»Kennen Sie Kafka?«, ist heute beinah eine rhetorische Frage. Denn Kafka ist nicht nur Autor: Er ist ein Label, ist „Poster-Boy“ (Christoph Brecht), Adjektiv – und sein Name mithin selbst jenen vertraut, die noch keine Zeile von ihm gelesen haben. Ganz anders steht es mit Adler – und zwar nicht Alfred, nicht Friedrich, nicht Max, auch nicht H.G., sondern Paul, dessen Name auch in Fachkreisen heute fast vollkommen unbekannt ist. Denn seit den 1920er Jahren, als die letzten literarischen Texte beider Autoren entstanden, ist Paul Adler nahezu vollständig in Vergessenheit geraten. Das war zu Lebzeiten Kafkas und Adlers, die einander kannten und schätzen, durchaus nicht abzusehen…
Von Annette Teufel
Denn in dem heute so genannt ‚expressionistischen Jahrzehnt‘ stand Paul Adler kaum weniger als Franz Kafka im Zentrum der Aufmerksamkeit einer modernen, bohemischen Subkultur und war in allen wichtigen Zeitschriften des literarischen Expressionismus vertreten. Den Zeitgenossen galt Paul Adler geradezu als Verkörperung einer ‚neuen‘, deutsch-jüdischen Dichtung, der es um nichts Geringeres ging, als eine neue Welt zu errichten. Als „geistige[n] Wortführer dieser jüdischen Dichter“ hat ihn einst Karl Otten bezeichnet; und Salomo Friedländer pries den „Dichter“ als einen „Musiker mit Worten“, in dessen Roman Die Zauberflöte er „eine Bibel zwischen modernen, profanen Büchern“ erkannte. Die Reihe hymnischer Rezensionen, mit denen insbesondere die Protagonisten einer expressionistischen Kunstrevolution – wie Kasimir Edschmid, Albert Ehrenstein, Carl Einstein, Oskar Loerke – für Adler und seine Dichtungen warben, ließe sich fortsetzen. Auch das ist heute vergessen, woran Paul Adler selbst keinen geringen Anteil hat:
Anders nämlich als Kafka, der ausgerechnet den größten Fürsprecher seiner Literatur, Max Brod, damit beauftragt hatte, sie zu vernichten, hat Paul Adler in den letzten Jahrzehnten seines Lebens eine förmliche Politik der Selbstauslöschung betrieben – mit Erfolg. Die wenigen rekonstruierbaren Spuren sind darum rasch benannt:
Die erste Spur führt uns nach Prag, in die ‚Tripolis Praga‘, an den ersten jener transnationalen Orte, denen Paul Adler Zeit seines Lebens verbunden blieb. Hier, wo man Vilém Flusser zufolge „geborener Internationalist“ – und wo Deutscher und Jude zu sein eine nahezu selbstverständliche Einheit – war, kam Paul Adler 1878 als Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie zur Welt. Dem Ideal der Haskala folgend, wurde ihm in der Familie eine traditionell jüdische – und in den Institutionen des deutschen Prag zugleich eine klassische deutsche Bildung zuteil. Auf eine Karriere in der kakanischen Monarchie war der Doktor der Rechte mithin bestens vorbereitet; doch ihr entzog er sich schon im Alter von 23, da sich die Rolle des Richters mit seinen religiösen und moralischen Überzeugungen als nicht vereinbar erwies: In einem spektakulären Verfahren über das Verfahren am Reichskammergericht in Wien verkündet der angehende Richter sein Urteil – nicht über die Schuldnerin allerdings, die die Ratenzahlung gegenüber einer Nähmaschinenfirma nicht erbracht hatte, sondern über die bürgerliche Moral, die ihn zwang, eben jene zu strafen, zu deren Schutz ihn die religiöse Moral verpflichtete: die Witwen und Waisen. In der Konsequenz seines Urteilsspruchs legt Paul Adler sein Amt als Richter nieder. Und nicht nur das: Für den Rest seines Lebens wird er sich konsequent dem wichtigsten Inklusionsprinzip der bürgerlichen Gesellschaft, dem Zwang zur Erwerbsarbeit, verweigern. Er wird Bohemien – und Dichter. Franz Kafka, erinnert sich Gustav Janouch, hat ihn dafür bewundert:
„Kennen Sie den Dichter Paul Adler?“, soll er Janouch gefragt haben. „Er hat keinen Beruf, sondern nur seine Berufung. Mit seiner Frau und den Kindern fährt er von einem Freund zum anderen. Ein freier Mensch und Dichter. Ich bekomme in seiner Nähe immer Gewissensbisse, daß ich mein Leben in einer Kanzleiexistenz ertrinken lasse.“
Tatsächlich hat sich Paul Adler, kaum dass in Prag seine ersten Gedichte erschienen waren, ein biographisches Modell zu eigen gemacht, das wie seine Dichtungen auf romantische Muster zurückgriff – die Reise mit dem Freund. Zehn Jahre wandert er, zumeist begleitet von seinem späteren Verleger Jakob Hegner, quer durch Europa, bis die Freunde, schon gegen Ende der Reise, im Florentiner Kreis um das Künstlerpaar Paul und Elsbeth Peterich Aufnahme finden – einem der typischen „Boheme-Ateliers“, die Helmut Kreuzer zufolge eine „Mittelposition zwischen privater Wohn- und Arbeitsstätte, bohemistischem Treffpunkt und bohemistischer Künstlerpension“ einnahmen und „zur Zuflucht vorübergehend bedürftiger oder permanent parasitärer Existenzen“ wurden. Insbesondere Adlers Bekanntschaft mit Theodor Däubler und dessen Dichtung Nordlicht, für die er Jahrzehntelang emphatisch werben wird, erweist sich für sein eigenes Denken als fruchtbar. Dass er in Peterichs Haus auch seine spätere Lebensgefährtin, die Wienerin Anna Kühn, kennenlernt, soll schon insofern nicht verschwiegen werden, als der bohemische Lebensstil, den Adler zeitlebens pflegte, ohne sie, den lebenstüchtigen, praktischen Part, nicht realisierbar gewesen wäre.
Noch markanter als Florenz hat Adler die (nach seinem Wunsch) letzte Station seiner Reise, Berlin, geprägt, wo ihm nicht nur der Schritt in die Öffentlichkeit einer expressionistischen Subkultur, sondern auch der Schritt aus der Neuromantik in die Moderne gelingt. Die wichtigsten Referenzgestalten dieser Entwicklung sind Carl Einstein, der Theoretiker einer ‚autonomen Prosa’ in der ‚neuen’ Literatur, und Martin Buber, der Begründer der ‚jüdischen Renaissance’ und eines spirituellen, also individuellen Zionismus.
Hier hätte Paul Adler bleiben wollen, und das Projekt, das er 1911 in die „Hauptstadt der expressionistischen Moderne“ (Thomas Anz) einbringen wollte, war durchaus vielversprechend: eine deutsche Werkausgabe von Paul Claudel, eines Dichters des ‚Renouveau catholique français‘. Adler gelingt es, den jungen Berliner Verleger Erich Baron dafür zu begeistern – und von Claudel die Übersetzungsrechte einzuwerben. Wenig später, noch 1912, können Barons Neue Blätter mit einer Adler-Übertragung aus Paul Claudels Repos eröffnet werden. Erich Baron indes schwebte zugleich eine Aufführung der Claudelschen Dramen vor – und dieser Traum schien ihm nirgends sonst realisierbar als auf der ‚Versuchsbühne‘ der „Bildungsanstalt Jaques-Dalcroze“ in der ersten deutschen Gartenstadt: Hellerau am Stadtrand von Dresden; Wolf Dohrn, der Mäzen und Promotor der dortigen Lebens- und Kunstreform, hatte ihn dringend ermutigt. Darum beschließt er, seinen jungen Verlag aus Berlin nach Hellerau zu verlagern und die Schriftleitung seiner Zeitschrift, die zuvor Carl Einstein innegehabt hatte, an Paul Adler und Jakob Hegner zu übertragen.
So gelangt Paul Adler mit seiner Lebensgefährtin und der in Berlin geborenen Tochter im Sommer 1912 nach Hellerau. Die Ansiedlung in der Gartenstadt war demnach nicht seine eigene Wahl, sondern die des Verlags; und doch kam ihm nach seiner Wanderschaft durch Europa diese Ansiedlung im ‚Klein-Europa’ Hellerau, sicher entgegen – zumal er dort alte, ‚europäische‘ Bekannte wiedertreffen sollte. Gern und ausgiebig war er in den Hellerauer ‚Salons‘ zu Gast: dem Kreis des Kunstschmieds Georg von Mendelssohn, der Adler ebenso wie die meisten der Gäste schon aus der Zeit in Florenz bekannt war – und im ‚Salon‘ der ‚Rahel von Hellerau‘, Adlers Prager Freundin Grete Fantl. Persönliche Freundschaften verbanden ihn darüber hinaus u.a. mit dem ebenfalls in Hellerau lebenden Prager Dichter Camill Hoffmann, mit Berthold und Salka Viertel, Hegner, Rudolf Manasse und Conrad Felixmüller.
Ein eifriger Verfechter des Gartenstadtgedankens ist Adler darum nicht geworden, im Gegenteil: Er hat die Gartenstadt, die so modern wie antimodern, also lebensreformerisch war, aus einer stets skeptischen Distanz heraus betrachtet. Dennoch ist Hellerau für fast zwei Jahrzehnte der Ort seines Lebens und Schaffens geblieben – bis er im Jahr 1933 eben dort zusammengeschlagen und ins Exil getrieben wurde. Das letzte Jahrzehnt – das Jahrzehnt der NS-Diktatur und der Shoah – überstand Paul Adler, physisch und psychisch gebrochen, in einem Versteck bei Prag; er starb 1946 an seinem zweiten Schlaganfall – immerhin einen zivilen Tod.
Mit diesen biographischen und intellektuellen Erfahrungen Adlers sind zugleich die Kontexte skizziert, die sein literarisches Werk prägten und prägen – ein Gesamtwerk von bemerkenswerter Homogenität, das erstens (im Sinn von Carl Einsteins Idee von Kunstwerken als ‚totalen Systemen‘) präformiert, also durch einen ‚Logos’ vorgeformt war. Zweitens erwies sich, dass Adler diesen ‚Logos’ aus der lurianischen Kabbala bezog, die von der ‚jüdischen Renaissance’ eben erst wieder entdeckt worden war. Dieser ‚Logos’ wird jedoch drittens in allen Texten Paul Adlers mit den Erkenntnissen der modernen Wissenschaften vom Menschen und der modernen Sprach- und Kulturkritik spannungsvoll überblendet – und viertens die so entstandene Dichtung als engagierte, also gesellschaftlich eingreifende Literatur ausgewiesen.
Diese Funktionsbestimmung von Literatur war für Bubers Kreis, der die Kabbala auf spezifisch revolutionäre Art umdeutete, ebenso prägend wie für die expressionistische Literatur: Literatur hat der umfassenden Erneuerung der Gemeinschaft zu dienen; ihr Zentrum bildet das „innerste Ethos des Judentums: Messianismus, Welterlösung“ (Max Brod). Dieser – indes ins Menschheitliche erweiterten – Mission ist Paul Adlers Wirken, sein literarisches und publizistisches Werk ebenso wie sein praktisch-politisches Handeln, verpflichtet. Es hat nur ein einziges Thema: das von ihm so benannte „Elend der Welt“, das es zu beenden gilt. Andernfalls droht (um mit Adler zu sprechen) der „Abgrund“.
Das literarische Werk nimmt dabei einen zentralen Stellenwert ein: Denn die Veränderung der Welt setzt zunächst die Einsicht in deren Ordnung voraus, und diese Einsicht aufzuzeigen, ist Aufgabe der Literatur.
Die Koordinaten der zu verändernden Welt, die Adler in der Kabbala vorgeprägt fand, macht am ehesten sein literarisches Hauptwerk, Elohim (1914), Nämlich (1915) und Die Zauberflöte (1916), kenntlich, obschon die verstreuten Essays und Dichtungen kaum anders argumentieren: Schöpfung, Mensch und Geschichte sind auf dramatische Weise in ‚Gut’ und ‚Böse’, in ‚Heilig’ und ‚Unheilig’ – weil in Geist und Materie – zerspalten. Aus diesem ‚Drama’ leitet Paul Adler dann die zentrale Frage all seiner Dichtungen ab: die Frage nach der Rolle des Menschen in einer ins Elend geratenen Welt. Die Antwort darauf fällt sehr klar aus: Der Mensch – und nur er – kann und muss die Welt (und im letzten sogar die Gottheit) erlösen. Das ist ein klarer Auftrag – den die Dichtung zu formulieren hat – und ein zeitgemäßer Appell ist es überdies.
Dieses Lebensthema ist die Basis von Adlers Handeln. Darum bringt er es konsequent in seinen Widerstand gegen den Ersten Weltkrieg ein – er verweigert seit Kriegsausbruch die Steuerzahlung gegenüber dem kriegstreibenden Staat und lässt sich selbst für geistesgestört erklären –, und er legt es seinem politischen Engagement während der Dresdner Novemberrevolution – als führendes Mitglied der Sozialistischen Gruppe der Geistesarbeiter – zugrunde. Diese unverbrüchliche Einheit von Wort und Tat haben die Zeitgenossen mit Hochachtung und Respekt honoriert. Adlers Dichtung dagegen stand – wiewohl sie die Basis seines Handelns bereitstellte und in seiner Intention auch für andere handlungsleitend hätte werden sollen – stets im Schatten seiner respektgebietenden Biographie.
Allerdings – das Verständnis von Adlers Werk wurde auch durch den Charakter seiner Texte erschwert; sie stehen in jener romantischen Tradition, in der die ‚Unverständlichkeit’ keine Textqualität beschreibt, sondern die Folge des Unverstands des Publikums ist. Was sich aus der Sichtung der Quellen so klar herausgestellt hat, ist darum keineswegs immer klar zu erkennen. Bezeichnenderweise haben die Zeitgenossen so zwar die außergewöhnliche sprachliche Meisterschaft nicht verkannt, mit der Paul Adler etwa in Elohim die archaische Welt des Mythos wiedererstehen lässt, mit der er in den schizoiden Fragmenten von Nämlich
die Gespaltenheit des modernen Menschen vorführt – oder in seiner Zauberflöte den Verfall der Kultur im Verfall der Sprache aufzeigt. Andererseits – um nur ein Beispiel zu nennen –: Dass Adler die Identität seiner Figuren aufhob – also den Topos des Ich-Zerfalls nicht beschrieb, sondern simulierte –, hat die zeitgenössische Leserschaft sehr verstört.
Die Adler-Kritik hat diesen Befund – den Widerspruch zwischen der Wirkungsintention des Autors und dem Verständnisvermögen des Publikums – in gewisser Hinsicht gespiegelt, indem sie einerseits die prophetische Qualität von Adlers Texten respektvoll heraushob, andererseits jedoch konstatierte, dass sie nicht analysierbar seien – eben weil sie als Prophetie, nicht als Literatur zu verstehen wären. In diesen Übereinkünften hat das zeitgenössische Bild von Paul Adler – das Bild eines ‚un-verständlichen’ Propheten – seinen Ursprung.
Dass Adler letztendlich scheitert, liegt dennoch nicht in der ‚Unverständlichkeit‘ seiner Texte, sondern im Lauf der Geschichte begründet: Paul Adler scheitert als Dichter mit der gescheiterten Revolution; und die Erfahrung, dass hier das Wort als ‚Waffe’ versagte, entmutigt ihn so radikal, dass ihm Dichtung fortan als vollkommen nutzlos erscheint. Also verstummt er, wodurch er bereits zu Lebzeiten in Vergessenheit gerät – zu Unrecht.
Die nun vorliegende Werkbiographie versucht darum, mit den genannten Zugängen zugleich die Zugänglichkeit dieses wichtigen und faszinierenden Autors aufzuzeigen, der keineswegs derart abseits stand, wie es heute erscheinen mag: In der umstrittenen ‚deutsch-jüdischen Kultur-Symbiose’ war Paul Adler eine geistige Leitgestalt; und für die historisch einmalige Blüte der jüdischen Kultur in Mitteleuropa ist sein Denken und Schaffen geradezu exemplarisch. An ihn zu erinnern, heißt demnach auch, das Gedächtnis an eine Kultur zu bewahren, die unwiederbringlich vernichtet ist, an die es jedoch schon deshalb gilt zu erinnern, weil sie ehedem eine gemeinsame – ‚deutsch-jüdische‘ – Kultur gewesen ist. In diesem Sinne sei programmatisch an die Worte von Albert Ehrenstein aus dem Jahr 1916 erinnert:
Bedauerlich unbekannt ist leider noch einer der begabtesten Prager, an Rang, konzentrierter Größe den Dichtern Ernst Weiß, Paul Kornfeld, Brod, Werfel, Kafka sicherlich ebenbürtig. Man lese im Café „Prag“, im Café „Wien“, im Café „Berlin“, in ganz Deutschland und Danubien die ethisch-phantastischen Dichtungen „Elohim“, „Nämlich“, „Die Zauberflöte“ des theosophisch-metaphysischen Epikers Paul Adler (Hellerau)!
Annette Teufel: Der ‚unverständliche‘ Prophet: Paul Adler, ein deutsch-jüdischer Dichter, w.e.b. 2014, 536 S., Bestellen?
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