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Nelly Wolffheims Schriften zur Psychoanalytischen Pädagogik

Nelly Wolffheim wurde 1879 in Berlin geboren, wuchs in einer bürgerlichen jüdischen Familie auf und war Anfang des 20. Jahrhunderts eine der führenden Persönlichkeiten der Psychoanalytischen Pädagogik. 1939 musste sie vor den Nationalsozialisten nach England emigrieren, wo sie 1965 starb. Ihr Wirken war jahrzehntelang nahezu vergessen und wurde erst durch ihr von der 1968er-Bewegung wiederentdecktes Buch „Psychoanalyse und Kindergarten“ in Erinnerung gerufen. Das von dem Kinderarzt und Psychotherapeuten Gerd Biermann zusammengestellte Buch Nelly Wolffheim und die Psychoanalytische Pädagogik porträtiert das Leben und Wirken dieser lange vergessenen jüdischen Kindertherapeutin…

Von Roland Kaufhold

Gerd Biermann (1914 – 2006) eröffnet mit dieser lesenswerten Studie die Möglichkeit, sich das schwierige und dennoch so produktive Werk dieser außergewöhnlichen Kinderpsychotherapeuten anzueignen. Im ersten Teil porträtiert Biermann in einfühlsamer, knapper Weise wesentliche Phasen aus Wolffheims äußerst kompliziertem, durch schwerstes psychisches Leiden geprägtem Leben, welches an das Werk Sabina Spielreins denken lässt. Wolffheim hatte als Jugendliche erhebliche Schwierigkeiten, intensivere Beziehungen zu Gleichaltrigen herzustellen. Sie litt an vielfältigen psychosomatischen Beschwerden, die sie, nach der Lektüre von Freuds Traumdeutung, im Alter von 42 Jahren veranlassten, zuerst bei Karl Abraham und später bei Karen Horney eine Therapie zu machen. Abraham ermöglichte ihr aufgrund ihrer langjährigen Tätigkeit als Kindergärtnerin an Vorlesungen und Seminaren des Berliner Psychoanalytischen Institutes teilzunehmen. Als Siegfried Bernfeld Ende November 1925 nach Berlin zog engagierte sie sich in einer von Bernfeld geleiteten Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalyse und Pädagogik und veröffentlichte später, angeregt durch Heinrich Meng, in der Zeitschrift für Psychoanalytische Pädagogik (1926/27 – 1938).

Die enge Verflechtung zwischen Leben, Krankengeschichte, biographischen Bewältigungsversuchen und wissenschaftlichem Werk wird in Biermanns liebevollem Porträt deutlich.

Der zweite Teil des Buches umfasst mehrere Studien Wolffheims. Zuerst wird ein bisher unbekannter, zeitgeschichtlich wertvoller Bericht Wolffheims vorgestellt: Ihre noch in Berlin begonnenen und dann im englischen Exil fortgeführten Erinnerungen an „das jüdische Kindergärtnerinnen-Seminar als Noteinrichtung“, das sie von 1934 – 1939, unter der unmittelbaren Bedrohung durch die Nationalsozialisten (!), in Berlin aufgebaut und geleitet hatte. Wolffheim hatte sich 1930 ursprünglich aus Altersgründen von ihrer Tätigkeit als Kindergärtnerin zurückgezogen, eröffnete 1934 auf Anregung der jüdischen Gemeinde Berlins jedoch einen Ausbildungsgang für junge jüdische Kindergärtnerinnen. Dieses außergewöhnliche „pädagogische Experiment“ (S. 81) stand zunehmend stärker unter dem Eindruck der existentiellen Bedrohung durch die Nationalsozialisten (S. 109-121). Dennoch gelang es Wolffheim, den jungen jüdischen Frauen Grundkenntnisse über eine „psychoanalytische Pädagogik“ (S. 85) zu vermitteln, die ihnen auch nach einer angestrebten Emigration hilfreich sein sollten. Am 1. März 1939 wurde das pädagogische Seminar beendet, und Nelly Wolffheim emigrierte gerade noch rechtzeitig über das jüdische Krankenhaus nach London.

Rückblickend bemerkt sie: „Ich hatte mich vorher nicht zur Auswanderung entschließen können, um meine Arbeit nicht abzubrechen. Da aber sowohl Lehrkräfte wie Schülerinnen zum großen Teil aus Deutschland auswanderten, hatte die Weiterführung des Seminars keinen Zweck mehr: Das Seminar hatte seine Aufgabe erfüllt!“ (S. 111)

Darauf folgt Wolffheims knapp 70-seitige autobiographische Studie „Rätselhaftigkeit menschlichen Lebens“, die sie 84-jährig auf Anregung von Heinrich Meng angefertigte. Dieser schrieb auch das Geleitwort, in dem er die Bedeutung der „mitleidenden Identifikation“ (S. 123) für die produktive biographische Verarbeitung und berufliche Identitätsfindung hervorhebt. Wolffheims autobiographische Erinnerungen, in einer passagenweise klinischen Diktion verfasst, verdeutlichen uns noch einmal die Produktivität und den Überlebenswillen dieser Frau, die sich erfolgreich aus schwerstem emotionalem Leiden zu befreien vermochte.

In einem weiteren kürzeren Text beschreibt Wolffheim in ehrlicher Weise ihre ambivalenten Erinnerungen an die streitbare Kinderanalytikerin Melanie Klein, mit der sie zeitweise in engem Kontakt stand und deren Sekretärin sie für zweieinhalb Jahre lang war. Abgeschlossen wird das Buch durch den 50-seitigen Text „Die Beziehung des Kindergartens zur Psychoanalyse“, in dem Wolffheim, Anna Freuds Studien aufgreifend, in pädagogischer Absicht Grundzüge einer psychoanalytisch aufgeklärten Erziehung skizziert. Stellvertretend hierfür möge folgendes Zitat stehen: „Ich glaube annehmen zu können, dass der Kindergarten für die Entwicklung der psychoanalytischen Wissenschaft Aufgaben zu erfüllen hat, die von Bedeutung sind. Die psychoanalytisch ausgebildete Kindergärtnerin wird nicht nur dank ihrer vertiefteren Beobachtungsfähigkeit psychologisch wichtiges Material zur Verfügung stellen, sie wird auch aus ihrer praktischen Arbeit heraus für manches Bestätigung geben, was in Analysen – zum Teil rückschließend und folgernd – aufgedeckt wurde. Die Arbeit am Kinde aber wird desto erfolgreicher sein, je mehr die Erzieher aus der psychoanalytischen Kinderpsychologie zu lernen wissen“ (S. 205). Abgeschlossen wird der Band durch eine Werkbibliographie.

Nelly Wolffheim starb am 2.4.1965 in London.

Biermanns Porträt Nelly Wolffheims ist als Band 1 der Reihe „Psychoanalytische Pädagogik“ des Psychosozial-Verlages erschienen. Ursprünglich aus der Zeitschrift „psychosozial“ entstanden hat dieser von Hans-Jürgen Wirth, einem Gießener Psychoanalytiker, aufgebaute Verlag in den letzten Jahren eine beeindruckende Entwicklung gemacht. Fachlich steht er in der Tradition einer politisch ambitionierten, kulturkritischen Psychoanalyse eines Siegfried Bernfeld, Otto Fenichel, Wilhelm Reich und Georg Simmel. Die von Sigmund Freud nachdrücklich geförderte Psychoanalytische Pädagogik erlebte in den 1920er und 1930er Jahren ihre Blütezeit, wurde durch die Nationalsozialisten nahezu ausgelöscht und hat in den letzten Jahren eine gewisse Renaissance erlebt. Die Wiener Emigranten Siegfried Bernfeld, Ernst Federn und Bruno Bettelheim waren maßgeblich an ihrer Wiederbelebung beteiligt.

Gerd Biermann: Nelly Wolffheim und die Psychoanalytische Pädagogik. Gießen 1997 (Psychosozial-Verlag), 257 S., 19,90 Euro, Bestellen?
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Diese Rezension wurde zuerst in der Zeitschrift Kinderanalyse 2/1998, 6. Jg., S. 195-197 publiziert und wurde von Roland Kaufhold für haGalil durchgeschaut und geringfügig gekürzt. Wir danken der Redaktion der Kinderanalyse, Frau Heidi Zimmermann-Günter, sowie dem Verlag Klett-Cotta herzlich für die freundlich erteilte Nachdruckgenehmigung.

Links:
www.jwa.org/encyclopedia/article/wolffheim-nelly 
www.kindergartenpaedagogik.de/139.html
 
Sekundärliteratur:
Berger, M. (1989): Nelly Wolffheims Jüdisches Kindergärtnerinnen-Seminar. In Theorie und Praxis der Sozialpädagogik. Bielefeld.
Nelly Wolffheim—Eine Wegbegleiterin der modernen Erlebnispädagogik. Lüneburg: 1996;
Biermann, G. (1966): Psychoanalyse und Kindergarten und andere Arbeiten zur Kinderpsychologie von Nelly Wolffheim. München.
Kerl-Wienecke, A. (2000): Nelly Wolffheim Leben und Werk. Gießen (Psychosozial Verlag).
Kinderanalyse und Frauen. In Luzifer-Amor, Tübingen: 2000;
Nelly Wolffheim—eine Pionierin der psychoanalytischen Pädagogik. In Analytische Kinder und Jugendlichen-Psychotherapie. Frankfurt/M., 2001.
Ludwig-Körner, C. (1998): Wiederentdeckt – Psychoanalytikerinnen in Berlin. Gießen (Psychosozial Verlag).

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