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Das Endspiel ist morgen

Eshkol Nevos grandioser Roman über die Freundschaft von vier jungen Männern ist die ideale Lektüre für die nächsten Wochen…

Von Andrea Livnat

Das ist eines dieser Bücher, die süchtig machen, die man nicht weglegen kann, an die man tagsüber denken muss, bis man endlich wieder Zeit hat, sich darin zu vertiefen. Die man in wenigen Tagen verschlingt, bis zum Ende, wo man dann nur noch ganz langsam liest, damit es doch nicht gleich aus ist. Dabei ist Eshkol Nevos „Wir haben noch das ganze Leben“ eine scheinbar schlichte Geschichte. Vier junge Männer, der Erzähler Juval, Joav, Churchill genannt, Amichai und Ofir, freunden sich im letzten Schuljahr an und bleiben auch danach eine eingeschworene Clique.

Die Handlung folgt ihrer Freundschaft zwischen zwei Fussball-Weltmeisterschaften, die sie immer gemeinsam ansehen. Mal noch zu Hause bei den Eltern, mal bei der Armee, mal im Krankenhaus. Und dann, beim Endspiel Frankreich-Brasilien 1998, hat Amichai die Idee, dass jeder auf einen Zettel drei Wünsche notiert, wo er bei der nächsten Weltmeisterschaft, also in vier Jahren, in privater und beruflicher Hinsicht sein möchte. Vor dem Endspiel würden sich die Freunde dann die Wünsche vorlesen.

Im Laufe der Handlung nähern sich die Freunde ihren Wünschen an, entfernen sich davon, haben Schicksalsschläge und große Veränderungen zu überstehen. Dem einen wird die große Liebe ausgespannt, der andere verliert sie tragisch durch eine überflüssige Schönheits-OP und wird zum Witwer, der dritte findet sie in Indien in Gestalt einer alleinerziehenden Dänin. Berufliche Erfolge stellen sich ein und zerfallen wie Staub, unerwartete Ideen setzen sich durch. Rückblenden zeugen von den Nuancen der Freundschaft, die anfangs ziemlich perfekt erscheint, von den Verbindungen unter den einzelnen Freunden, ihren Differenzen und Streitereien. Nevo versteht es meisterhaft, Erinnerungen einfließen zu lassen, die den Leser an die eigenen Freunde, an die eigenen Episoden im Leben denken lassen:

„Wir vier sind im Sand eingegraben, nur unsere Köpfe schauen hervor. Der verstrubbelte Lockenkopf von Ofir. Der breite, kurz geschorene Schädel von Churchill. Der rundliche von Amichai. Und mein kleines, sparsames Köpfchen. Drei Stunden hatten wir am Südstrand geschuftet, unter einer brennenden Julisonne, und Gräber ausgehoben, und danach brauchte die Kamerafrau noch einmal eineinhalb Stunden, den Sand zurückzuschaufeln und um unsere Körper festzuklopfen, damit es so aussähe, als könnten wir uns nicht befreien. Ich weiß schon nicht mehr, für welches Produkt der Werbespot sein sollte, den Ofir als Übung in seinem Kurs für Konzeptentwicklung zuwege bringen musste.“

„Wir haben noch das ganze Leben“ ist kein politisches Buch. Dennoch sind, genau wie im echten Leben in Israel, die Spannungen beständig präsent. Zu den einprägendsten Momenten gehört die Schilderung Yuvals von einem Erlebnis aus seiner Armeezeit. Nevo spinnt zudem einen Mikrokosmos der säkularen Gesellschaft Israels. Thematisiert wird neben dem Aufwachsen in einer Familie von Neueinwandereren etwa der Alltag einer hinterbliebenen Familie:

„In ihrem Wohnzimmer hing ein riesiges Foto von seinem Vater in Uniform, und er sah Amichai überhaupt nicht ähnlich. Er hatte helles Haar und war von dunkler Selbstsicherheit. Die Augen gerissen, listig. Ich erinnere mich, dass es außer diesem Bild keine weiteren im Wohnzimmer gab, nur Auszeichnungen, die dem Vater von veschiedenen Einheiten, in denen er gedient hatte, verliehen worden waren. (…) Ich erinnere mich auch, dass es nicht seine Mutter war, die das Essen am Tisch auftrug, sondern Amichai, und dass ihr Teller die ganze Mahlzeit über leer blieb. Sie sah aus wie jemand, der schon lange nicht mehr gegessen hatte, und als ein starker Windstoß durchs Fenster kam, hatte ich einen Moment lang Angst, er könnte sie vom Stuhl wehen und durch den Raum wirbeln.“

Die vier Freunde stammen aus Haifa und sind nach ihrer Armeezeit nach Tel Aviv gezogen. Die Stadt nimmt in Nevos Beschreibungen einen wichtigen Part ein und ist sowohl Ausgangspunkt für traurige wie auch euphorische Erlebnisse. Eshkol Nevo, 1971 in Jerusalem geboren, wuchs selbst teilweise in den USA auf. Er studierte in Tel Aviv Psychologie und arbeitete zunächst als Werbetexter. Heute unterrichtet er unter anderem creative writing. Diese Aspekte sind auch in den Roman und seine Figuren eingeflossen. „Wir haben noch das ganze Leben“ ist Nevos zweiter Roman.

Es sind die leisen Töne, die hier so wunderbar zu hören sind. Nicht aufdringlich politisiert vermittelt Nevo seinen Lesern das Leben in Israel, sondern alltäglich, schlicht und poetisch. Er schafft es dadurch, wie ich es noch in keinem anderen aktuellen israelischen Roman gelesen habe, Lebensgefühl darzustellen:

„Wenn man langsam fährt, nimmt man die unterschiedlichen Nuancierungen von Grün auf den Feldern zwischen Netanya und Hadera wahr, die Vogelschwärme, die in schnell wechselnder Formation über die Fischabssins von Maagan Michael fliegen, und die neue Wohnsiedlung, die bei Newe Yam gebaut wird, wo früher der Wasserpark mit den allerblausten Rutschen in ganz Israel war, und bei der Rutschpartie auf dem Abhang der Erinnerungen kommen einem andere Fahrten auf dieser Piste in den Sinn, deren offizielle Bezeichnung Schnellstraße Nummer 2 lautet, die aber die Schnellstraße Nummer 1 deines Lebens ist“.

Eshkol Nevo, Wir haben noch das ganze Leben, dtv 2010, Euro 14,90, Bestellen?

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