Diese rabbinische Auslegung von Exodus 12-23 reicht von Israels Auszug aus Ägypten bis zur Gottesoffenbarung auf dem Berg Sinai mit der Verkündung der Zehn Gebote. Hier zeigen sich die Schriftgelehrsamkeit und der Ideenreichtum der frühjüdischen Meister…
Im Gegensatz zu den frühjüdischen und auch den christlichen Bibelkommentierungen, in denen die Ausleger um das eine wahre Verständnis des heiligen Textes ringen und manchmal streiten, geht die rabbinische Schriftauslegung von einer völlig anderen Voraussetzung aus: Da Gott seinem Volk die Tora ein für allemal gegeben hat, muß man ihr möglichst viele Deutungen entnehmen können, die Antworten für die jeweilige Zeit und für unterschiedliche Lebensumstände bieten.
Dazu leistet jeder Rabbi dank seiner Schriftgelehrsamkeit einen Beitrag; die Vielfalt der Auslegungen ist erwünscht, demonstriert sie doch den Reichtum der göttlichen Offenbarung. Ein rabbinischer Midrasch wie die Mekhilta, worin der Bibeltext Vers für Vers und manchmal auch Wort für Wort ausgelegt wird, versammelt deshalb eine große Fülle möglicher Interpretationen (ca. 600 S.).
In der Mekhilta de-Rabbi Jishmael kommen über neunzig Rabbinen zu Wort, am häufigsten unter ihnen der frühe Meister Jishmael ben Elisha. der Anfang des 2. Jahrhunderts lebte. Nach ihm wurde diese anonyme Kommentarsammlung benannt . Ihr Grundstock geht auf das Ende des 3. Jahrhunderts zurück, aber sie wurde noch über längere Zeit bearbeitet und erweitert. Gegenstand der Auslegung sind zwölf Kapitel aus dem 2. Buch Mose (Exodus 12-23), deren Höhepunkte der Auszug Israels aus Ägypten und Gottes Offenbarung auf dem Berg Sinai mit der Verkündung der Zehn Gebote bilden.
Die bislang einzige deutsche Ausgabe aus dem Jahr 1909 war nur für Experten verständlich.
Günter Stembergers Neuübersetzung aus den mittelalterlichen Handschriften und seine Erläuterungen erschließen diesen eindrücklichen Text nun für ein größeres Publikum.
Der Herr war auf den Berg Sinai herabgestiegen. Ich könnte meinen, auf den ganzen (Berg). Doch die Schrift lehrt: auf den Gipfel des Berges. Ich könnte meinen, die Herrlichkeit (Gottes) sei wirklich herabgestiegen
und habe sich auf dem Berg Sinai ausgebreitet. Doch die Schrift lehrt: »Vom Himmel her habe ich mit euch geredet.« (Ex 20,22) Das lehrt, daß Gott die unteren Himmel und die obersten Himmel auf den Gipfel des
Berges niederbeugte und die Herrlichkeit (Gottes) herabstieg und sich auf dem Berg Sinai ausbreitete, wie ein Mensch ein Kissen auf dem Bett ausbreitet und wie ein Mensch, der vom Kissen herab redet.
Es heißt ja: »wie ein Feuer, das Reisig entzündet, wie ein Feuer, das Wasser zum Sieden bringt. Mache deinen Feinden deinen Namen bekannt, so daß die Völker zittern vor dir.« (Jes 64,1)
Und so heißt es: »Wenn du schreckliche und nie erwartete Taten vollbringst, erzittern vor dir die Berge.« (Jes 64,2)
Rabbi Jose sagt: Siehe, es heißt: »Der Himmel ist der Himmel des Herrn, (die Erde aber gab er den Menschen).« (Ps 115,16)
Nicht stiegen Mose und Elija hinauf, noch kam die Herrlichkeit (Gottes) herunter. Vielmehr lehrt (die Schrift), daß Gott zu Mose sagte: Siehe, ich rufe dir vom Gipfel des Berges, und du steigst herauf. Es heißt ja: Und Gott hatte Mose gerufen.
(Traktat Bahodesh, Kapitel 4)
Bestellen: Mekhilta de-Rabbi Jishmael
Ein früher Midrasch zum Buch Exodus
Aus dem Hebräischen übersetzt und herausgegeben von Günter Stemberger, ersch. im „Verlag der Weltreligionen„.
Günter Stemberger, geboren 1940, ist emeritierter Professor für Judaistik an der Universität Wien, korrespondierendes Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Ehrendoktor der Theologischen Fakultät der Universität Göttingen.
–> Nicht nur für Studierende: Günter Stembergers Einführung in die Judaistik
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