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Bundesrepublik und politische Bildung

Gudrun Hentges veröffentlichte 2013 ihr Buch über die Geschichte der staatlichen politischen Bildung der Bundesrepublik Deutschland, das die Autorin als eine der profundesten und genauesten Kennerin der Nachkriegsgeschichte Deutschlands ausweist…

Gudrun Hentges: Staat und politische BildungRezension von Karl Pfeifer

Ihr kritisches und leicht lesbares wissenschaftliches Werk räumt auch mit der während des Kalten Krieges in der DDR gepflegten Legende auf, es hätten in Westdeutschland nach 1945 ausschließlich die ehemaligen Nationalsozialisten das Sagen gehabt. Freilich setzt sie sich auch mit den Schattenseiten, dieser fast nur positiv gewürdigten Institution, auseinander. Ein Beispiel: Hans Domizlaff, einer der führenden Mitarbeiter des Heimatdienstes führte die theoretischen Grundlagen der NS-Ideologie und der Schoa auf die geistige Massenvergiftung zurück, „die mit der naturwidrigen These von der Gleichheit und Gleichberechtigung aller Menschen begann und schließlich zu einer folgenschweren Überheblichkeit der ratio führte (…)“. Er behauptete auch: „Die Verleugnung der Naturtriebe führt zur Lüge und zu geistigen Massenerkrankungen, die (wie der Nationalsozialismus) allen echten Idealismus der Willkür von Verbrechern ausliefert.“ Somit machte Domizlaff das Gleichheitspostulat der europäischen Aufklärung, die Naturrechtphilosophie, den Rationalismus und die bürgerlichen Revolutionen für die Verbrechen des NS-Regimes verantwortlich.

Der erste Teil dieses 493 Seiten umfassenden Werkes schildert die Reeducation-Reorientation-Reconstruction, insbesondere die bildungspolitischen Vorstellungen der amerikanischen und britischen Besatzungsmacht.

Der zweite Teil beschreibt die Entstehungsgeschichte der Bundeszentrale für den Heimatdienst, der dritte Teil Struktur, Aufgabenteilung und Arbeitsweise. Hier werden Streitfälle dargelegt, wie Walter Jacobsens Thematisierung des Antisemitismus. Der promovierte Psychologe war ab 1933 im Widerstand tätig, seine Dissertation erschien 1934 und 1935 emigrierte er nach Schweden und kehrte nach dem Krieg zurück nach Hamburg. Nach Gründung der Bundeszentrale für Heimatdienst wurde er Leiter des Psychologie-Referates. Zu Weihnachten 1959 wurde die kurz zuvor neu eingeweihte Kölner Synagoge in der Roonstraße mit Hakenkreuzen beschmiert – ein Anschlag, der im Nachhinein als Auftakt zur antisemitischen Schmierwelle 1959/60 gewertet wurde. Im Gegensatz zu Bundeskanzler Adenauer betrachtete Jacobsen als die eigentliche Ursache – die Wurzel des Übels – den noch nicht völlig überwundenen Nationalsozialismus. Jacobsen ging von der Annahme langlebiger nationalistischer Mentalitätsbestände der Deutschen aus und glaubte nicht, dass diese „durch bloße rationale Aufklärung, Belehrung oder Überzeugungsgründe, auch nicht durch Totschweigen zu überwinden“ seien. Er beanstandete, dass sich viele gegen das Postulat von der „Kollektivscham“ sträubten. Jacobsen sah die Gefahren im sozial-psychologischen Zustand der deutschen Bevölkerung. Die Reaktion auf seine Stellungnahme war der Vorschlag einer Frühpensionierung.

Der vierte Teil setzt sich mit der politischen Bildung im Zeichen des Kalten Krieges und mit dem „Ostkolleg“ auseinander.

Auf ein paar Seiten schildert die Autorin die Netzwerke in der Steiermark. Ab 1949 distanzierten sich die damaligen österreichischen Großparteien ÖVP und SPÖ von Konzept der Ausgrenzung nationalsozialistischen Potentials und verfolgten stattdessen eine Politik der Integration dieser Bevölkerungsteile in die etablierten Parteien. So intendierte die ÖVP durch die von ihr initiierte Junge Front oder die Oberweiser Gespräche ehemalige Nationalsozialisten – darunter auch NS-Funktionäre – als ÖVP-Wähler/Innen zu gewinnen.

Die SPÖ hingegen – unter maßgeblicher Beteiligung des Innenministers Oskar Helmer – unterstützte die Gründung einer Partei, die als Auffangbecken des nationalsozialistischen Wählerpotenzials fungieren sollte: So entstand der Verband der Unabhängigen (VDU) als „Konglomerat von Altnazis, Neonazis, Deutschnationalen und einigen wenigen Liberalen“, aus dem 1955/56 die FPÖ hervorging.

Die Heimatzentrale beschäftigte auch den estnischen Nationalsozialisten Dr. Hjalmar Mäe, der eng mit der deutschen Besatzungsmacht kollaborierte und aktive antisemitische Propaganda betrieben hatte. Mäe schlug Dr. Heinz Brunner als Referent für das Ostkolleg vor. Das BMI charakterisierte Brunner lediglich als „Verlagsleiter in Graz“ und bat den Studienleiter des Ostkollegs, den Anregungen von Mäe nachzugehen. Unerwähnt jedoch blieb, dass Heinz Brunner Leiter des Leopold Stocker Verlags war – eines Verlags, der aufgrund seiner Geschichte und seines Verlagsprogramms bis heute zweifelsohne zahlreiche Berührungspunkte mit der extremen Rechten aufweist. Zu seinen Autoren zählt der Stocker Verlag neben Andreas Mölzer auch den Holocaustleugner David Irving.

Die Dominanz der Thematisierung der (tatsächlichen oder vermeintlichen) Gefahren, die vom realsozialistischen bzw. von kommunistischen oder linkssozialistischen Bestrebungen ausgingen, war immer auch begleitet von Feindbildkonstruktionen und bestärkten das Lagerdenken sowie ein manichäisches Weltbild. Die Spielräume für eine politische Bildung im Sinne einer „Erziehung zur Mündigkeit“ (Theodor Adorno) waren während der ersten Jahrzehnte der BRD äußerst gering.

Mit dieser gründlichen Analyse der Aufbau- und Gründungsphase der „Bundeszentrale für Heimatdienst“ bzw. ihrer Nachfolgeinstitution, die „Bundeszentrale für politische Bildung“ (BpB)
hat Gudrun Hentges ein sehr nuanciertes Bild der überparteilichen politischen Bildung in der Bundesrepublik Deutschland gezeichnet.

Gudrun Hentges: Staat und politische Bildung. Von der „Zentrale für Heimatdienst“ zur „Bundeszentrale für politische Bildung“. Mit einem Vorwort von Christoph Butterwegge, Springer VS 2013, Euro 49,95, Bestellen?

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