche Gewinne erzielten. Die Einheimischen nahmen die Kaufhäuser bald an. Sie boten nicht nur Sonderangebote, sondern auch Wintergärten und Cafés, in denen man beim Kaffeetrinken auch Konzerte hören konnte. Das Matrikelbuch des k.u.k. Konsulats Kairo für die Jahre 1908 bis 1914 listete viele Wirtschaftstreibende aus Österreich-Ungarn auf.  Auffällig viele Österreicher hatten leitende Positionen in der ägyptischen Finanz-, Eisenbahn- und Gesundheitsverwaltung inne und beteiligten sich auch gemäß ihres kosmopolitischen Selbstverständnisses am Ausbau der Infrastruktur. Mit großzügigen Spenden entstanden Krankenhäuser, Schulen und Kirchen. Schwierigkeiten wie Korruption, überhöhte Lagerkosten usw. wurden durch die fehlende Besteuerung westlicher Firmen in der Levante wettgemacht. Letztlich konnten Umsatz und Gewinn alljährlich gesteigert werden. Albert Mayer wagte nun sogar die Expansion nach Alexandria. Zwischen 1870 und 1874 mietete er ein großes Geschäftslokal in der Hauptstraße.

Der bekannte Historiker Erc Hobsbawm, ein Verwandter der Familie (seine Mutter Nelly Grün war eine Nichte von Albert Mayer) bezeichnete Österreich als „Fenster Mitteleuropas zum Orient“ und beschreibt Ägypten als „Heimat eines hochgebildeten Zirkels der kosmopolitischen Mittelschicht Europas, mit deren Angehörigen man sich mühelos auf Französisch verständigen konnte.“[6]

Nachdem die Geschäfte besser liefen, fuhr Sigmund nicht mehr so oft nach Ägypten, sondern engagierte sich in Wien. Sigmund war keineswegs ein eingefleischter Kaufmann, vielmehr hatte er ein starkes geisteswissenschaftliches Interesse, eine Affinität zur Rechts- und Geschichtswissenschaft, schließlich zur Publizistik und Politik. Während die Familie eher unauffällig und assimiliert lebte, war Sigmund Mayer politisch exponiert. 1880 wurde er in den Wiener Gemeinderat gewählt. Anfangs noch ein Mitstreiter von Karl Lueger, dem späteren Bürgermeister Wiens, wandte er sich rasch von diesem ab und wechselte ins „rechte Lager“ des Stadtrats. Lueger ist heute nicht nur aufgrund zahlreicher Reformen und Bauprojekte während seiner Amtszeit im städtischen Gedächtnis verankert, sondern vor allem auch wegen seines radikalen Antisemitismus. Seine aufhetzende Rhetorik beeinflusste nicht nur Adolf Hitler, sondern vergiftete das gesellschaftliche Klima. Kaiser Franz Joseph, der die jüdische Bevölkerung immer unterstützte, verweigerte viermal die Ernennung Luegers zum Bürgermeister.

Interessant ist hier nun Mayers Sicht auf Lueger in seinen Erinnerungen: „Lueger war immer flach, seine Gedanken bewegten sich immer auf dem Boden, seinen Reden fehlte überhaupt jede geistige Distinktion.“[7] Allerdings habe er „im vollen Maße die physischen Bedingungen zum Volkstribunen“[8] besessen: groß, laut und schauspielerisch begabt.  Gewissenlos habe er alles für seine Zwecke ausgeschlachtet. Ihm habe „die Unterscheidung von Recht und Unrecht“[9] gefehlt. Lueger habe  sich niemals „über die Anschauungen des Kleinbürgertums emporheben“[10] können. Mayer betont in seiner Analyse vor allem den instrumentellen Charakter des Luegerschen Antisemitismus: „Dem Mann fehlt eben jenes primitivstes, das den Menschen erst zu einem Charakter macht, die Ehrlichkeit. Seine antisemitische Gesinnung war stets und ganz Heuchelei“ [11]. Mayer kam zu diesem Urteil, da Lueger sehr viel mit Juden verkehrte und seinen jüdischen Kollegen gegenüber angeblich nicht die geringste Abneigung spüren ließ.

Aufgrund eigener einschlägiger Erfahrungen befasste sich Mayer nun verstärkt mit der Geschichte des Antisemitismus. Vor allem Georg Ritter von Schönerer sah er als geistigen Wegbereiter des Antisemitismus und begann publizistisch gegen den Antisemitismus zu kämpfen, so z.B.  mit dem  Artikel „Der Reichtum der Juden in Wien“[12], in dem er mit statistischen Angaben die Annahme, dass Juden vermögender seien, widerlegte.

Während sich Sigmund in Wien verstärkt kommunalpolitisch und journalistisch engagierte, erschütterte 1882 der Arabia-Aufstand große Teile Alexandrias. Auch das Kaufhaus der Mayers wurde von Brandstiftern geplündert. Der Schock über diese Entwicklung ließ die Mayers nach anderen Standorten umsehen. Schließlich wurde 1882 eine Dependance in Konstantinopel eröffnet. Die wirtschaftlich aufstrebende, multikulturelle Hafenstadt, Hauptstadt des Osmanischen Reiches, zog zahlreiche Wirtschaftstreibende aus Österreich- Ungarn an. Papier, Kolonialwaren, böhmische Glas- und Kristallwaren aus der Monarchie waren bei den Einwohnern sehr beliebt. Türkische Kappen machten 25 % des Exportwerts Österreich-Ungarns aus. Die Rahmenbedingungen waren auch sehr gut, da die Kaufleute durch ein k.u.k. Generalkonsulat und die 1869 gegründete österreichisch-ungarische Handelskammer unterstützt wurden. Warensendungen wurden über drei österreichische Levantepostämter in Konstantinopel abgewickelt, zudem waren die Liniendienste des Österreichischen Lloyd gut vernetzt.

An der betrieblichen Expansion vor dem 1. Weltkrieg beteiligte sich Sigmund nur mehr am Rande. Er verfolgte in Wien mit Besorgnis den Wählerschwund der liberalen Partei in den 1880er Jahren. In den Wiener Gemeinderat zogen immer mehr antisemitische Politiker ein. Als schließlich auch die liberale Partei die Juden im Stich ließ, zog sich Sigmund enttäuscht aus dem politischen Leben 1890 zurück.  Nach einigen Jahren Pause engagierte er sich in der 1886 gegründeten Oesterreichisch-Israelitischen Union, die „über das Judentum informieren, Assimilierten und der Jugend den Weg zum Glauben öffnen und Front gegen den Antisemitismus machen“[13] wollte. Die Vereinigung, deren Ehrenpräsident Sigmund 1905 wurde, sah sich selbst als kaisertreu und patriotisch.

Sigmund starb am 29.10.1920 im 89. Lebensjahr. 1901 war er bereits als Gesellschafter von A. Mayer & Co. ausgeschieden. Der Bruder des Großvaters, der Prokurist Max Squarenina wurde Vollteilhalber der Firma. Als auch Max 1909 plötzlich verstarb, stieg Sigmund Mayer jun. neben Albert Anfang 1910 zum zweiten Gesellschafter auf.

Mit der Kriegserklärung Großbritanniens an Österreich-Ungarn vom 12. August 1914 endete das rege wirtschaftliche, kulturelle und soziale Leben der Österreicher in Ägypten. Als Großbritannien am 18. 12.1914 Ägypten zum Protektorat erklärte, bedeutete das für mehr als  100 österreichische und deutsche Geschäfte die Enteignung. Nur wenige Geschäfte, darunter A. Mayer & Co., blieben bestehen, wurden aber gezwungen teure Waren aus Großbritannien zu beziehen. 1916 wurden sämtliche „feindliche Firmen“ liquidiert, auch A. Mayer & Co. geriet unter Zwangsverwaltung.  Eine bemerkenswerte Anekdote in diesem Zusammenhang ist die enge Bekanntschaft der Familie Mayer/Squarenina mit der Kaufmannsfamilie Heß, deren Firma auch aufgelöst wurde. Dahinter stand niemand geringerer als der Vater des berüchtigten Rudolf Heß. Im Familienbesitz befinden sich sogar Briefe von Rudolf Heß an Fritz Loewy, ein Mitglied der Familie Mayer/Squarenina, aus der Zeit des Ersten Weltkrieges. Die Autoren merken hier zu Recht an, dass das kosmopolitische Levanteleben kein Garant für spätere Weltoffenheit war, wie das Beispiel Rudolf Heß zeigt.

Das Ende des 1. Weltkriegs brachte eine tiefe Zäsur, welche die Familie Mayer gewissermaßen in doppelter Weise betraf. Sowohl das Osmanische wie auch das Habsburgerreich waren untergegangen. Die österreichische Monarchie war nun eine kleine Republik, in der es die Levantepostämter, den Österreichische Lloyd und die österreichisch-ungarische Handelskammer nicht mehr gab. A. Mayer & Co. konnte neben dem Hauptgeschäft in Wien und der Produktion in Mähren gerade noch die beiden Filialen in den Istanbuler Bezirken Galata und Stambul über den Krieg retten. Das übrige Geschäft in der Levante war zusammengebrochen. Im Jahr 1923 wurde die Filiale in Stambul zugesperrt, das letzte Geschäft befand sich nun in Galata.

Als Juniorgesellschafter Sigmund Mayer jun. 1924 durch Suizid aus dem Leben schied, war das erste Mal kein Mitglied der Familie Mayer mehr aktiv an der Geschäftsführung beteiligt.  Nachdem auch noch Albert Mayer 1927 verstarb und die Firma knapp am Konkurs vorbeischrammte, wurde am 30. November 1928 schließlich Georg Mayer, der Sohn von Sigmund Mayer jun. Firmengesellschafter.

Der 1904 in Konstantinopel geborene Georg hatte seine Jugend in Wien verbracht und wollte eigentlich nie Kaufmann werden – ähnlich wie sein Großvater Sigmund. Georg studierte Psychologie und Pädagogik in Wien, wo er 1928 auch promovierte. In den folgenden Jahren pendelte Georg Mayer zwischen Wien und Istanbul.

Zwar begünstigen die von General Mustafa Kemal (Ehrenname: Atatürk) verordneten Reformen und die damit einhergehende Verwestlichung der Kleidung das Geschäft der Konfektionäre wie A. Mayer & Co. in Istanbul, doch Georg schildert in Kurzgeschichten, die er über seine Zeit als Kaufmann in Istanbul ab den 1920er Jahren verfasste,[14] auch die Schattenseiten der neuen Türkei.  So hatte der Modernisierungsdrang Mustafa Kemals durchaus diktatorisch-faschistische Züge, gerade was das Ziel eines ethnisch homogenen Nationalstaats anbelangte. Nichttürken, die schon seit Generationen in der Türkei tätig waren, wurden eingeschüchtert und mussten ihre Berufstätigkeit einstellen. Nichttürkische Firmen sollten vom Markt verdrängt werden. Die Vorschriften erfassten darüber hinaus jeden Lebensbereich. So wurde z.B. den Männern der Fez und Frauen der Gesichtsschleier verboten.[15]

Gleichzeitig musste Georg Mayer aber in Wien zunehmend erkennen, dass Juden in Deutschland und Österreich keine Zukunft hatten. Die Übersiedelung mit seiner Gattin Elfi Grün 1936 nach Istanbul rettete beiden das Leben, während Georgs Schwester Lise mit ihrem Mann im KZ Bergen Belsen ermordet wurde. Als Folge des „Anschlusses“ Österreichs 1938 musste Georg Mayer als Firmengesellschafter austreten, wobei er der Fortführung des alten Firmennamens zustimmt. 1940 änderten die verbliebenen Geschäftsführer Horeis und Mosner die Firmenbezeichnung in R. Horeis & Co. Wie lange das Geschäft noch tätig war, ist unklar. 1967 wurde die Firma von Amts wegen gelöscht. Georg Mayer hingegen führte das Konfektionsgeschäft in Istanbul bis 1971 als türkische Einzelhandelsfirma A. Mayer weiter.

Als 1938 die österreichischen Reisepässe ungültig wurden, forderte die türkische Regierung die in Istanbul ansässigen österreichischen Juden auf, sich reichsdeutsche Pässe mit dem eingestempelten „J“ zu besorgen. Georg weigerte sich und wurde so staatenlos. 1939 verhinderte nur die Intervention eines österreichischen Violinvirtuosen, dass Georg und seine Frau aus der Türkei ausgewiesen wurden.

Georg Mayer engagierte sich während des Krieges nicht nur  für Flüchtlinge, sondern er kam auch mit der deutschen Widerstandsbewegung gegen Hitler in Kontakt. Für ein Treffen stellte Mayer seine Wohnung Graf Moltke zur Verfügung. Auch nach dem 2. Weltkrieg erlebte die Türkei  immer wieder angespannte Zeiten, so z.B. die antigriechischen Pogrome 1955, bei denen auch Juden und Armenier zu Schaden kamen. In den ruhigen Zwischenperioden lief das Geschäft jedoch gut, was Mayers ein Leben in relativem Wohlstand ermöglichte.

Bis zum Tode Elfis im Jahre 1971 führten sie ein kosmopolitisches Leben in der levantinischen gutbürgerlichen Gesellschaft Istanbuls: sie sammelten Bücher und Teppiche, unternahmen viele Reisen und veranstalteten für den polyglotten Freundeskreis regelmäßige Konzertabende.

Obwohl bereits 1924 aus der Kultusgemeinde ausgetreten, gehörte Georg Mayer zum Beraterkreis des Istanbuler Rabbinats. Er engagierte sich für Israel, erwog aber nie die Alija. Es gäbe für ihn nur zwei Gründe bemerkte er einmal im Scherz: wenn Israel ihn zum Konsul in Istanbul oder zum Botschafter in Wien bestellte.[16] Mit seiner zweiten Ehefrau Adelheid zog Georg dann nach Wien, wo er 1974 unerwartet verstarb und auf dem Döblinger Friedhof neben seinem Onkel Albert beigesetzt wurde.

Im Anhang des mit historischen Aufnahmen reich illustrierten Buches wurden neben der obligatorischen Bibliographie zur genauen genealogischen, chronologischen und topographischen Einordnung noch eine Zeittafel, ein firmenrelevanter Stammbaum, eine Liste der Firmeninhaber sowie die Adressen der Wohn- und Firmenstandorte beigefügt, die sich neben der Lektüre als sehr hilfreich erweisen.

Zu erwähnen ist auch, dass eine glückliche Fügung dieses Buch erst ermöglichte. Auf die Behauptung in einem Sammelband, dass mit Einstellung der Geschäftstätigkeiten der Firma A. Mayer in Wien auch das Unternehmen in Istanbul geendet habe, meldete sich die Witwe des Geschäftsinhabers Georg Mayer, die bereits erwähnte Adelheid Mayer, beim Herausgeber Elmar Samsinger. Adelheid Mayer konnte diese Annahme mühelos falsifizieren und wurde als Zeitzeugin zu einer wichtigen Quelle für das Buchprojekt, das nach dem ersten Zusammentreffen der beiden beschlossen wurde.

Heute ist die kosmopolitische Lebenswelt der Levante, die Georg Mayer noch erlebt hatte,  weitgehend verschwunden. Als Fazit heißt es im Buch:

„Der jüdische Kaufmann Georg Mayer war Teil jenes schillernden, vielfältigen und lebendigen Universums der Levante, das heute längst der Vergangenheit angehört. Die Griechen wurden nach dem Ersten Weltkrieg weitgehend vertrieben, hunderttausende Armenier um 1900 ermordet, die meisten Juden wanderten – vielfach erst in den 1950er und 1960er Jahren – zumeist nach Israel aus. Auch die europäischen Eliten haben die Levante weitgehend verlassen. Gerade jetzt werden die verbliebenen orientalischen Christen von Mörderbanden, welche den Islam dafür missbrauchen, in Syrien und im Irak abgeschlachtet und vertrieben. Der Orient ist durch den Verlust seiner kulturellen und religiösen Vielfalt jedenfalls ärmer geworden. Die vorliegende Familiengeschichte, insbesondere die zuweilen wehmütigen kleinen Erzählungen Georg Mayers, sind auch ein Abgesang auf diese untergegangene Welt.“[17]

Zusammengefasst bietet die Geschichte der Kaufmannsfamilie Mayer nicht nur eine verständliche Einführung in die Beziehungen Österreich-Ungarns zur Levante in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, sondern es vermittelt auch einen lebendigen Eindruck von der kosmopolitischen Levante und deren Niedergang, ebenso vom engstirnigen, antisemitischen Wien der Lueger-Zeit zu Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts. Letztlich zeigt es, dass eine kleingeistige, monokulturelle Ausrichtung den Niedergang der jeweiligen Gesellschaften besiegelt hat. So könnte man dies sowohl für Habsburg als auch das Osmanische Reich sehen. Wem speziell die Sicht auf die Levante vielleicht zu positiv erscheinen mag – schließlich war das Zusammenleben auch nicht immer konfliktfrei und die gesellschaftlichen Gruppen waren natürlich nicht im demokratischen Sinne gleichberechtigt – , sollte dieses multikulturelle Leben dennoch in Kontrast setzen zu den gegenwärtigen Krisen in dieser Region, die auch im Fazit der Autoren angesprochenen werden. Eine weitere Beschäftigung mit der Geschichte der Levante – zu der dieses Buch anregt – ist durchaus angebracht, nicht zuletzt um den Blick  in Anbetracht des häufig vorherrschenden diffusen Bilds vom „Orient“ ein wenig zu schärfen. Auch die heutigen Krisen haben eine Vorgeschichte, die man kennen sollte. Dies gilt ebenso für das hiesige Wien: antisemitische Rhetorik und das Ausspielen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen, wie von Lueger praktiziert, sind auch heute noch in diversen politischen und alltagskulturellen Strömungen Wiens aktuell.

Adelheid Meyer, Elmar Samsinger: Fast wie Geschichten aus 1001 Nacht. Die jüdischen Textilkaufleute Mayer zwischen Europa und dem Orient, Wien 2015; Mandelbaum Verlag (ISBN 978-3-85476-463-2), Euro 19,90, Bestellen?

Anmerkungen:

[1] Mit Levante werden die östlichen Länder des Mittelmeeres bezeichnet.

[2] Pressburg ist der deutsche Name für die slowakische Hauptstadt Bratislava.

[3] Sigmund Mayer: Ein jüdischer Kaufmann 1831-1911. Lebenserinnerungen von Sigmund Mayer, Berlin/Wien 1926 (2. Auflage).

[4] Abend-Beilage zur Wiener-Zeitung, Nr. 24, 25. April 1948.

[5] S. 65.

[6] S. 92.  Zitiert nach Eric J. Hobsbawm: Das imperiale Zeitalter. Frankfurt am Main/New York 2008,  S. 9f.

[7] S. 99.

[8] Ebd.

[9] Ebd.

[10] S. 101.

[11] S. 107.

[12] Sigmund Mayer: Der Reichtum der Juden in Wien, in: Die Neuzeit 2, April 1886, S. 129-131.

[13] S. 109.

[14] Das Buch „Türkischer Basar.  Geheimnisse orientalischer Geschäftstüchtigkeit“ erschien 1978 in kleiner Auflage, ist aber schon länger vergriffen. Eine Auswahl der Geschichten, auch bisher unveröffentlichter, ist als 2. Teil dem vorliegenden Buch beigefügt.

[15] Vgl. hierzu weiterführend den kürzlich erschienen Online-Artikel vom 19.7.2015: „Nazis im Türkenfieber“, im dem der Historiker Stefan Ihrig berichtet, dass Hitler Atatürk als Vorbild in seiner Rolle als nationaler Befreier und „starken Mann“ sah. (http://www.zeit.de/2015/27/mustafa-kemal-atatuerk-adolf-hitler-vorbild-fuehrerkult, abgerufen am 26.8.2015)

[16] S. 151, zitiert nach einem Interview mit Alex Loewenthal, Bali 2010.

[17] S. 160 f.

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