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Jakob Wassermann: Mein Weg als Deutscher und Jude (2)

Die meinem Judentum geltenden Anfeindungen, die ich in der Kindheit und ersten Jugend erfuhr, gingen mir, wie mich dünkt, nicht besonders nahe, da ich herausfühlte, dass sie weniger die Person als die Gemeinschaft trafen. Ein höhnischer Zuruf von Gassenjungen, ein giftiger Blick, abschätzige Miene, gewisse wiederkehrende Verächtlichkeit, das war alltäglich. Aber ich merkte, dass meine Person, sobald sie ausserhalb der Gemeinschaft auftrat, das heisst sobald die Beziehung nicht mehr gewusst wurde, von Sticheleien und Feindseligkeit fast völlig verschont blieb. Mit den Jahren immer mehr…

Kapitel 2

Mein Gesichtstypus bezichtigte mich nicht als Jude, mein Gehaben nicht, mein Idiom nicht. Ich hatte eine gerade Nase und war still und bescheiden. Das klingt als Argument primitiv, aber der diesen Erfahrungen Fernstehende kann schwerlich ermessen, wie primitiv Nichtjuden in der Beurteilung dessen sind, was jüdisch ist, und was sie für jüdisch halten. Wo ihnen nicht das Zerrbild entgegentritt, schweigt ihr Instinkt, und ich habe immer gefunden, dass der Rassenhass, den sie sich einreden oder einreden lassen, von den gröbsten Äusserlichkeiten genährt wird, und dass sie infolgedessen über die wirkliche Gefahr in einer ganz falschen Richtung orientiert sind. Die Gehässigsten waren darin die Stumpfesten. Das zunächst nur als Andeutung.

Was die Gemeinschaft anlangt, so fühlte ich mit ihr keinerlei tieferen Zusammenhang. Religion war eine Disziplin und keine erfreuliche. Sie wurde von einem seelenlosen Manne seelenlos gelehrt. Sein böses, eitles, altes Gesicht erscheint mir noch jetzt bisweilen im Traum. Sonderbarerweise habe ich selten von einem humanen oder liebenswürdigen jüdischen Religionslehrer gehört, die meisten sind kalte Eiferer und halb lächerliche Figuren. Dieser, wie alle, bläute Formeln ein, antiquierte hebräische Gebete, die ohne eigentliche Kenntnis der Sprache mechanisch übersetzt wurden, Abseitiges, Unlebendiges, Mumien von Begriffen. Positiven Ertrag gab nur die Lektüre des Alten Testaments, aber auch da fehlte die Erleuchtung, vom Gegenstand wie vom Interpreten her. Vorgang und Gestalt wirkten im Einzelnen, Episodischen, das Ganze zeigte sich starr, oft absurd, ja unmenschlich und war durch keine höhere Anschauung geläutert. Vom Neuen Testament brach bisweilen ein Strahl herüber wie ein Lichtschein durch eine verschlossene Tür, und Neugier mischte sich mit unbestimmtem Grauen. Jene ewigen Bilder und Mythen befruchteten meine Phantasie erst, als ich in ein privates, sozusagen psychologisches Verhältnis zu ihnen treten konnte, ein Prozess, der sie individualisierte, im Sinne der Aufklärung geistig machte, oder im Sinne der Romantik stofflich, je nachdem, in jedem Falle von der Religion ablöste.

Um den Gottesdienst war es noch übler bestellt. Er war lediglich Betrieb, Versammlung ohne Weihe, geräuschvolle Übung eingefleischter Gebräuche ohne Symbolik, Drill. Der fortgeschrittene Teil der Gemeinde hatte eine moderne Synagoge gebaut, eines der Häuser im quasibyzantinischen Stil, wie man in den meisten deutschen Städten eines findet, und deren parvenühafte Prächtigkeit über die fehlende Gemütsmacht des religiösen Kultus nicht hinwegtäuschen kann. Mir war da alles hohler Lärm, Ertötung der Andacht, Missbrauch grosser Worte, unbegründete Lamentation, unbegründet, weil im Widerspruch mit sichtbarem Wohlleben und herzhafter Weltlichkeit stehend; Überhebung, Pfafferei und Zelotismus. Die einzige Erquickung waren die deutschen Predigten eines sehr stattlichen blonden Rabbiners, den ich verehrte.

Die Konservativen und Altgläubigen hielten ihren Dienst in den sogenannten Schulen ab, kleinen Gotteshäusern, oft nur Stuben in einer entlegenen Winkelgasse. Da sah man noch Köpfe und Gestalten, wie sie Rembrandt gezeichnet hat, fanatische Gesichter, Augen voll Askese und glühend im Gedächtnis unvergessener Verfolgung. Auf ihren Lippen wurden die strengen Gebete, Anruf und Verfluchung, wirklich, die lastbeladenen Schultern sprachen von generationenalter Demut und Entbehrung, die ehrwürdigen Gebräuche wurden in entschlossener Hingabe buchstabengetreu erfüllt, die Erwartung des Messias war ungebrochener, wenn auch dumpfer Glaube. Aufschwung war unter ihnen nicht, Trotz und Innigkeit, oder Glanz oder Menschlichkeit, oder Freude, aber Überzeugung und Leidenschaft war unerbittliche Regel und Gemeinschaft.

In eine solche Schule musste ich nach dem Tode meiner Mutter, als neunjähriger Knabe, jeden Morgen mit Sonnenaufgang, jeden Abend mit Sonnenuntergang, am Sabbat und an Feiertagen auch nachmittags ein Jahr hindurch gehen, um als Erstgeborener vor der Gebetsgemeinde das Kaddisch zu sagen. Zehn männliche Personen über dreizehn Jahren mussten zu dem Zweck versammelt sein, doch waren es meist alte, uralte Leute, die Übriggebliebenen einer früheren Welt. Es war hart, an Wintermorgen bei Schnee und Kälte, im Sommer um fünf Uhr und früher noch, eine Pflicht zu üben, die aufgenötigt und befohlen war, deren Bedeutung ich nicht begriff oder begreifen mochte. Es gab sich niemand die Mühe, sie dem Geist zu verklären und so die Gefahr zu bannen, dass durch die Befolgung eines als grausam empfundenen Brauches das Bild der Mutter, obschon nur vorübergehend, getrübt wurde. Dazu kam, dass im väterlichen Hause, besonders nach der zweiten Verheiratung des Vaters, von einer religiösen Bindung und Erziehung nicht die Rede war. Gewisse äusserliche Vorschriften wurden eingehalten, mehr aus Rücksicht auf Ruf und Verwandte, aus Furcht und Gewöhnung, als aus Trieb und Zugehörigkeit. Fest- und Feiertage galten als heilig. Der Sabbat hatte noch einen Rest seines urtümlichen Gehalts, die Gesetze für die Küche wurden noch geachtet. Aber mit der wachsenden Schwere des Brotkampfes und dem Eindringen der neuen Zeit verloren sich auch diese Gebote einer von der Andersgläubigen unterschiedenen Führung. Man wagte die Fessel nicht ganz abzustreifen; man bekannte sich zu den Religionsgenossen, obwohl von Genossenschaft wie von Religion kaum noch Spuren geblieben waren. Genau betrachtet war man Jude nur dem Namen nach und durch die Feindseligkeit, Fremdheit oder Ablehnung der christlichen Umwelt, die sich ihrerseits hierzu auch nur auf ein Wort, auf Phrase, auf falschen Tatbestand stützte.

Wozu war man also noch Jude, und was war der Sinn davon? Diese Frage wurde immer unabweisbarer für mich, und niemand konnte sie beantworten. Es war ein trübes Medium zwischen mir und allen geistigen und bürgerlichen Dingen. Bei jedem Schritt nach vorwärts stiess ich auf Hemmnisse und Verschleierungen, nach keiner Richtung hin war offener Weg. Wenn ich sagte, dass ich von Pferch und Helotentum nichts spürte, so bezieht sich das natürlich nur auf die rechtliche Konstruktion des Lebens, auf das individuelle Sicherheitsgefühl, innerhalb dessen sich das Tun und Lassen des einzelnen Menschen reguliert. Sind diese beiden Faktoren einmal gegeben und zugestanden, so wird von ungleich höherer Wichtigkeit für ihn die Frage, wie er sich zur Allgemeinheit verhält und wie die Allgemeinheit zu ihm. Daraus erwächst ihm die Erkenntnis seiner Lebensaufgabe und, je nach der Entscheidung, die Kraft zu ihrer Erfüllung. An diesem Punkt begann denn auch mein Leiden.

Jakob Wassermann: Deutscher, Jude, Literat…

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