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Eine Sonnenuhr für beide Hemisphären

Zwei Jahre nach Karakul (1993) legt Paul Parin einen neuen Erzählband vor. Der Titel lässt den sozialen Ort dieser 13 Erzählungen vermuten. Die Erzählungen sind aus Parins weltweiten Forschungsreisen erwachsen, aber auch aus seiner Jugendzeit, stammen somit aus seiner europäischen Heimat wie auch aus seinen gemeinsam mit Goldy Parin-Matthèy unternommenen abenteuerlichen Expeditionen nach Afrika und Asien…

Von Roland Kaufhold

Zum Inhalt: Der polnische und der preußi­sche Adler – beschädigt beide ist eine 33seitige biographische Rückerinnerung an eine Kindheitsperiode, gefüllt mit farbigen Landschaftsbeschreibungen.

Mit acht Jahren verbringt Paul Parin gemeinsam mit seinen Eltern und seinem jüngeren Bruder einen Sommer in einem Schloss in Polen. Sein Vater, wohlhabender Großgrundbesitzer in Slowenien, verwaltet es für einen reichen Wiener Kriegsgewinnler. Es ist eine Märchenwelt, aus der Perspektive des verwunderten Kindes beschrieben. Einige Erinnerungen tauchen in Parin auf, die in ihrer Langlebigkeit Mythen ähneln. Der achtjährige Paul interessiert sich gemeinsam mit seinem Bruder für die Natur und für Tiere. Zunehmend mutiger werdend erkundet er die Wildnis: „Hier ist die Maikuhle, die wunderbare und unheimliche Wildnis, mein Polen, das ich noch immer in mir herumtrage; es taucht von Zeit zu Zeit wieder auf, unverändert geheimnisvoll“ (S. 14). Paul entdeckt – so meint er sich zumindest zu erinnern – bei seinen Erku­ndungsgängen einmal europäischen Urpferde, von Prschewalski in geduldiger Zuchtwahl geschaffen:

„Der Rücken nach hinten abfallend, falfarben mit einem dunklen Streifen, auch die steilstehende Mähne ist dunkel, das Köpfchen mit den kleinen spitzen Ohren immer wieder mit schnuppernden Nüstern gegen den Wind gehoben. (…) Ich bin beglückt. Ich habe die europäischen Urpferde zu Gesicht bekommen. (…) Unerschütterlich trage ich das Bild noch heute in mir“ (S. 15).

Im gleichen Jahr macht Paul zwei grundlegende pädagogische Erfahrungen, die seine kindliche Beobachtungsgabe für Ungerechtigkeiten schärfen. Er begegnet der Pädagogik in ihrer gewaltförmigen, moralischen, erstarrten Erscheinungsform – bei einem Schulbesuch in Polen wie auch in einem von Nonnen geleiteten deutschen Erholungsheim. Der Schulbesuch hat sich Paul eingeprägt:

„Als der Herr Lehrer hereinkam, sprangen alle auf, er schaute scharf vom Podium auf uns herunter, setzte sich hinter sein Pult und klatschte in die Hände, worauf sich alle schleunigst auf ihren Platz setzten. Der Lehrer blätterte in einem Buch und rief einen Namen. Der Bub rannte nach vorn, verbeugte sich und sagte etwas auswendig her. „Gut. Kein Fehler“, sagte der Lehrer und rief einen anderen Buben hinauf. Der blieb beim Hersagen zweimal stecken. Der Lehrer sagte `zwei Fehler´ und zeigte mit dem Daumen nach hinten, zur Schiefertafel. Der Bub mußte ihm ein biegsames Rohrstöckchen holen, das neben der Tafel an der Wand lehnte…“ (S. 23).

Es folgen genaue Beschreibungen seines kindlichen Umgangs mit der beobachteten Gewalt, deren ohnmächtiger Zeuge er wird – unmittelbar betroffen hiervon ist er als Sohn eines privilegierten Schlossherrn nicht, wie ihm der Lehrer selbst einmal mitteilt. Auch verfügt er noch über einen weiteren Schutz – eine verständnisvolle Mutter. Als er einmal erschüttert und weinend nach Hause kommt erahnt sie die pädagogische Realität: „`Du mußt nicht mehr in diese Schule‘, sagt die Mama, `es war ein Fehler, dich gehen zu lassen‘. Ich glaube, daß sie mehr erriet, als ich sagen konnte“ (S. 27).

Parin erzählt weitere wunderlich-komische pädagogische Begebenheiten aus vergangenen und zugleich gegenwärtigen Zeiten, um am Ende zu bemerken:

„Ich habe mich ganz auf meine Erinnerung verlassen, als ich dies alles aufgeschrieben habe. Ob es wirklich so gewesen ist, weiß ich nicht. Noch heute kann ich nicht glauben, daß das preußische Hinterpommern eine Meeresküste hat, obzwar ich selber dort gewesen bin. Andererseits bin ich beinahe sicher, daß es irgendwo in Polen noch immer die Prschewalski-Urpferde gibt, obwohl ich schon lange nichts von ihnen gehört oder über sie gelesen habe, außer kürzlich einige Zeilen in einer Erzählung des abchasischen Dichters Fasil Iskander. Doch bezieht sich das, was er schreibt, auf die Zeit von Stalin, und der ist schon lange tot“ (S. 40).

Die Mailänder Vettern erzählt das Schicksal von zwei Verwandten, die der aus einer jüdischen Familie stammende Parin 1936 während seines Medizinstudiums erstmals näher kennen lernt. Es sind abenteuerliche und tragische Erinnerungen aus der verbrecherischen und sinnlos-willkürlichen Zeit des aufkommenden Nationalsozialismus. 20-jährig ist Paul Parin erstmals zu Besuch in Mailand, trifft seine beiden Vettern Beniamino und Gigi jeweils getrennt voneinander, die von Charakter und Herkunft her sehr unterschiedlich und „auch durch nichts als meine Erinnerung miteinander verbunden geblieben“ sind. (S. 42) Der politisch bewusste Student Paul Parin benötigte die quirlige und lebend­ige Millionenstadt Mailand als Erfahrungsraum, „weil ich eine neue Großstadt brauchte, nachdem Wien am Heldenplatz dem Hitler zugejubelt hatte und mir verlorengegangen war“ (S. 43).

Frei von anklagendem Unterton folgen detailgenaue, humorvolle  Personenbeschreibungen seiner Verwandten, in denen sich das Lebensgefühl eines privilegierten, aufgrund seiner jüdischen Abstammung objektiv bedrohten und doch zugleich die eigene Gefährdung verleugnenden Milieus der damaligen Zeit widerspiegelt. Die Gefahr, die Hitler und Mussolini darstellten, leugnete Beniamino keineswegs. Parin bemerkt: „Die ironische Distanz meines Cousins, die ihn davor bewahrte, die Gefährdung seiner Existenz ernst zu nehmen, machte ich mit. So konnte ich mich leicht auf den nächsten Besuch freuen“ (S. 48). 1940 unternimmt der inzwischen 24-jährige Paul Parin unter Gefährdung seiner eigenen Person einen letzten Versuch, seine Neffen zur Flucht in die nahe Schweiz zu bewegen – vergeblich. Italien wird faschistisch. Dann hört er nichts mehr von ihnen. Parin erinnert sich:

„Milano verschwand mir aus dem Bewußstsein, die Stadt war abgeschrieben, Feindesland, kontaminiert mit dem Gift der Deportationen. Die Mailänder Vettern waren unter dem Horizont der Endzeit getaucht. An den stillen Beniamino und an Gigi, der von Jugend und Lebenslust vibrierte, dachte ich nur noch selten; sie waren in der allzu großen Schar der verlorenen Freunde aufgegangen. Verfluchte Zeiten“ (S. 57).

Erst während der Kapitulation Mussolinis im September 1943 erinnert sich Parin – der zu dieser Zeit als Arzt am Bürgerspital Luganos arbeitete – wieder an seine Vettern. Jahre später sollte er über ihr Schicksal Näheres erfahren: Der eine, Gigi, war ermordet worden, ausgelöscht, der andere, Beniamino, war rechtzeitig von einem Verwandten nach Marokko geschickt worden, wurde dort ökonomisch erfolgreich und privat glücklich. Zufälligkeiten. Was bedeutet Parin die erzählte Epoche einer vergangenen, verbrecherischen Zeit?

„Warum mir die Mailänder Vettern immer gleichzeitig in den Sinn kommen, warum sie die gleiche Erinnerungsgegend bewohnen, war vorerst kein Rätsel: die Einheit des Ortes. Dann, als alles vorüber war, das Schicksal – die faschistische Endzeit – mit beiden grausam verfahren war, den unscheinbaren und unbeholfenen Beniamino hinaufgewirbelt, den übermütigen smarten Gigi zerschmettert hatte und sie – ganz anders als ich oder irgendwer es erwartet hätte – ausgespielt worden waren wie Spielkarten, habe ich es aufgegeben, nach einem Sinn in ihrem Schicksal zu suchen. (Von Gerechtigkeit sei nicht die Rede.) Die Verhältnisse wirken auf Menschen ein, absurd und wahllos, in jener Zeit und heute. Die Mailänder Vettern gehören nur in meiner Erinnerung zusammen“ (S. 43).

Es folgen weitere komische, abenteuerliche und traurige Geschichten, aus der Perspektive des neugierigen und engagierten Menschenkenners beschrieben, halb erfunden und halb erlebt, in denen die Protagonisten Abenteuer und Gefahren bestehen, die von Menschen geschaffenen Verhältnisse kennen lernen, träumen. Eine Erzählung beginnt so:

„Ich war siebzehn und hatte das Gefühl, noch nie ein richtiges Abenteuer erlebt zu haben. Das Gefühl habe ich gelegentlich noch heute. Doch war es damals stärker und drängender. (…) Ich hatte in Susak den Liniendampfer genommen, der die Adriaküste entlang bis Dubrovnik fuhr, um Onkel Umberto in Zara zu besuchen, wie im letzten September und vor zwei Jahren. (…) Nachdem ich ein Wurstbrot mit einem Schoppen dalmatinischen Rotwein heruntergespült hatte, das beim Steward für drei Dinar zu haben war, schlief ich auf Deck. (…) Auf meinem Platz am Vorderdeck ließ ich mich von der Septembersonne bräunen, sah die Inseln langsam vorüberziehen, die immer grüner wurden, je weiter wir nach Süden kamen. Ich döste ein und wachte von der Sirene auf, wenn das Schiff anlegte und bald wieder weiterfuhr…“ (S. 88f.)

Es folgen abenteuerliche, vom wissenschaftlichen Forschungsdrang inspirierten Erzählungen: Reisen durch Äthiopien im Jahr 1972, einfühlsame Beschreibungen seines Besuches bei dem Ethnologen Hans Kummer, bekannt durch seine Verhaltensforschungen ei äthiopischen Pavianen; ein erneuter Besuch im sozialistischen Äthiopien zehn Jahre später: Real existierender Tourismus. Bericht von einer kapriziösen Ferienreise ironisierend betitelt. Dann Reisen „im Westen der nördlichen Hemisphäre„: Besuche bei einem marxistischen Freund, einem Biologen, in Kanada, 1969, sowie eines weltweiten Afrikanisten-Kongresses, bei dem sich wohlwollende universitäre Afrikaforscher treffen – und zu ihrer Irritation durch junge Aktivisten der Black Panther am Diskutieren gehindert werden: Sind Black Panthers Afrikaner?, so lautet der Titel.

In einem letzten Kapitel erzählt Paul Parin über seine Besuche in Indonesien, in der Phase seines schmerzhaften Abschieds vom geliebten Afrika, dem Ort wahrer Brüderlichkeit und unverstellten Glücks. Parins Interesse an Indonesien, seelisch lange in ihm verborgen, ging auf einen Jugendfreund Goldy Parin-Matthèys zurück: Ferdl, der in Graz gemeinsam mit Goldy und einigen Freunden in einer kleinen, anarchischen Brüdergemeinde verkehrt hatte:

„In die Brüdergemeinde fand Einlaß, wer radikal gegen alles war, was die Insel umgab. Im Park oder im Wintergarten trafen sich Künstler und Kommunisten, Dichter und schöne Mädchen, Architekten und Germanisten. Sie tranken Rotwein und türkischen Kaffee und diskutierten bis zum Morgengrauen. Goldy sang Chansons von Brecht zur Gitarre, und Wolfgang Benndorf trug die Lieder vor, die er komponiert hatte“ (S. 166).

Ferdl war vielleicht nicht das „Vorbild“ der Brüdergemeinde, war jedoch allen voraus. Ein Weltenreisender, der aus der Enge von Graz als erster den Weg hinaus in die Welt fand. Für Parin war er, bewusst oder unbewusst, eine Identifikationsfigur:

„Ich habe Ferdl nie getroffen. Goldy hat mich keineswegs als seinen Zwilling oder Nachfolger angesehen. Doch haben die Abenteuer seiner längst vergangenen Jugendzeit für uns die Weichen gestellt, als es mit den Afrikareisen nicht mehr weiterging und wir uns entschlossen, nach Indonesien zu reisen. Der Mythos seiner Abenteuer hat sich in mir festgehakt“ (S. 167; Hervorhebung d. Verf.).

Indonesien bot der „leidenschaftlichen Neugier“ des Fors­chers Paul Parin, „die man Forschungsdrang nennt“ (S. 196), ein neues Betätigungsfeld, neue Orientierungsmöglichkeiten. Ein Islam, in dem die Frauen nicht unterdrückt werden. Parin bemerkt:

„Die geographische Abstraktion schien unbegrenzte Möglichkeiten zu öffnen. Während ich von dieser Reise erzähle, merke ich, wie wenig wir uns von der eigenen Vergangenheit entfernt haben. Über exotischen Inseln – dieselbe Sonne“ (S. 168).

Es folgen weitere Abenteuer und lebensähnliche Erfindungen aus Indonesien: Eine Massenbekehrung, spontan entstanden, von den christlichen Missionaren ängstlich durchgeführt, von der ihm Großvater Jan berichtet. Eine Rikschafahrt, angesichts sprachlicher und kultureller Defizite des Erzählers von Peinlichkeiten begleitet. Ein inszenierter Schwerttanz, zur Belustigung erhoffter Touristen, ein Ort der Erniedrigung. Ein von Europäern organisierter Kunstraub, kulturelle Entwurzelungen, menschenverachtend und skrupellos durchgeführt.

Schließlich landet Parin auf der Insel Alor, wo amerikanische Forscher vor 50 Jahren die Kulturanthropologie begründet haben. Parin stellt einige Überlegungen zu früheren ethnologischen Deutungsversuchen an, verbunden mit Landschaftsbeschreibungen. Er lernt einen jungen Forscher kennen, der die bedrohte Architektur der Adat-Hütten und Häuser in mühsamer Arbeit aufzeichnet, photographiert. Das Völkerkunde-Museum von Rotterdam möchte diese in Verwahrung nehmen. Kommt solchen europäischen Bemühungen ein Sinn zu? Den Titel dieser lebendigen und anrege­nden Erzählsammlung Eine Sonnenuhr für beide Hemisphären aufgreifend, bemerkt Parin abschließend:

„Von der großen Reise zurück, fragen wir uns, ob die Zeugnisse des Adat in einem Museum am richtigen Ort sind. Wohin gehören die wunderbaren Kulturen der südlichen Hemisphäre? Sie werden von der Moderne überrollt. Die behutsamen Indonesier könnten sich nicht wehren. Die Menschen beider Hemisphären gleichen einander immer mehr. Doch kommen sie einander nicht näher. In meiner Erinnerung sind sie noch beisammen, bewahrt wie im Museum; unter derselben Sonne, immerhin“ (S. 205).

Paul Parin: Eine Sonnenuhr für beide Hemisphären und andere Erzählungen, Hamburg 1995, Euro 17,50, Bestellen?

Die Rezension ist zuvor erschienen in psychosozial Nr. 71 (I/1998), S. 135-138. Wir danken dem Autor Roland Kaufhold und dem Psychosozial Verlag für die freundlich erteilte Nachdruckgenehmigung.

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