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„Du bist nicht zurückgekommen“

Die französische Schauspielerin Marceline Loridan-Ivens erinnert sich an Auschwitz…

Von Roland Kaufhold

„Ich bin ein fröhlicher Mensch gewesen, weißt du, trotz allem, was uns wiederfahren ist. Fröhlich auf unsere Art, aus Rache dafür, dass wir traurig waren und dennoch lachten.“ Mit diesen Worten, ein fiktiver Brief an ihren 1945 ermordeten Vater, eröffnet Marceline Loridan-Ivens ihren tief berührende schmalen Erinnerungsband. Die 1928 geborene französische Schauspielerin und Autorin war im März 1944, 15-jährig, mit ihrem Vater nach Auschwitz-Birkenau verschleppt worden. Nur drei km voneinander entfernt versuchen sie zu überleben. Inmitten des Geruchs des brennenden Fleisches, im Angesicht der Gaskammern sehen sie sich vereinzelt. Einmal schreibt er ihr eine kurze Nachricht. Sie vergisst alles, für viele Jahrzehnte. „Ich suche und erinnere mich nicht. Ich suche, aber es ist wie ein Loch, und ich will nicht fallen.“

70 Jahre später schreibt sie ihm einen langen Brief, ein verzweifelter Versuch, Stücke des Verlorengegangenen wieder zusammen zu fügen, betitel mit „Und du bist nicht zurückgekommen“.

Als Marceline ihren Vater in Auschwitz kurz trifft wird sie von einem SS-Mann zusammen geschlagen. Sie erinnert sich: „Ich bin unter den Schlägen ohnmächtig geworden, und als ich wieder zu mir kam, warst du nicht mehr da, aber ich hatte eine Tomate und eine Zwiebel in der Hand, die du mir heimlich zugesteckt hast, sicher dein Mittagessen, ich habe sie sofort versteckt.“ (S. 15f.) Nun war das Vertraute wieder da, sie ist in Birkenau das Kind, ihr Vater ihr Beschützer. Als sie ihn am nächsten Tag noch einmal sieht wagt sie sich nicht zu rühren. Die Angst überwältigt sie,  ihre Gefühle, ihre Sprache wird ihr fremd. Ihre Erinnerungen an die Zeit davor zerfallen: „Die Wörter hatten uns verlassen. Wir hatten Hunger. Das Massaker war in vollem Gange. Ich hatte sogar Mamas Gesicht vergessen.“ (S. 18) Marceline sieht unzählige Kinder auf dem Weg in die Gaskammern. Darunter ein Mädchen, das sich an seine Puppe klammert. „Wir standen ganz nah am Abgrund. Wir lebten nur die Gegenwart, die nächsten Minuten. Nichts konnte die Hoffnung nähren.“ (S. 21)

Die 15-jährige Marceline ist für das Sortieren der Kleider zuständig. Die zerschlissenen Kleider der Ermordeten werden unter den Häftlingen verteilt, die schönsten gehen nach Deutschland: „Ich trug die Strickjacke, den Rock einer anderen Toten, die Schuhe wieder einer anderen Toten.“ Auch im Lager spielte der Antisemitismus eine große Rolle. Die Juden blieben auch dort die Projektionsfläche.

Die Schrecken, die tägliche Todesbedrohung muss verleugnet werden, wenn man überleben will. Selbst Jahrzehnte später ist es vielen Überlebenden kaum möglich, das Übermaß der Bedrohung zuzulassen: „Meine Freundin Frida hat meine Erinnerungen zurechtgerückt. `Es war bei den Küchen´, sagte ich zu ihr. `Aber nein, du übertreibst, es war direkt bei den Gaskammern.´ Sie hatte Recht. Die Krematorien liefen auf Hochtouren.“ (S. 27)

Ob der Brief ihres Vaters ihr Kraft gab? Sie ist sich nicht sicher. Sie durfte keine Hoffnung mehr haben, um sich vor tödlichen Enttäuschungen zu schützen. Der Brief ihres Vaters spricht „von einer Welt, die nicht mehr die meine war. Ich hatte jeden Bezugspunkt verloren. Es war notwendig, dass das Gedächtnis zerbrach, sonst hätte ich nicht leben können.“ (S. 29)

Eindrücklich, aus der Perspektive der Jugendlichen, die sie war, erinnert sie sich an ihren inneren Prozess der seelischen Abstumpfung gegenüber dem Leiden, dem allgegenwärtigen Tod: „Ich war hart geworden wie die alteingesessenen Deportierten (…) Überleben macht einem die Tränen der anderen unerträglich. Man könnte darin ertrinken.“ (S. 33)

Ende 1944 verlässt Marceline Birkenau, wird nach Bergen-Belsen verschleppt. Ihren Vater wird sie nicht mehr wiedersehen. Ihre Befreiung erlebt sie im Mai 1945 im Ghetto Theresienstadt. Sie erinnert sich an kein Gefühl der Freude, die Qualen, die Schrecken waren zu groß. Es bleibt das Gefühl des Verlustes. In ihrem Brief an ihren Vater betont sie: „Der 10. Mai ist der Tag meiner Befreiung.“ (S. 69)

Nach ihrer Befreiung hört sie vom Überleben ihres Onkels. 45 ihrer Verwandten sind ermordet worden. Sie geht nach Frankreich, wo sie eine bekannte Regisseurin wird. Ihr Onkel war, „in einem Karren voller Schutt versteckt“, aus einem Lager geflohen und zu polnischen Partisanen geflohen. Er verschwieg seine jüdische Identität, aus Angst. Eindrücklich prägt er der jungen Überlebenden ein: „Ich war in Auschwitz. Erzähle ihnen nichts, sie verstehen es nicht.“ (S. 35)

Ein gemeinsames Erinnern mit Freunden gelingt nicht.  Niemand vermag ihre Erfahrungen zu teilen. Sie schreibt etwas auf, zerreisst es aber wieder.

Im letzten Kapitel ihres berührenden Briefes schreibt sie ihrem Vater über ihre beiden Ehemänner – „Keiner war Jude, sei mir nicht böse“ (S. 91) – und über ihre Beziehung zu Israel, wohin sie nach ihrer Befreiung anfangs gehen wollte: „Stell dir die Welt nach Auschwitz vor. Wenn auf den Todestrieb der Lebenstrieb folgt. (…) Stell dir das endlich geschaffene Israel vor!“ (S. 94f.) Verluste wie der Tod ihres Ehemannes und das Terrorattentat des 9.11. erschüttern sie tief, zerstören ihr mühsam errungenes Gefühl der Sicherheit. „Ich weiß jetzt, dass der Antisemitismus eine feste Größe ist, dass er mit den Stürmen der Welt, den Worten, den Ungeheuern und den Mitteln jeder Epoche heranrollt.“ Ihr Vater, der sich als Zionist verstand, hatte dies vorhergesagt. Der 9.11. verstärkt ihre Identifikation mit ihrem jüdischen Erbe. Nun spürt sie sehr stark, wieviel ihr daran liegt, Jüdin zu sein. Die neuen Sicherheiten bleiben bedroht: „Du träumtest von Israel, es ist da, ich fühle mich immer wohl dort, wenn ich hinfahre, aber es ist nicht das Land des Friedens, das wir anstrebten. Seit seiner Gründung befindet sich Israel im Krieg. Gewöhnlich nehmen Kriege ein Ende, dieser nicht, denn der jüdische Saat ist von den arabischen Ländern ringsum nie akzeptiert worden, seine Umrisse sind verschwommen, explosiv. Und je länger es dauert, desto verdächtiger wird Israel, auch in der europäischen Öffentlichkeit. (…) Ich bin immer für das Zusammenleben von Israel und einem Palästina gewesen, aber immer mehr bin ich betroffen von dem, was geschieht und was ich höre, ich will darüber nicht urteilen, ich lebe nicht dort, aber kein Zweifel wird mich befallen, solange es darum geht, Israel zu zerstören. Ich werde deinen traum weiterträumen.“ (S. 107f.)

Ein sehr bemerkenswertes Werk einer 87-jährigen französischen Schriftstellerin.

Marceline Loridan-Ivens: Und du bist nicht zurückgekommen, Suhrkamp 2015, 111 S., geb., 15 Euro, Bestellen?

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