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Novemberpogrom 1938: Die Augenzeugenberichte der Wiener Library

Es gibt Völker, religiöse Gruppen, schlicht Menschen, die über Jahrhunderte immer wieder verfolgt werden. So die Juden. Der moderne Antisemitismus des 20. Jahrhunderts zeigt sich schliesslich von seiner erbarmungslosesten Seite. So bezeichnet der jüdische Gelehrte Alfred Wiener bereits den Weimarer Antisemitismus als eine das ganze Land bedrohende „Inflation des Hasses“. Eine „Inflation des Hasses“, die im Novemberpogrom 1938 mündet…

Von Soraya Levin

Die Wiener Library, benannt nach Alfred Wiener, als eine der weltweit führenden und grössten Forschungseinrichtungen zum Holocaust hat hierzu erstmals ihre Tore geöffnet. „Novemberpogrom 1938, Die Augenzeugenberichte der Wiener Library, London“ ist der Titel einer einzigartigen Dokumentation der Opfer. 356 Zeitzeugen schildern ihre Erlebnisse im gesamten Deutschen Reich aus den Dörfern, Kleinstädten und Grossstädten wie Berlin, Frankfurt am Main und Wien in den Stunden, Tagen, Wochen und Monaten nach dem Novemberpogrom 1938.

Aufruf zum Synagogenbrand

Ruft Martin Luther in blindem fanatischen Judenhass bereits 1543 in seiner Schrift „Von den Jüden und ihren Lügen“ zum Synagogenbrand auf, so dauert es keine vierhundert Jahre bis die gesäte Saat aufgeht und im ganzen Deutschen Reich 1938 die Synagogen brennen.
Willkommener Anlass und Vorwand für den Terror gegen die jüdische Bevölkerung ist das Attentat des polnischen Juden Herschel Grynszpan auf den deutschen Gesandtschaftsabgeordneten in Paris Ernst vom Rath. Ein Vorwand, da der Terror gegen die jüdische Bevölkerung bereits 1933 einsetzt.

Der Boykott jüdischer Geschäfte beginnt. Juden werden sukzessive aus dem gesellschaftlichen Leben ausgegrenzt. Die Repressionswelle beginnt sich mit dem „Arierparagraphen“ und den „Nürnberger Gesetzen“ von 1935 zu verschärfen. Den Juden werden ihre staatsbürgerlichen Rechte aberkannt, jüdische Pässe werden mit einem „J“ gekennzeichnet. Jüdische Kinder dürfen nicht mehr auf „arische“ Schulen gehen und jüdische Schulen werden geschlossen. Es ergehen Berufsverbote für fast alle Lebensbereiche über Ärzte, Rechtsanwälte, Lehrer, Kaufleute. Jüdische Geschäfte werden nicht mehr beliefert und viele der „arischen“ Kunden weigern sich ihre Rechnungen zu bezahlen. „Im Mai 1938 haben die Friseure in ihrer Gesamtheit beschlossen, Juden nicht mehr zu bedienen. Einzelne Handwerker hatten dies schon früher getan.“ Die Führung von Zwangsvornamen wie „Sara“ und „Israel“ wird für Juden eingeführt. Nachnamen, die auf irgendetwas Deutsches hinweisen, müssen abgelegt werden. Der Terror ist überall. Selbst auf den Parkbänken, auf denen die Juden nicht mehr Platz nehmen dürfen.

Zu Beginn des Jahres 1938 wird die „Arisierung“ jüdischen Eigentums, d. h. die Zwangsenteignung jüdischen Besitzes und Vermögens in Gang gesetzt. Die Ausreisewilligen müssen ihren gesamten Besitz zurücklassen oder ihr Eigentum zu Wucherpreisen zurückkaufen.
Bereits im Juni 1938 kommt es zu willkürlichen Verhaftungen von Juden, die ohne Gerichtsurteil in Konzentrationslagern wie Buchenwald und Sachsenhausen verschwinden und dort unberechenbarer grausamer Foltertorturen ausgesetzt sind. Jüdische Männer verstecken sich, haben keinen Mut mehr, die eigene Wohnung zu betreten. Juden müssen sich ab dem Herbst 1938 über Fingerabdrücke registrieren. Ihre Autonummern werden besonders gekennzeichnet. Im Oktober 1938 werden die polnischen Juden bereits ausgewiesen. Am 8.11.1938 wird im gesamten Deutschen Reich die jüdische Presse verboten.

Novemberpogrom

Die Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 ist die Nacht der sich entladenen exzessiven gewalttätigen nationalsozialistischen Übergriffe gegen die jüdische Bevölkerung. 1400 Synagogen gehen in einem Flammenmeer unter den Augen der dabeistehenden Feuerwehr auf. Nur arische angrenzende Gebäude werden geschützt. Fensterscheiben gehen zu Bruch. Die Synagogen werden geplündert, die heiligen Torarollen zerschnitten, Rabbiner in das Feuer getrieben. Tausende von jüdischen Geschäften werden bis aufs Kleinste zerschlagen. Ob Antiquitäten, Bücher oder Wein. Die Zerstörungswut und der Vandalismus kennen keine Grenzen.

Dazwischen massenhafte Plünderungen. Jüdische Wohnungen werden gestürmt und unter den Augen von Männern, Frauen und Kindern total verwüstet und zertrümmert. „Die Schränke mit Geschirr wurden einfach umgestürzt, die Möbel alle zerhackt, die Kleider in den Schränken aufgeschlissen, das Silber auf den Boden geschmissen und zerstampft, Bilder zerschnitten, Flügel zerschlagen, kein Spiegel, kein Fenster blieb ganz.“ Was nicht zerstört ist, wird geplündert, selbst die Ringe werden den Juden von den Fingern gerissen. „Die Vollstrecker“ arbeiten Liste für Liste ab. Übelste Verbalattacken wie „Saujud“, „Juda verrecke“. Wie Vieh werden Kinder an Seilen durch die Strassen gezerrt und ganze Familien aus ihren Wohnungen geholt und in Unterkleidung oder nackt durch die Strassen getrieben. Sie werden teilweise bis zur Unkenntlichkeit verprügelt, mit Petroleum übergossen und angezündet, gezwungen mit nackten Füssen über die Glasscherben zu gehen. „Viele wurden im Nachthemd auf die Strasse getrieben und auf offene Lastautos mit Eisenstangen geprügelt"Die Strasse stand dicht voller Menschen, die die Wagenfolge beobachteten und teilweise mit Gejohle begüssten.“

Eine wahre Treibjagd, die im Burgenland die jüdischen Bewohner nackt aus ihren Häusern treibt und erschlägt. In Wien wird einem Mädchen ein Hakenkreuz in den Rücken gebrannt, andere werden vergewaltigt. Auf der Polizeistation wird einem Rabbi „"vollständig, Zähne, beide Jochbeine und die Schädelbasis, letztere mit den Stahlhelmen,"“ zerschlagen. Ein anderer muss sein Grab selbst schaufeln, andere sich gegenseitig die Haare ausreissen, es finden Scheinerschiessungen und Misshandlungen statt. Fast zwei Tage ohne Essen pausenlos stehend, „"wurden ihnen militärische Übungen kommandiert, sie mussten sich gegenseitig mit Jauche im Gesicht beschmutzen"“, gegenseitig ihren Urin trinken, bei Durst den Kaffee von den Steinen auflecken. Schilder tragen mit der Aufschrift „Wir Juden sind die Zerstörer der deutschen Kultur“. „Es gibt kein Mitleid, kein Erbarmen, es ist ein vertiertes Volk, im höchsten Sadismus verzückt.“ Der einzige Ausweg der Verhaftung zu entgehen, ist für viele Juden der Selbstmord.

Situation nach dem Novemberpogrom

Allein in Wien werden nach dem 10. November 1938 schon annährend 30.000 Juden verhaftet. Diejenigen, die wieder freikommen, werden wie schon die Juden der Sommeraktion gezwungen, das Deutsche Reich zu verlassen. Ihr Hab und Gut müssen sie zu Schleuderpreisen hergeben. Viele bedienen sich am jüdischen Mobiliar. Über die frisch Verheirateten bis zu den Beamten. Selbst aus den fertig gepackten Umzugskartons nimmt sich das „arische“ Volk willkürlich die letzten Habseligkeiten. Erpressungen von „arischen“ Mietern, die Häuser zu Schleuderpreisen ergattern, sind an der Tagesordnung. Ebenso seitens der Beamten, die ihre Hände aufhalten. Alle jüdischen Wohnungen sind zum Dezember 1938 gekündigt.

Die Zurückgebliebenen leben in der Ungewissheit über den Verbleib ihrer Angehörigen. Viele Frauen mit ihren Kindern sind mittellos. Nicht mal mehr Milchpulver für die Säuglinge wird an jüdische Frauen verkauft. Jüdische Kinder irren irgendwo ohne Familie hilflos umher. „Die Lage der jüdischen Kinder in Deutschland ist heute erbärmlicher, als sie jemals für deutsche Kinder während des Weltkrieges gewesen ist.“ Die einzige Hilfe ist das Kindercomite in Amsterdam, das versucht, Kindern die Emigration in die Niederlande nach Grossbritannien, die USA und Belgien zu erleichtern. Doch die internationalen Aufnahmekapazitäten sind äusserst begrenzt.

Konzentrationslager und „Jedem das Seine“

„Jedem das Seine“. In den Konzentrationslagern Buchenwald, Sachsenhausen und Dachau zeigt die SS, SA und Gestapo, was sie mit der am Eingang des Konzentrationslagers Buchenwald befindlichen Inschrift meint. Die im Vorfeld auf den Polizeistationen getätigten Folterungen werden hier fortgesetzt. Stiefel rammen sich in die erschöpften Körper, bis diese nur noch eine klumpige bewegungslose Masse sind. Willkürliches Zusammenschlagen, Peitschenhiebe und Stockschläge bis zur Bewusstlosigkeit. Die Schläge sausen oft solange auf die Körper nieder, bis der blanke Knochen guckt und bricht, bis der Atem still steht. 19, 25 und mehr Stunden still stehen, draussen, in der Kälte in dünner Gefängniskleidung bis die Gliedmassen abfrieren, bis einer umfällt. Und dann, dann wird er zu Tode geschlagen. Appell über Appell, die Alten, die Kranken, Alle. Dazwischen mit den genagelten Stiefeln immer wieder auf die wunden schon halb erfrorenen Füsse.

Das verbrecherische Handeln und die Lust auf Folter kennen keine Grenzen. Den einen sperren sie in eine enge Stacheldrahtkiste und lassen ihn verrecken, dem anderen schrubben sie buchstäblich die Haut vom Körper, der Nächste wird mit dem bleigefüllten Ochsenziemer tot geschlagen, die anderen nackt ausgepeitscht. Oder sie werden eingegraben, nur noch der Kopf sieht die Welt und dann die Tritte auf den Kehlkopf. Die, die noch leben, vegetieren in den massenhaft überfüllten Baracken wie Vieh. Kahlgeschoren, gekennzeichnet mit dem Davidstern, voller Hunger und Durst, seit Wochen in den gleichen Lumpen gekleidet, keine Wasch- und Toilettenmöglichkeit. 3 Latrinen für 1000 Juden und das alles noch bei Durchfall. Schwerste Steinbrucharbeit führt zu Lungenrissen und Leistenbrüchen. Die Kranken sind ohne ärztliche Versorgung. Trinken von Zementwasser und zur Belustigung zu Tode schleifen und zu Tode rollen sowie wahlloses totschlagen. Der Sprung in den elektrischen Stacheldraht scheint der einzige mögliche Ausweg aus der Kammer des Grauens.

Fazit

Wenn gesagt wird, „Die Hölle ist noch ein Paradies,"“, dann können wir eine ungefähre Vorstellung von den unsagbaren Grausamkeiten gegen die jüdische Bevölkerung erahnen. Es ist eine Kriegserklärung, die das Deutsche Reich ab 1933 an seine jüdische Bevölkerung richtet. Eine Kriegserklärung, die mit dem Novemberpogrom 1938 in einen offenen brutalen menschenverachtenden Angriff mündet. Der Beginn auf einen von langer Hand vorbereiteten Weg in den Völkermord. Die Aussagen der Zeitzeugen der Wiener Library verdeutlichen, dass der Novemberpogrom keine spontane Aktion des Volkszorns ist.

So werden die „Novemberjuden“ von den seit Juni 1938 in die Konzentrationslager verschleppten sogenannten „Aktionsjuden“ mit den Worten empfangen „Wir haben euch seit August erwartet“. Der intensive Barackenausbau der Lager sowie verstärkte Anfertigung von Sommerhäftlingskleidung sind weitere Indikatoren für eine angelegte Aktion schon lange vor dem Monat November. Ebenso die während der Pogromnacht mitgeführten überalterten Listen, auf denen viele bereits „arisierte“ Geschäfte noch als jüdisch vermerkt sind.

Das Deutsche Reich plündert und beklaut seine jüdische Bevölkerung. Ein justizloser Raum, in dem verfolgt, gedemütigt und gemordet wird, in dem die pervertierten Hassparolen und Hassagitationen gegen die Juden und insbesondere gegen die Bildungsschichten von weiten „arischen“ Bevölkerungsteilen mitgetragen und akzeptiert werden. „Solche Leiden fügen Menschen Menschen zu!“. Immanuel Kants „Idee der Moralität“ ist tot. Nichts dämmt den perversen Trieb nach Grausamkeit mehr ein.

Politisch restlos versagt hat die internationale Staatengemeinschaft. In Bezug auf die Aufnahme von jüdischen Flüchtlingen sind die Aufnahmekontingente trotz Wissen um Nazideutschland und dem Pogrom begrenzt. Die Konferenz von Evian im Jahr 1938 endet lediglich mit der Schaffung eines internationalen Komitees für Angelegenheiten der Flüchtlinge. Für die grosse Mehrzahl der schutzsuchenden Juden bleiben die Türen der internationalen Staaten verschlossen.

Die Zeitzeugenberichte geben eine Vorstellung von den verbrecherischen Handeln Nazideutschlands und den grausamen Foltertorturen von sadistischen Menschen an Menschen. Sie liefern einen historischen Lückenschluss, in dem sie mit dem Mythos eines sich plötzlich im November 1938 auftürmenden Volkszorns gegen Juden aufräumen. Vielmehr verdeutlichen sie auf der einen Seite, dass die hassbesetzte sogenannte „Judenfrage“ weit länger und tiefer in der Bevölkerung im Sinne von einem starken Antisemitismus gepaart mit Missgunst und Neidfaktoren verankert ist. Auf der anderen Seite ist der Novemberpogrom 1938 der Auftakt auf den Weg in den Holocaust.

„Novemberpogrom 1938, Die Augenzeugenberichte der Wiener Library, London“ sind ein geschichtlicher Beleg einer pervertierten entmenschlichten Realität eines grenzenlosen Sadismus und geplanten Völkermords, der durch keine Argumente und Vergleiche beschwichtigt oder relativiert werden darf.

© Soraya Levin

novemberpogromNovemberpogrom 1938
Die Augenzeugenberichte der Wiener Library, London

Herausgegeben von Ben Barkow, Raphael Gross und Michael Lenarz
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008
933 Seiten, Gebunden, ISBN 978-3-633-54233-8
Euro 39,80 [D] / Euro 41,00 [A] / sFr 64.50

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