Der in den Niederlanden lebende ehemalige Direktor des Leo-Baeck-Institutes in Jerusalem vertritt die These, in Europa und Nordamerika grassierten seit dem 19. Jahrhundert teils romantisch verklärte, teils realpolitisch motivierte „Wunschbilder“ über „Israel“ und den Zionismus…
Von Martin Kloke
Während Daniel Cil Brecher 2005 in seiner autobiografischen Abrechnung „Fremd in Zion“ zu ergründen suchte, warum er seiner israelischen Heimat den Rücken gekehrt hat, geht er in der vorliegenden Essay-Sammlung der Frage nach, warum sich – spiegelbildlich zu israelischen Gründungsmythen – auch im Westen ein von Projektionen und Traumbildern geprägtes Verhältnis zum zionistischen Projekt in Palästina entwickelt habe.
Ein romantisierendes Narrativ stieß erstmals im Nachgang zur Balfour-Erklärung von 1917 auf größere Resonanz, wenngleich die Motivlage nicht unterschiedlicher hätte sein können. Denn es waren keineswegs nur westliche Regierungen oder prozionistische Strömungen, die emphatisch ihre Sympathien mit „den Juden“ und mit dem zionistischen Projekt beteuerten; auch die Gegner des Zionismus trugen zur Mythologisierung der Debatte bei, indem sie den kolonialen Charakter und die vermeintliche Illegitimität der Gründung Israels wie Monstranzen vor sich her trugen.
Unter dem Schock des nationalsozialistischen Vernichtungsantisemitismus entwickelten sich nach 1945 überall in der westlichen Welt staatsoffiziell und medial verstärkte sinnstiftende Formen der Israel-Freundschaft, die sich gleichsam liturgisch-sakraler Elemente bedienten – symptomatisch dafür war die eigentümliche Mischung religiöser Traditionsbestände und einer philosemitisch aufgeladenen säkularen Zivilreligiosität. Daniel C. Brecher führt aus, die westlichen Gesellschaften, insbesondere die westdeutsche Bundesrepublik, hätten durch ihre idealisierende Israel-Rhetorik die Hypothek der Holocaust-Vergangenheit aufzuarbeiten oder gar abzutragen versucht; im Gegenzug habe sich Israel als Staat der Juden ideell neu erfinden und materiell konsolidieren vermocht. Diese doppelte Unterstützung Israels durch den Westen auch im postkolonialen Zeitalter sei für den jungen Staat Israel von strategischer Bedeutung gewesen: „Nicht die koloniale Besitzergreifung Palästinas durch Großbritannien und die Zionistische Bewegung bilden hier den Kontext, sondern der europäische Geschichtsraum, in dem Juden das Joch einer kolonialen Unterdrückung selbst abzuwerfen suchen.“ (S. 13)
Im zentralen Teil des Buches skizziert Daniel C. Brecher die prozionistische Leitkultur in den USA, die auf dem biblisch grundierten Narrativ von der Übereinstimmung amerikanischer Zivilisations- und New Frontier-Ideale mit den Aspirationen zionistischer Pioniere beruht. Doch erst in den späten 1960er Jahren erreichte die Freundschaft mit Israel jenen einzigartigen Grad an strategischer Kooperation, der das enge amerikanisch-israelische Verhältnis in Politik, Wirtschaft, Kultur und (Rüstungs-)Forschung bis heute prägt. Was für Israel von existenzieller Bedeutung ist, kostet dem amerikanischen Staat viel Geld, stellt Brecher fest – und sieht in dieser engen Allianz einen Teil der Imageprobleme begründet, mit denen die USA in arabischen und anderen nichtwestlichen Regionen nach wie vor zu tun haben. Schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg sollte das Narrativ der „besonderen Beziehungen“ mit dem aufstrebenden „Pionierstaat“ Israel auch in Deutschland Fuß fassen – dort allerdings häufig in Form eines verdrucksten Philosemitismus‘. Die Freundschaft mit Israel wurde zum identifikatorischen Entreebillet der Bonner Bundesrepublik zur westlichen Wertegemeinschaft.
Neben allzu Bekanntem fördert Brecher interessante Einzelbeobachtungen zutage – etwa, wenn er das taktische Bündnis protestantischer Messianisten und jüdischer Zionisten in den USA im frühen 20. Jahrhundert aufzeigt. Dieses Modell scheint noch lange nicht ausgedient zu haben – es hat offenbar auch Pate gestanden für das Frankfurter Treffen von 3.000 säkularen, jüdischen und christlich-evangelikalen Aktivisten des deutschen Pro-Israel-Spektrums im Herbst 2011.
Daniel C. Brecher hat seine Essays aus der Perspektive eines postzionistischen Israelkritikers verfasst, der nicht einsehen mag, dass die westliche Verbundenheit mit Israel – jenseits von idealisierenden Projektionen – auch historisch und religiös-kulturell begründeten Gemeinsamkeiten und Interessen geschuldet sein kann. Dan Diners fast trivial erscheinende Beobachtung, Zionismus und Staat Israel seien „nicht in Europa – aber von Europa“ (1995), markiert eine zentrale hermeneutische Herausforderung, um die Israel-Bilder des Westens und vice versa jüdisch-zionistische Wahrnehmungen angemessen zu dechiffrieren:
Die politisch-kulturellen Konvergenzen und auch Irritationen zwischen „dem Westen“ und „dem Zionismus“ speisen sich einerseits – aller historischen Judenfeindschaft im christlichen Europa zum Trotz – aus dem gemeinsamen judäo-christlichen Erbe und aus der politisch-kulturellen Orientierung an neuzeitlichen Grundwerten wie Demokratie, Toleranz und Liberalismus. Andererseits sind westliche (nichtjüdische) und jüdische Geschichtserfahrungen und -perzeptionen extrem gegenläufig – sie haben ihre Wurzeln in jahrhundertelanger christlicher und später auch säkularer Judenfeindschaft, kulminierend im Vernichtungsantisemitismus der NS-Zeit. Viele Europäer und vor allem Deutsche haben aus der Schoah die Lehre gezogen: „Nie wieder Täter sein – nie wieder jüdisches und anderes Leben bedrohen!” Viele Juden ziehen aus ein- und demselben Zivilisationsbruch den umgekehrten Schluss: „Nie wieder Opfer sein – im Notfall lieber zuerst zu den Waffen greifen!” Diese unterschiedlichen Haltungen wirken nach und lassen erahnen, warum sich Westler und Israelis in einem schleichenden Prozess der Entfremdung befinden – auch abseits tagespolitischer Aufregungen.
Anstatt sich mit dieser fast schon geschichtsphilosophisch anmutenden Dichotomie auseinanderzusetzen, folgt Daniel C. Brecher einer empirisch wenig reflektierten Hermeneutik des Verdachts, wonach die israelische Politik jede (!) Kritik an Israel als Antisemitismus zeihe und der jüdische Staat zu keiner Zeit existenziell bedroht gewesen sei. Dennoch lassen sich der Essay-Sammlung zahlreiche interessante Impulse zu den Determinanten komplexer Identitätskonstruktionen entnehmen, die sich im Verhältnis des Westens zu Israel herausgebildet haben.
Daniel Cil Brecher, Der David. Der Westen und sein Traum von Israel, Köln: PapyRossa Verlag 2011, 251 Seiten, Hardcover, € 15,90 [D] / € 16,20 [A] / SFR 21,90; ISBN 978-3-89438-468-5, Bestellen?
Diese Rezension erschien zuerst in: Judaica (Zürich), Heft 4, Dezember 2011, S. 430ff.
Die „politisch-kulturellen Konvergenzen und auch Irritationen“ zw Europa und Israel beruhen tatsächlich auf
.. Mangelnder Auseinandersetzung vieler Europäer und auch Amerikaner mit der Geschichte und der aktuellen Situation der Menschen in Israel
.. Mangelnder Reflexion der Zusammenhänge von christlich geprägter Weltsicht und daraus folgender Tendenz zur situativen Ablehnung und finaler Aufhebung des Judentums
Dem Westen ist der Ball nun zugespielt.
„Nie wieder Opfer sein“ ist verständlich, „Nie wieder Täter sein“ ist zu wenig.
Fleiß, Recherge und Einfühlungsvermögen/Mitgefühl sind gefragt.