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Psychoanalyse, Ethnopsychoanalyse, Kulturkritik: Paul Parins Schriften auf CD

Der kürzlich im Alter von 92 Jahren verstorbene Schweizer Psychoanalytiker und Schriftsteller Paul Parin blickt auf ein langes, außergewöhnlich produktives Leben zurück. Die Anzahl, thematische Bandbreite und Qualität seiner Publikationen – 15 Bücher und über 400 weitere Beiträge – ist beeindruckend. Im Alter wurde er hierfür vielfach geehrt. Der „soziale Ort“ (S. Bernfeld) dieser Produktivität war „einerseits“ Zürich: Bis zu seinem Tod lebte Paul Parin in der Wohnung, in welcher er bereits vor über einem halben Jahrhundert, seinerzeit noch gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Goldy Parin-Matthéy sowie dem viel zu früh verstorbenen Psychoanalytiker Fritz Morgenthaler, eine Gemeinschaftspraxis betrieb. Nun ist eine CD erschienen, auf welcher alle seine Aufsätze und Essays versammelt sind: Mehrere 100 glänzend geschriebene Beiträge aus 60 Jahren…

Von Roland Kaufhold

Immer, wenn es Paul Parin und seine Lebenspartnerin Goldy Parin-Matthéy im idyllisch-engen Zürich nicht mehr aushielten, brachen sie auf: Zuerst, 1944/45, als antifaschistische Kämpfer zu den jugoslawischen Partisanen, später zu mehrmonatigen Forschungsexpeditionen nach Afrika, noch später nach Indonesien.

Paul Parins aus diesen Forschungstätigkeiten erwachsenen Bücher sind weitgehend noch zugänglich – ob dies in einigen Jahren noch so sein wird, erscheint angesichts der Schnelllebigkeit des Buchmarktes als höchst ungewiss. Ein systematischer Zugang zu seinen unzähligen Zeitschriftenbeiträgen aus dem Zeitraum ab 1948 ist jedoch bereits heute mit erheblichem Aufwand verbunden.

Johannes Reichmayr hat eine sehr verdienstvolle Arbeit unternommen: Er hat eine CD erstellt, welche 242 deutsch-, z.T. auch englisch-, französisch- sowie spanischsprachige Veröffentlichungen Parins aus den Jahren 1948 bis 2001 enthält – ein zeitgeschichtliches Juwel. Nahezu alle Zeitschriftentexte Parins, sogar einige seiner Bücher – viele tausend Seiten – sind nun „für ewig“ und leicht zugänglich aufbewahrt – und laden zu einer Neu- bzw. Wiederentdeckung ein. Ergänzt werden diese Texte durch eine liebevoll zusammengestellte Sammlung von Photos sowie einiger auditiver Aufnahmen Parins.

Wie soll man diesem gewaltigen Lebens- und Lesewerk in einer kurzen Besprechung gerecht werden? Ein hoffnungsloses Unterfangen. Beginnen wir also mit dem ersten auf der CD erfassten Parin-Text. 1945, nach der Niederlage der Nationalsozialisten, waren die als antifaschistische Ärzte in Titos Partisanenarmee engagierten Parins nach Zürich zurückgekehrt. „Nach dem Sieg waren wir überflüssig“, erinnert sich Paul Parin im Rückblick. Ihre Entidealisierung vermochten sie kreativ umzuformen. Die psychoanalytische Ausbildung war nun ein Ziel, für das einzusetzen sich lohnte. 1948 publiziert der junge Arzt und Psychoanalytiker im „Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie“ eine 21-seitige klinische Studie über seine medizinisch-psychiatrischen Erfahrungen in der jugoslawischen Volksbefreiungsarmee: „Die Kriegsneurose der Jugoslawen“. Parin leitet bereits diese frühe wissenschaftliche Studie in der ihm eigenen luziden, lakonischen Art ein: „Jeder Krieg mutet einer größeren Anzahl von Menschen in psychischer Beziehung mehr zu, als man gemeinhin glaubt, daß ein Mensch ertragen könne, und ein kleiner Teil der so Betroffenen wird psychisch krank.“ Sein psychoanalytisch geschulter Blick veranlasst ihn wenig später zu der Beobachtung: „Die genitale Libido stieß auf Versagung. Mit Ausnahme von Slowenien, wo als einzigem Landesteil die Partisanenanfälle nicht vorkamen, galt in allen Partisaneneinheiten strengstes Sexualverbot. Liebesbeziehungen wurden nicht geduldet“ – bis hin zur Todesstrafe.

Schauen wir uns die thematischen Schwerpunkte von Parins Schaffen an: Bereits 1958 veröffentlicht er seine erste, aus seinen Afrika-Forschungsreisen erwachsene ethnopsychoanalytische Studie: den 14seitigen Beitrag „Einige Charakterzüge `primitiver´ Afrikaner“; in den 1960er Jahren folgen unzählige weitere ethnopsychoanalytische Diskussionsbeiträge. 1961 publiziert Parin „Psychoanalytische Bemerkungen zur Homosexualität“. Er verfasst unzählige Buchbesprechungen auch zu englisch- und französischsprachigen Neuerscheinungen. Ende der 1960er Jahre ist ein deutlicher Anstieg seiner Produktivität sowie eine Hinwendung zu gesellschaftskritischen Fragestellungen zu konstatieren. Seine Studien „Ist die Verinnerlichung der Aggression für die soziale Anpassung notwendig?“ (1969) sowie „Freiheit und Unabhängigkeit: Zur Psychoanalyse des politischen Engagements“ (1969) können als „Klassiker“ gelten.

Wohl angeregt durch die frühen familientherapeutischen Bücher Horst-Eberhard Richters richtet Parin nun einen kritischen Blick auf „Änderungen der Geschlechtsidentität während der Therapie“ (Psyche, 1972). Und immer wieder setzt er sich in Rezensionen unmittelbar freundschaftlich-kritisch mit H.-E. Richter auseinander. So bemerkt er 1972 zu dessen Buch „Die Gruppe“: „Das vorliegende Buch beschreibt klar und kritisch einige konkrete Versuche, das Erhoffte zu erreichen. Der Leser versteht, welche Schritte weiter geführt haben und wie man sich der Erfüllung jener `Hoffnung vieler´ annähern kann. Andererseits erweist sich bereits einiges an jener Hoffnung als Illusion. Kurz gesagt: wir nehmen teil an der Arbeit eines Pioniers.“ Parin sympathisiert mit Richters Entschluss, das vertraute analytische Setting zu verlassen und sich auf eine „ungewohnte Praxis“ einzulassen: „Er verzichtet in der Praxis und bei der Reflexion des Erfahrenen vollständig auf den Status des Psychoanalytikers und auf alles, was sich davon abzuleiten pflegt, doch natürlich nicht auf sein analytisches Können und Wissen.“

Ab Mitte der 1970er Jahre wendet Parin seine ethno- und psychoanalytischen Erkenntnisse auf seine eigene Ethnie – sprich: auf den deutschsprachigen Lebensraum – an: „Typische Unterschiede zwischen Schweizern und Süddeutschen aus dem gebildeten Kleinbürgertum“ (1976) „Zunehmende Intoleranz in der Bundesrepublik“ (1976) und „Der ängstliche Deutsche: Kleinbürger ohne Selbstbewusstsein“ (1976), lauten nun programmatisch seine Studien. Die Züricher Jugendunruhen Anfang der 1980er Jahre veranlassen den aus einer großbürgerlich-privilegierten Familie stammenden Parin zu einer behutsamen Parteinahme. Er nimmt in Zürich – wie im bewegenden Filmportrait der Schweizer Filmemacherin Marianne Pletscher dokumentiert – , an Demonstrationen teil und wirbt in wissenschaftlichen Studien für die Motive der aufbegehrenden Jugendlichen. Die Lektüre von „Befreit Grönland vom Packeis“ (1980) und „Wenn der Freund und Helfer zuschlägt“ (1981) ist weiterhin lesenswert. Ich selbst habe letzteren Beitrag 1981 im Philosophieunterricht eines Gymnasiums gelesen. Der Name des Autors hatte sich mir eingeprägt.

1980 wird Paul Parin mit seinem literarischen Erstlingswerk „Jahre in Slowenien“ zum Schriftsteller. Zehn Jahre später schließt er aus Altersgründen seine psychoanalytische Praxis; im gleichen Jahr erscheint „Es ist Krieg und wir gehen hin“ – sein Erinnerungsbuch an sein antifaschistisches Engagement in Jugoslawien. Der fürchterliche Krieg im ehemaligen Jugoslawien veranlasst Parin, seine literarische Tätigkeit immer wieder zu unterbrechen. Er verfasst unzählige, auf der CD dokumentierte Studien über den Jugoslawienkrieg, engagiert sich insbesondere für die verfolgten Kosovo-Albaner. Genannt seien die Beiträge: „Das Bluten aufgerissener Wunden. Ethnopsychoanalytische Überlegungen zu den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien“ (1993) und „Lügen in Zeiten des Friedens“ (1998).

In dem öffentlichen Aufruf „Warnung vor Seelenmord an Kindern. Bosnische Flüchtlinge vor der Rückschaffung“ (1998) appelliert der seinerzeit 81-Jährige nachdrücklich, unter Berufung auf seine Biographie, für ein Bleiberecht dieser Kriegsflüchtlinge: „Ich schreibe über `alleinerziehende Mütter´ aus Bosnien-Herzegowina und über andere Familien aus dem ehemaligen Jugoslawien, deren Kinder alle der gleichen Gefahr ausgesetzt sind, wenn sie zurückgeschickt werden. Ich schreibe, um zu warnen und zu bitten. Meine Warnung richtet sich an die Öffentlichkeit und an unsere Behörden. (…) Ich möchte nicht noch einmal stummer Zeuge einer unmenschlichen Politik sein, für die sich kommende Generationen entschuldigen und deren wir uns schämen müssen.“

Die vorliegende CD mit den Schriften Paul Parins ist eine Einladung, sich noch einmal mit dem tiefgründigen, weitgefächerten Wirken dieses außergewöhnlich produktiven Wissenschaftlers, Psychoanalytikers und Erzählers auseinanderzusetzen. Paul Parin hat vielen von uns mehr geschenkt, als wir zurückzugeben vermochten.

Paul Parin (2005): Psychoanalyse, Ethnopsychoanalyse, Kulturkritik. Paul Parins Schriften auf CD, herausgegeben von Johannes Reichmayr, 19,90 Euro, Psychosozial-Verlag, Gießen, Bestellen?

Ausführliche Nachrufe des Autors auf Paul Parin sind in folgenden Zeitschriften erschienen:

“Ein moralischer Anarchist”. Erinnerung an den Psychoanalytiker, Schriftsteller und skeptischen Weltbürger Paul Parin (20.09.1916–18.05.2009), in: psychosozial H. 3/2009 (Nr. 117), 32. Jg., S. 117-126.
Nachruf auf Paul Parin. Erinnerung an den Psychoanalytiker, Schriftsteller, Ethnopsychoanalytiker und skeptischen Weltbürger Paul Parin (20.9.1916-18.5.2009), in: Kinderanalyse 3/2009, 17. Jg., S. 297-303.
Erinnerung an den Psychoanalytiker, Schriftsteller und anarchistischen Weltbürger Paul Parin (20.09.1916–18.05.2009), in: Journal für Psychoanalyse 50 (29. Jg.), 2009, S. 178-182 (Herausgeber: Psychoanalytisches Seminar Zürich (PSZ))

Internet:

http://www.paul-parin.info
http://www.hagalil.com/archiv/2009/05/19/parin/
http://www.suesske.de/kaufhold-3.htm

Buchveröffentlichungen Paul Parins:

1963: (& F. Morgenthaler & G. Parin-Matthèy): Die Weissen denken zuviel. Psychoanalytische Untersuchungen bei den Dogon in Westafrika. München: Kindler.

1971: (& F. Morgenthaler & G. Parin-Matthèy): Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst. Psychoanalyse und Gesellschaft am Modell der Agni in Westafrika. Frankfurt/M.: Suhrkamp. (Neuauflage: Psychosozial-Verlag).

1978: Der Widerspruch im Subjekt. Ethnopsychoanalytische Studien. Frankfurt/M.: Syndikat.

1980: Untrügliche Zeichen von Veränderung. Jahre in Slowenien. Frankfurt/M.: Fischer TB.

1985: Zu viele Teufel im Land. Aufzeichnungen eines Afrikareisenden. Frankfurt/M.: Syndikat.

1986: (& G. Parin-Matthèy): Subjekt im Widerspruch. Aufsätze 1978-1985. Frankfurt/M.:
Syndikat. (Neuauflage: Psychosozial-Verlag).

1990: Noch ein Leben. Eine Erzählung. Zwei Versuche. Freiburg i. Br.: Kore. (Neuauflage: Psychosozial-Verlag).

1991: Es ist Krieg und wir gehen hin. Bei den jugoslawischen Partisanen. Berlin: Rowohlt.

1993: Karakul. Erzählungen und ein Faksimile. Hamburg: EVA.

1995: Eine Sonnenuhr für beide Hemisphären und andere Erzählungen. Hamburg: EVA.

1996: Heimat, eine Plombe. Rede am 16. November 1994 in Wien. Hamburg: EVA.

2001: Der Traum von Ségou. Neue Erzählungen. Hamburg: EVA.

2003: Die Leidenschaft des Jägers. Hamburg: EVA.

2005: Das Katzenkonzil. Hamburg: EVA.

2006: Lesereise 1955 – 2005. Lesereise 1955 – 2005: Berlin: Freitag

Kaufhold, R.: Ein moralischer Anarchist. Der Psychoanalytiker und Schriftsteller wird heute 90 Jahre alt. In: Basler Zeitung, 20.09.2006, S. 6f..

Pletscher, Marianne (1996): „Mit Fuchs und Katz auf Reisen, zum achtzigsten Geburtstag von Paul Parin“, Filmportrait, 22.9.1996, 3-Sat: 17.10.1996, 45 Min.

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