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Nachgetragenes: Der Exil-Pen erinnert sich seines 75. Geburtstages

Vor 75 Jahren, im Juni 1934, entstand der Deutsche PEN-Club im Exil. Die Emigranten Lion Feuchtwanger, Ernst Toller, Rudolf Olden und Max-Herrmann-Neisse gehörten zu den Begründern dieser aus Deutschland vertriebenen Schriftsteller. Nur sehr wenige von ihnen kehrten nach der Nazizeit wieder nach Deutschland zurück. Dieser kleine, aber feine Club existiert noch heute unter der Bezeichnung PEN Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland — mit in letzter Zeit steigender Mitgliederzahl. Diese knapp 100 Mitglieder sind über die ganze Welt verstreut – und stehen doch in regelmässigem internen Austausch. Nun haben zwei ihrer Vertreter, Gabrielle Alioth und Hans-Christian Oeser, anlässlich des 75. Geburtstages ihres PEN-Zentrums einen Sammelband herausgegeben, in welchem 37 Schriftsteller mit eigenen Beiträgen vertreten sind…

Von Roland Kaufhold

Diese Autoren leben in Deutschland, Irland, Schweden, den Niederlanden, der Schweiz, Frankreich, Italien, den USA, Israel, Argentinien, Jamaika und in Shanghai. Recht viele hiervon (Günter Kunert, Freya Klier, Utz Rachowski, Roland Erb, Lutz Rathenow, Marko Martin, Salli Sallmann, Udo Scheer) sind in der ehemaligen DDR aufgewachsen und haben die seinerzeitigen Verhältnisse dort nicht ertragen können — was ihnen berufliche Nachteile, Schreibverbote, bis hin zur zwangsweisen Ausweisung eintrug.

exil-penDer 253 Seiten umfassende Band ist nun keine, wie man vielleicht vermuten könnte, historische Rückbesinnung, keine biographische Spurensuche zum Schicksal ehemaliger Mitglieder des PEN Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland — wenn sich auch durchaus einige wenige solcher Spurensuchen im Sammelband finden. Derartige biographisch-historische Forschungen sind in den letzten Jahrzehnten vielfältig publiziert worden. Es finden sich im Sammelband hingegen zahlreiche thematisch und stilistisch breitgefächerte, maximal zehn Seiten umfassende Beiträge, in denen die Autoren über ihre gegenwärtige Auseinandersetzung mit "ihrer Welt" nachsinnen — in deutsch.

Der niederländische Schriftsteller und Psychoanalytiker Hans Keilson — er wird im Dezember diesen Jahres 100 Jahre alt —, blickt in seinem autobiographisch getönten Grusswort auf die Geschichte des PEN-Zentrums zurück, dessen Vorsitzender er von 1985 – 1988 war. 1936 war Hans Keilson als Jude, Schriftsteller und Antifaschist vor den Nazis in die Niederlande geflohen — und schrieb doch weiterhin in seiner Heimatsprache: "Meine literarischen und einen grossen Teil meiner wissenschaftlichen Texte schrieb und schreibe ich auf Deutsch. Das habe ich nicht verlernt." (S. 11) Dieses Erbe liess er sich nicht nehmen, trotz aller verstörender, entwurzelnder Erfahrungen.

Einige Kapitel des Buches seien skizziert: Im Kapitel "Abzutragendes" finden sich literarische Stücke von Renate Ahrens, Dieter Schlesak, Irmgard Elsner Hunt und Udo Scheer. In "Ertragenes" stellen Katharina Born, Peter Finkelgruen, Manfred Winkler, Egon Schwarz und Inge von Weidenbaum Recherchen, Erzählungen und Gedichte vor. So schreibt Katharina Born über die Geschichte des Berliner Juden Hanns Alberti, den sie in hochbetagtem Alter kennenlernte.

Der in Shanghai geborene und heute in Köln lebende Peter Finkelgruen erzählt in "Der Bus war halb leer" eine autobiographisch getönte Erinnerung aus seiner Kindheit in Israel. Dorthin war er, nach einer Zwischenstation in Prag, als jüdisches Kind alleine mit seiner Grossmutter geflohen. Seine Eltern waren während der Zeit der nationalsozialistischen Verfolgung gestorben. Das Gefühl einer abgrundtiefen Angst und Verlorenheit wird in verdichteter Weise erzählt: "Die Frau hatte seine Hand losgelassen." (S. 57) Die Frau, das war seine Grossmutter, sie fällt während einer Busfahrt in Haifa in Ohnmacht, kurz nach ihrer Ankunft in dem noch fremden Israel. Der verzweifelte Junge ruft voller Panik auf deutsch um Hilfe — eine Sprache, die man in Israel der Anfangsjahre nicht ertragen konnte: "Jetzt aber waren sie im Land der Tätowierten. Da wollte man diese Sprache nicht mehr hören." (S. 59)
Und doch hatte dieser Junge doch keine andere Sprache: "Omi!!! Nein!!! Die Aufmerksamkeit der Menschen um sie herum, die jetzt eine Wand bildeten, wurde bedrohlich. Die Wand rückte näher. (…) Angst, Angst, Angst. Die Angst, nach der Mutter wieder eine Frau, die ihn an der Hand hielt, zu verlieren." (S.59) Trotz dieser verstörenden Angst fallen ihm plötzlich einige tschechische Wortfetzen ein, ein tschechisch sprechender Israeli holt Hilfe. Das Leben geht weiter.

Manfred Winkler, der als einer der wenigen zweisprachigen Lyriker Israels bezeichnet wird, steuert einige "kunterbunter Gedichte" (S. 63) bei. In dem Gedicht "In einer Januarnacht" finden wir die Zeilen:

"In einer Januarnacht des Jahres 22
nach dem ersten grossen Weltkrieg
wurde ich gezeugt als die Welt
noch ganz schien was sie nicht war

Nach neun Monaten genau kam ich zu Welt (…)
und ich schrie drei Wochen lang aus Protest (…)
dann lullte man mich ein
und ich wuchs zu einem Bürger
zweiter oder zehnter Klasse heran" (S. 63)

Im Kapitel "Eingetragenes" finden sich Erzählungen und Gedichte, hierunter "Es geht dahin. Gedichte" von Günter Kunert — er ist zugleich der gegenwärtige Vorsitzende des PEN Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland. Weiterhin Gedichte von Marko Martin, Christine Koschel und Margot Scharpenberg — einer regelmässigen Wandererin zwischen ihrem Heimatland USA und ihrer Geburtsstadt Köln.

Weiterhin folgen Kapitel, die mit "Vorgetragenes" (Georg-Arthur Goldschmidt, Uwe Friesel, Robert Schopflocher, Tomi Ungerer), "Zugetragenes" (Cornelius Schnauber, Reinhold Grimm, Peter-Paul Zahl) und "Nachgetragenes" (Thomas B. Schumann, Guy Stern, Gert Niers) überschrieben sind. Besonders hervorheben möchte ich hierbei den Text von Robert Schopflocher; Schopflocher wurde 1923 in Fürth geboren und lebt seid 1937 in Argentinien. Er legt eine feinsinnige, kluge, berührende Betrachtung zu "Sprachheimat und Heimatsprache: Über den Umgang mit der sogenannten Zweisprachigkeit (S. 185-189) vor, die mit dem Gedicht "Geständnis" endet:

"Seit sechzig Jahren in Argentinien,
doch beim Wort `Baum´
fällt mir zunächst und noch immer
die Dorflinde Rannas ein,
in der Fränkischen Schweiz (…)
Karl May, Hauff, die Grimm´schen Märchen
oder Max und Moritz, diese beiden,
rumoren weiter in mir
und lassen sich nicht ausrotten.

Nun ja: Leider! Trotz alledem.
Oder etwa Gottseidank?
Und wo liegt nun mein Vaterland?" (S. 188f)

Das breite Spektrum der Beiträge dürfte dafür sprechen, dass der Leser etwas für ihn Passendes findet — aus der grossen weiten Welt der deutschsprachigen Literatur…

Gabrielle Alioth/Hans-Christian Oeser (Hg.): Nachgetragenes. 75 Jahre PEN-Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland, Heidelberg 2009 (Synchron Publishers). Bestellen?

P.E.N. Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland online:
http://www.exilpen.de

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