Wenn es geht, ziehen sie weg. Wenn sie nur ein Visum bekommen, nach Russland oder Amerika. Natürlich, Israel ist ihre Heimat, und man darf ja auch nicht einfach so kampflos fliehen: "Weggehen ist Verrat." Aber das ist doch auch kein Leben: der Staat ist winzig, eine riesige Mauer versperrt nicht nur die Einreise, sondern auch die Ausfahrt. An den Checkpoints wird jeder genau untersucht, anhand der DNA wird überprüft, ob jemand Jude ist oder nicht, Hubschrauber, "Chicken Wings" genannt, scannen alle Personen auf den Strassen. Und trotzdem gibt es immer wieder Anschläge…
ALTERNATIVGESCHICHTE
Leon de Winter verschlägt es vor Pessimismus die Sprache.
Rezension von Georg Patzer, Jüdische Allgemeine
ENTFÜHRUNG 2024: Israel ist auf die Fläche "Gross-Tel-Avivs plus einem Sandkasten " geschrumpft, Bram Mannheim schlägt sich als Rettungssanitäter durchs Leben und sucht nebenher entführte Kinder. Wie das Land ist auch er ein Verlierer: Mit achtzehn Jahren war er aus den Niederlanden nach Israel gekommen, studierte in Tel Aviv Geschichte, schrieb einen Bestseller über die Geschichte des Nahen Ostens. Es folgte ein Ruf nach Princeton: Mit seiner Frau Rachel und seinem Sohn Ben zieht Bram ins Gelobte Land Amerika, kauft sich ein grosses Haus mit viel Land und Bäumen drumherum und fühlt sich mit seinen 33 Jahren richtig wohl. Kein Krieg, keine Anschläge, keine Sorgen. Doch dann passiert das Schreckliche: Bram ist nur kurz telefonieren, mit seinem alten Freund Yitzchak. Dann merkt er plötzlich, dass die Tür zum noch unbewohnbaren Teil des Hauses offensteht. Aber da ist Bennie nicht. Draussen auch nicht, Bram kann rufen, so viel er will. Dafür kommt der kleine Hund der Familie, Hendrikus, verletzt auf ihn zugehumpelt. Bram durchstöbert das ganze Gelände: nichts. Auch die Polizei findet ihn nicht. Ben ist und bleibt verschwunden. Die Ehe zerbricht, Bram flippt aus und durchwandert ganz Amerika, immer auf der Suche nach seinem Sohn.
Er hat sich ein Zahlensystem zurechtgelegt, das ihn zu ihm führen soll. Die Ziffern 2 und 8 spielen eine Rolle, denn am 22.8.2008 verschwand Ben. So hebt Bram immer 80 Dollar ab, möglichst um 8 nach 8 oder um 8 Uhr 28, möglichst am 2. oder 8. des Monats. Er geht die Häuser mit der Nummer 2, 8, 28, 82, 298 und 288 ab, wandert auf Strassen mit ähnlichen Zahlen bis nach Kalifornien. Rettet einmal ein Kind, wird von einem jüdischen Milliardär aufgenommen, findet schliesslich den Mörder seines Jungen und bringt ihn um. Jahre später ist Bram, vollgestopft mit Psychopharmaka, wieder in Israel. Mit einer Prostituierten unterhält er ein loses Verhältnis, seine Frau hat wieder geheiratet, sein alter Vater, Naturwissenschaftler und Nobelpreisträger, ist inzwischen alzheimerkrank und kann nur noch vor sich hinbrabbeln. Da geschieht wieder ein Anschlag, und einer der Soldaten am Übergang ist sicher, dass die DNA den Attentäter einwandfrei als Juden identifiziert hat. Bram findet heraus, dass die Palästinenser jüdische Kinder entführt, sie zu Selbstmordattentäter ausgebildet haben, und dass auch sein Sohn dabei ist.
VERKITSCHT So krude (und noch viel mehr) ist die Geschichte im neuen Roman von Leon de Winter, der wieder einmal alle Themen bemüht, für die er bekannt ist: die jüdische Identität, das Recht auf Rückkehr für die Juden, der Schutz der Heimat, Gewalt oder Appeasement. In einem dicken Wust von Rückblenden erzählt er davon, doziert und erklärt, diskutiert und verwirft. Nur mühsam wird das Buch durch die verwirrende Konstruktion zusammengehalten, die vielen "Zufälle" sprengen es fast. Der Roman leidet vor allem an zwei Problemen: Zum einen hat de Winter keine Sprache. Da regieren die blutleere, oft nah am Rassismus entlangschrammende Erklärung und der vollmundige Kitsch.
Wodurch gewinnen die Feinde? "Die palästinensischen Araber hatten die Juden mit ihren Gebärmüttern besiegt. " Bram macht sich Sorgen, er fühlte, "wie eine Woge der Beunruhigung durch seine Glieder brandet". Eine Seite später fragt er sich: "Warum hatte er gewartet, bis ihm die Beunruhigung mit eisernem Griff die Kehle zudrückte?" So geht es seitenweise, unterbrochen von endlosen langatmigen Referaten über Israel und den Nahostkonflikt. Da wird das Buch kaum noch lesbar, die Story versandet über weite Strecken in einer Wüste von Stilblüten und Langeweile. Ausserdem ist es mit seinen allzu vielen Geschichten, die mehrere schöne Romane ergeben hätten, heillos überfrachtet. Und als Alternativhistorie ist der Roman so blass und ungenau, dass er diese Bezeichnung nicht verdient. Andererseits gelingen de Winter auch immer wieder schöne Passagen. Wie er Brams Zahlenwahn schildert, ist eine grandiose Innenansicht eines verstörten Menschen, und ab und zu glücken ihm auch zärtliche Beschreibungen vom Verhältnis zwischen Vater und Sohn. Aber das ist leider auch alles, und für ein Buch von 550 Seiten ist es wahrhaftig nicht genug.
Leon de Winter: Das Recht auf Rückkehr.
Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers.
Diogenes, Zürich 2009, 550 S., 22,90 ‚¬
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