Mit „Meines Vaters Liebling“ liegt das zweite Buch der amerikanischen Autorin Carole L. Glickfeld in deutscher Übersetzung vor. Eigentlich ist es ihr erster Roman, der bereits 1991 erschien. Wie auch in „Herzweh“ verarbeitet die Autorin autobiografische Aspekte und Erlebnisse zu einem sensiblen Familienbild im Manhattan der 50er Jahre…
Von Andrea Livnat
Die Protagonistin in „Herzweh“ ist eine jüdische Immigrantin, die mit ihrer Familie zunächst in Brooklyn, dann in Manhattan wohnt. Manhattan ist auch Schauplatz von „Meines Vaters Liebling“, genauer gesagt der nördliche Teil, nahe Dyckman Street und Fort Tyron Park. Hier wuchs Carole Glickfeld, Tochter von Blanche und Robert Lieber, selbst auf. Eine weitere autobiografische Übereinstimmung hat sie in ihrem ersten Roman umgesetzt: Ruthie Zimmer, die Protagonistin von „Meines Vaters Liebling“, ist ein Kind von gehörlosen Eltern. Carole Glickfeld gibt selbst an, dass die amerikanische Gebärdensprache tatsächlich ihre erste Sprache war. Trotz der Übereinstimmungen mit der Biografie der Autorin sind beide Bücher nicht als Autobiografien zu verstehen, vielmehr als „Prämisse des Erzählens“, wie es Vladimir Vertlib beschrieben hat: „Das Wesentliche daran ist für mich, (…) ob bzw. wie sich die Mischung aus Erlebtem, Hinzugedachtem und Assoziierten zu einem exemplarischen Fall verdichtet und somit für den Leser zu einem Spiegel – auch einem Zerrspiegel – der eigenen Gefühle, Erfahrungen, Ängste und Sehnsüchte wird.“
Carole Glickfeld versteht es, die Gegend, in der sie selbst aufgewachsen ist, durch ein Prisma von kleinen Erzählsträngen lebendig zu machen. Der Leser lernt nicht nur Ruthies Familie, sondern auch die Nachbarn, Freunde und Geschäfte rund um die Dyckman Street kennen. Ruthie lebt dort mit ihren beiden älteren Geschwistern und ihren gehörlosen Eltern. Der Vater ist launisch, tyrannisiert die Familie, hält sie kurz und schlägt Ruthies Mutter und Geschwister. Dennoch bleibt die Familie intakt, geht der Alltag seinen Weg. Auch wenn der Vater eines Tages verhaftet wird wegen seiner Prügelattacken. Und auch wenn Ruthie plant, ihn mit einem Küchenmesser umzubringen. Ruthies Mutter hält die Familie zusammen und weiss das Leben zu nehmen, wie es sich ihr zeigt, mit einer gehörigen Portion Pragmatismus und einfacher, aufrichtiger Herzlichkeit.
Der mit „Nachzeichnungen“ überschriebene zweite Teil des Romans spielt Jahrzehnte später kurz vor dem 80. Geburtstag von Ruthies Vater, der mittlerweile in einem Heim lebt. Die Mutter ist an Herzversagen gestorben und auch Ruthies Geschwister sind nicht mehr am Leben. Sie selbst ist nach Portland gezogen, denn „dreitausend Meilen zwischen uns sind genau die richtige Entfernung. Wir könnten uns gefühlsmässig nicht näher sein, auch wenn wir nebeneinander wohnen würden“. Die Reise nach New York, das Treffen mit dem Vater und die Geburtstagsfeier bringen Ruthie dazu, sich mit dem Vater endgültig auseinanderzusetzen.
Bedauerlicherweise hat der Verlag wiederum einen weniger passenden Titel als im Original gewählt. Aus „Swimming toward the Ocean“ wurde „Herzweh“, aus „Useful Gifts“ „Meines Vaters Liebling“. Gerade bei Letzterem ist so eine andere Gewichtung entstanden. Auch wenn die Beziehung der Protagonistin zu ihrem Vater ein massgeblicher roter Faden ist und sich der zweite Teil des Romans auf diese Beziehung konzentriert, ist sie dennoch nicht Hauptthema. Die „nützlichen Geschenke“, die Ruthies Mutter auswählt, treffen den Kern der Geschichte deutlich besser. Sie beschreiben das Aufwachsen im Haus mit einer Mutter, die sich besonders sorgt, besonders abschuftet, die pragmatisch ist und ihren ganz eigenen Sinn für Humor hat. Kurz, mit einer jüdischen Mame, nur dass sie in diesem Fall gehörlos ist.
Carole L. Glickfeld, Meines Vaters Liebling
Aus dem Amerikanischen von Mirjam Pressler
Suhrkamp taschenbuch 2008, Euro 12,90, Bestellen?
>> Leseprobe
Leserbriefe