Der Islam im 20. Jahrhundert
p.432ff – Der Islam – Eine Kulturgeschichte
Von der traditionellen langgestreckten Wüstenrandzone aus hat sich der Islam auf den Festlandgebieten und jenseits der Meere, ja der Ozeane ausgebreitet. Sein Zentrum ist die Region der »Land-und Meerengen« geblieben, aber diese haben im Kräftespiel der Länder neues Gewicht bekommen. Nachdem sie bereits zum unentbehrlichen Durchgangsland für bestimmte Straßen des Weltverkehrs geworden waren, erweisen sie sich immer mehr als ein unvorstellbar reiches Fundgebiet für Erdöl. Eine neue Erscheinung des ausgehenden 20. Jahrhunderts sind auch die immer größer werdenden Auswanderergemeinden in den westlichen Industrienationen, vor allem in Amerika und Europa.
Der Islam auf der Weltkarte
1976 stieg die Weltbevölkerung auf über vier Milliarden Menschen. Aber wie viele davon waren Muslime ? 1970 waren es etwa 520 Millionen, das entsprach einem Siebtel der gesamten Menschheit. Mitte der achtziger Jahre schätzte man die Zahl der Muslime auf rund 900 Millionen, also auf etwa ein Fünftel der Weltbevölkerung. Anfang des 21. Jahrhunderts sind es weit über eine Milliarde Menschen – ein Zeichen dafür, daß der Islam im Weltgeschehen eine immer wichtigere Rolle spielt. Aber hinter dieser Gesamtzahl sind noch andere Faktoren zu beachten, zum Beispiel die Verteilung der Muslime auf verschiedene Weltregionen und deren Verhältnis zueinander.
Ende des 20. Jahrhunderts ist festzustellen, daß ein Großteil der islamischen Welt sich in Blöcke gliedern läßt, die jeweils etwa 50 Millionen Menschen umfassen: die arabischen Länder im Nahen Osten, Ägypten, der Maghreb, der Iran, die muslimischen ehemaligen Sowjetrepubliken, Nordnigeria. Über diesem Mittelwert liegen, mit einer Einwohnerzahl von über 80 Millionen, Pakistan, Bangladesh und das muslimische Indien. Die Spitze bildet Indonesien mit über 150 Millionen Muslimen.
Der Schwerpunkt der islamischen Welt liegt also in Asien. Man darf jedoch der geographischen Ausbreitung nicht zuviel Bedeutung beimessen. Viel wichtiger ist eine Gliederung nach »Kulturkreisen« im weitesten Sinne des Wortes. Mit der Vorsicht, die bei solchen Aufteilungen geboten ist, können wir feststellen, daß die indische Welt an der Spitze steht. An zweiter und dritter Stelle stehen, etwa gleichauf, die arabische Welt und Indonesien, gefolgt von der türkischen Welt (einschließlich der Turkvölker der ehemaligen Sowjetrepubliken), Schwarzafrika und dem Iran.
In diese großen geopolitischen beziehungsweise kulturellen Gebiete ließe sich die islamische Welt heute einteilen. Man muß sich jedoch davor hüten, als einziges Beurteilungskriterium die Zahlenstärke gelten zu lassen. Lange Zeit hat man zum Beispiel daran zweifeln können, ob die Muslime der Sowjetunion im Islam das gleiche Gewicht hatten wie die Bewohner des Niltals oder der iranischen Region. Ebenso kann man daran zweifeln, ob der arabische Bereich sich wirklich nur auf die Länder des Nahen Ostens und des südlichen Mittelmeerraums beschränkt, wenn man berücksichtigt, daß das Arabische vom einen Ende der muslimischen Welt bis zum anderen der bevorzugte Ausdruck der islamischen Kultur und das Medium des Glaubens ist, daß es dort überall zumindest in bestimmten Kreisen gesprochen oder gelesen wird und daß es sich noch heute, wie in manchen Gebieten Afrikas, weiter ausbreitet und dabei neue, manchmal aufsehenerregende Erfolge vorweisen kann.
Das sind Fragen, die für die Gegenwart und die unmittelbare Zukunft von Bedeutung sind. Aber die aktuellen Entwicklungen werfen noch andere Fragen auf. Von den 520 Millionen Muslimen, die es 1970 gab, lebten etwa 375 Millionen in Ländern, in denen der Islam entweder die einzige oder zumindest die vorherrschende Religion war. Aber von den übrigen 145 Millionen bildeten viele in ihren Ländern eine Minderheit, und die anderen gehörten zur weltweiten Diaspora. Etwa ein Drittel bis ein Viertel aller Muslime lebt mittlerweile also in Koexistenz mit anderen Gemeinschaften. Aber natürlich stehen viele von ihnen dabei gleichzeitig in enger Verbindung zu jenen Gesellschaften, die aus einer wesentlich vom Islam bestimmten Geschichte hervorgegangen sind und die auch heute noch – ob offiziell oder nicht – auf den Grundsätzen des Islam aufbauen. Betrachtet man die Weltkarte, so erscheint der Islam also nicht nur als ein prägendes Merkmal verschiedener Staaten. Weil er in vielen Gebieten als Religion einer Minderheit aufblüht, bildet er auch die Verbindung dieser Staaten zum Rest der Welt.
André Miquel, Henry Laurens: Der Islam – Eine Kulturgeschichte
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