Wenige Tage nach dem Pogrom vom November 1938 berief Hermann Göring eine Sitzung im Reichsluftfahrtsministerium ein, auf der weitere Maßnahmen zur Enteignung, Verfolgung und Stigmatisierung der deutschen Juden beschlossen wurden. Der Beauftragte für den kriegswichtigen Vierjahresplan äußerte sich dabei in zynischer Weise zum Pogrom: Mir wäre lieber gewesen, ihr hättet 200 Juden erschlagen und nicht solche Werte vernichtet. Aus dieser Zusammenkunft vom 12.11.1938 ist noch eine weiterer Beitrag Görings überliefert, der zeigt, dass den Nazischergen sehr bewusst war, was der Pogrom für die deutschen Juden bedeutete: Ich möchte kein Jude in Deutschland sein…
Der Pogrom vom 9./10. November 1938 bedeutete das Ende jüdischen Lebens in Deutschland. Der Ablauf des Pogroms in Wittlich, die Folgen für die Wittlicher Juden, die Rolle der Haupttäter und die juristische Aufarbeitung werden in der vorliegenden Untersuchung umfassend dargestellt. Dabei wird auch eine Wittlicher Geschichtsüberlieferung zur Rettung der Synagoge durch den damaligen NSDAP-Bürgermeister und NSDAP-Ortsgruppenleiter Dr. Hürter kritisch hinterfragt.
Franz-Josef Schmit, Novemberpogrom in Wittlich 1938: Ablauf-Hintergründe-offene Fragen-juristische Aufarbeitung, Trier 2013, ISBN 978-3943533040, Bestellen?
LESEPROBE:
Die Tagebuchaufzeichnungen von Matthias J. Mehs zum Pogrom
Auch wenn Matthias Joseph Mehs nicht unmittelbarer Augenzeuge der Pogromvorgänge in Wittlich war, sind seine Tagebuchaufzeichnungen doch ein wertvolles Dokument zu dem Pogrom, weil er zeitnah zu Papier gebracht hat, was er teilweise selbst im Bereich der Himmer-oderstraße und vor der Synagoge gesehen hatte und was ihm von anderen zugetragen wurde.
Zu dem, was er mit eigenen Augen gesehen hat, hatte Mehs festgehalten: An der Spitze (Anm.: des Zerstörungstrupps) der Kreisleiter Kölle, ehemaliger Fliegeroffizier Hinter ihm ein Trupp SA, SS, Arbeitsfront oder was es immer war. Ich sah Fritz Teusch, den Staffelführer Ancel, später kam auch Dr. Härter, der Bürgermeister und Oberster der Polizei hier, ein Trupp von vielleicht 25 Mann, der junge N. aus der Oberstraße war auch dabei. Einer kam mit einem schweren Holzknüppel, die übrigen hatten Äxte, Beite, Hämmer. Sie schritten auf die Synagoge zu, Ancel riß gewaltsam die Tür auf sie drangen ein, und nun hörte man nichts als das schreckliche dumpfe Getön des Zusammenschlagens und Zerstörens. Dreckwolken kamen aus dem Gebäude, Bücher, Bibeln auf die Straße. Paar alte Zylinder kamen geflogen. Die Menge versuchte zu lachen, es blieb ihr im Halse stecken. Neugierige drangen ein. Wie mag es drinnen ausgesehen haben? Nach solcher Kulturtat?
Wenig Konkretes ist zum Verhalten der Bevölkerung in Wittlich überliefert. Als der ermittelnde Bonner Staatsanwalt in Vorbereitung des Prozesses gegen Kölle und Ancel im Mai 1952 nach Wittlich fuhr, um Wittlicher Bürger zu dem Pogromvorgängen zu befragen, muss er sehr bald feststellen, dass sich die Aufklärung der Vorfälle am 10.11.1938 unter den gegebenen örtlichen Verhältnissen sehr schwierig gestalten werde, da sich keine Tatzeugen finden ließen und auch bei den wenigen aussagebereiten Zeugen der Eindruck entstand, dass sie sich lediglich der unangenehmen Verpflichtung, eventuell noch in Wittlich lebende Teilnehmer der Judenaktion belasten zu müssen, entziehen wollten. Das ist umso bemerkenswerter, weil nicht nur von den Rädelsführern Kölle und Ancel an anderen Stellen von einer beachtlichen Menschenmenge zumindest in und im Bereich der Synagoge gesprochen worden war. Mehs hatte immerhin zeitnah, wie er es nannte, Stimmen aus dem Publikum in seinem Tagebuch notiert, die exemplarischen Charakter besitzen und die aus anderen Orten des deutschen Reiches in ähnlicher Weise überliefert sind:
1. Ein junger Bursche, der sah, wie die Judenschule zerstört wurde, meinte – er ist sicher kein Judenfreund – das sei nicht das Richtige, alles kaputtzuschlagen und die Leute leben zu lassen. Besser wäre es, die Juden einfach alle zu erschießen und die Sachen ganz zu lassen (Der Junge meint es ehrlich. Aber diese Ehrlichkeit und Kühnheit hat man oben nicht.)
2. Eine fromme Frau, entsetzt über die Zerstörung, meinte, es wäre doch besser, alles zu beschlagnahmen, zu versteigern und den Erlös dem Winterhilfswerk zuzuführen. Echt christliche Scheinheiligkeit und Heuchlerei.
3. Ein Dritter, Rieping, schüttelt auch den Kopf: So eine Torheit, meinte er, jetzt müssen die Juden doch alle weg, hier können sie sich nicht mehr aufhalten, und dann haben wir gar keine Repressalien mehr. Bravo! Aber die Leute, die an die feige Vernichtung dachten, dachten auch an Repressalien, was nachstehender Erlaß beweist und was zeigt, daß beide Richtungen in ihrer Gemeinheit ein und dasselbe sind.
Was Mehs in seinen Aufzeichnungen zu diesem Tag der Schande, wie er den 10. November 1938 in seinem Tagebuch nennt, nicht erwähnt, aber in der Wittlicher Geschichtserzählung bis heute tradiert wird44, soll im Folgenden hinterfragt werden:
Die angebliche Bewahrung vor der Inbrandsetzung der Wittlicher Synagoge durch Dr. Karl Hürter, in Personalunion NSDAP-Ortsgruppenleiter und Bürgermeister der Stadt Wittlich. Diese Rettungsgeschichte hat vor allem Dr. Hürter selbst verbreitet und Zeitzeugen, die nicht unmittelbar am Ort des Geschehens waren, haben sie in ihre eigene Erzählung später integriert und damit beglaubig.
Dass die Rettungsgeschichte von Zeitzeugen verbreitet, aber auch in Frage gestellt wurde, geht aus einer Aussage des Uhrmachermeisters Heinrich Junker, zur Tatzeit 27 Jahre alt, hervor: Sie haben die Synagoge demoliert, mittags, und dann wird verbreitet, der damalige Bürgermeister und Ortsgruppenleiter, der habe das Anstecken der Synagoge verhindert. Es wird aber auch wieder bestritten. Sie hätten Angst gehabt, es würde ein Haus daneben abbrennen.
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